Entwicklung ist ein Mäander

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 17, 2017

Featuring:
Dr. Stefan Ruf
Ken Wilber
C. G. Jung
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Issue 15 / 2017:
|
July 2017
Mensch & Maschine
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Ein integrales Wohnprojekt für Jugendliche

In Potsdam, unweit vom Park Sanssouci entsteht auf einem malerischen Gelände die Therapeutische Wohngemeinschaft für Jugendliche »Mäander«. Wir sprachen mit dem Arzt Dr. Stefan Ruf, einem der Initiatoren, über die Entstehung und seine Vision dieses Ortes.

evolve: Wie kam es zur Gründung von Mäander?

Stefan Ruf: Jeder aus dem Gründerkreis hat natürlich seine eigene Geschichte – meine geht so: Ich hatte mit 19 Jahren eine existenzielle Krise. Als es mir etwas besser ging, bin ich mit Anfang 20 nach Amerika gereist und habe dort zwei völlig verschiedene Gemeinschaften kennengelernt: dasEsalen Institute in Kalifornien und eine anthroposophische Camphill-Gemeinschaft in Minnesota.

Beide waren in ihrer Ausrichtung diametral verschieden, zumindest wenn man es sehr vereinfacht darstellt: In Esalen gab es viel Gestalttherapie, da drehte sich ganz viel ums eigene verletzte Ich, es wurde auf Kissen eingedroschen und viel geweint und geschrien. Als ich danach nach Camphill kam, drehte sich dort alles um das Wohl der (sogenannten) Behinderten und das Land. Beides war für mich extrem heilsam, sowohl die unkonventionellen humanistischen Therapieansätze in Esalen als auch das Erleben einer sinnvollen Aufgabe im Dienst für die Gemeinschaft und das Land bei Camphill. Aber beides fand ich auch sehr einseitig und ich fragte mich, ob es nicht möglich wäre, beide Aspekte zu verbinden.

Als ich dann Jahre später nach meinem Medizinstudium im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin in der Jugendpsychotherapie arbeitete, waren eine ganze Reihe von Mitarbeitern sehr unzufrieden damit, dass immer wieder Jugendliche entlassen wurden, die einen anderen Ort gebraucht hätten als ihr ungesundes Zuhause in Berlin-Neukölln oder Spandau. Wir haben dann vier Jahre lang ein Konzept erarbeitet und schließlich 50 km südwestlich von Berlin in einem gemieteten Haus mit Garten eine kleine Jugendhilfe-Einrichtung mit zehn Plätzen eröffnet: Die Jugendlichen leben hier, arbeiten in Hauswirtschaft, Garten und Werkstatt, es gibt Einzelpsychotherapie, Gruppen- und Maltherapie. Die Mitarbeiter sind hauptsächlich Sozialpädagogen, Erzieher und Kunsttherapeuten.

Nachdem das Konzept im Großen und Ganzen gut aufging – was nicht heißt, dass es nicht extrem »hartes Brot war«, anstrengend und immer wieder krisenhaft – sind wir Anfang dieses Jahres auf ein größeres Gelände am Stadtrand von Potsdam gezogen, 2,5 km entfernt vom Park Sanssouci, 1,6 Hektar groß mit fünf Häusern, von denen wir bis jetzt zwei saniert haben. Wir haben auf dem neuen Gelände gegenwärtig 16 Plätze für Jugendliche zwischen 14 Jahren und Anfang 20 und ungefähr genauso viele Mitarbeiter.

e: Was ist das besondere an eurem Ansatz?

SR: Es gibt zwar viele Jugendhilfeeinrichtungen mit Tag- und Nacht-Betreuung; oft werden sie als therapeutische Wohngemeinschaften (TWG) bezeichnet. Aber dort gibt es meist kaum Tagesstruktur und sinnvolle Tätigkeit und nur wenig therapeutische Begleitung.

Wir wollten einen Ort schaffen, der eine 24-Stunden-Struktur hat, wo man leben kann und ein pädagogisches Setting gewährleistet wird, bei dem eine intensive Beziehungsgestaltung möglich ist. Und an dem man eine sinnvolle Tätigkeit für die Gemeinschaft verrichten kann, z. B. in Garten, Hauswirtschaft und Werkstatt. Das schaffen die Jugendlichen und die Betreuer aber nur, wenn man mithilfe von psychotherapeutischen Verfahren wie Schematherapie ein Verständnis entwickeln kann für erstmal ziemlich unverständliches Verhalten – und aus dem Verständnis heraus therapeutische Hilfen erarbeitet. Und das brauchen unsere Bewohner, die mit Diagnosen wie komplexe Traumatisierung, Borderline, schwerer Depression, Psychose oder Schizophrenie oft viele Monate in der Psychiatrie waren. So ist einerseits eine fachlich gute Diagnostik und Therapie gewährleistet, andererseits aber ein Setting, wo die Jugendlichen nicht nur als krank gesehen werden, sondern immer wieder versucht wird, sie von ihrem Potenzial her zu sehen, ihren gesunden Anteilen, ihrer spirituellen Tiefe.

Für traumatisierte Jugendliche macht eine gesunde Beziehung einen Großteil des Genesungsweges aus.

e: Ihr arbeitet mit einem ganzheitlichen Ansatz, der auch das tiefere, seelische Potenzial der Jugendlichen ansprechen möchte. Wie zeigt sich das in eurer Arbeit?

SR: Darauf möchte ich ein bisschen persönlicher antworten. Ich bin in einer dogmatischen Sekte, den Zeugen Jehovas, aufgewachsen, in der es nur eine Wahrheit gibt und alle, die das nicht so sehen, die also eine andere Perspektive haben, sind letztlich dem Untergang geweiht.

Nach dieser Vorerfahrung ist es für mich ganz wichtig, dass Mäander keinesfalls dogmatisch sein darf. Es muss eine große Weite und Toleranz herrschen, wie man philosophisch oder religiös die Welt sieht. Obwohl wir letztlich aus einem anthroposophischen Krankenhaus kommen und aus diesem Umfeld viele Anregungen aufnehmen, ist mir auch sehr wichtig, dass eine Atmosphäre entsteht, in der die Jugendlichen und Mitarbeiter keinesfalls das Gefühl haben, dass hier dogmatisch auf sie eingewirkt wird.

Gleichzeitig ist es schon so, dass man als Mitarbeiter mit solchen Jugendlichen, die sehr beziehungsintensiv sind, nur umgehen kann, wenn man in irgendeiner Form einen Entwicklungsweg geht. Gerade für traumatisierte Jugendliche macht eine gesunde Beziehung, also Begegnung, einen Großteil des Genesungsweges aus. Für uns als Mitarbeiter ist es eine ganz große Herausforderung, die richtige Mischung aus Nähe und Distanz zu finden, in der Begegnung stattfinden kann, d. h. die Jugendlichen, die hier sind, müssen sich entwickeln, sonst kommen sie aus ihren Mustern von schweren Selbstverletzungen, Suizidalität oder Impulsivität nicht heraus. Und die Mitarbeiter müssen sich auch entwickeln, sonst können sie auf Dauer diese Arbeit nicht machen.

Das ist also ein Paradox: Wir wollen nicht dogmatisch sein, müssen aber implizit an Entwicklung glauben, also an irgendeine Form von Potenzial, das sich in uns entfalten, »ent-wickeln«, will. In diesem Paradox, in dieser Dialektik, versuchen wir uns zu bewegen.

Wir arbeiten damit z. B. so, dass wir Mitarbeiter Achtsamkeit und Meditationsübungen anwenden (und als Angebot gibt es das auch für die Bewohner). Wir machen jeden Tag in der Mittagsübergabe für vier Minuten eine Meditation. Zweimal im Jahr organisieren wir Perspektivkonferenzen, wo wir 2 ½ Tage in Klausur gehen. Dabei und in Fortbildungen oder den wöchentlichen Teamsitzungen beziehen wir auch Ansätze aus verschiedenen transpersonalen Denkschulen ein, an erster Stelle die Anthroposophie, aber auch die integrale Theorie Ken Wilbers und die Tiefenpsychologie C. G. Jungs. Aber nicht als dogmatische Lehre, sondern als Inspiration unserer Arbeit und des eigenen Entwicklungsweges, der für jeden ganz individuell ist.

e: Was ist deine Vision für Mäander?

SR: Zum einen wollen wir Wohngruppen in der Stadt aufbauen, die den Übergang erleichtern. Zum anderen gibt es hier auf dem Grundstück aber noch viel Potenzial für Sanierung und Wachstum, wenn wir weiterhin gut arbeiten. Die Vision ist die einer kulturellen Begegnungsstätte. Dazu wollen wir einen Saal in einem ehemaligen Gründerzeit-Gasthof (»Zum wilden Uhu«) auf dem Gelände mit unseren Jugendlichen und Fachleuten sanieren und dann dort ein Begegnungscafé eröffnen, das von den Jugendlichen betreut wird. Dort ist aber auch Raum für Seminare, Vorträge und Fortbildungen. Zwei Freundinnen und ich haben dort auch ein Traumazentrum gegründet. Außerdem gibt es hier Raum für Schauspiel, Musik oder andere kulturelle Events. Die Vision ist also, dass es auf dem Gelände zu einem intensiven Austausch, zu einem Dialog zwischen Innen und Außen, zwischen Mäander und der Welt kommt: Wir profitieren von der Inspiration durch die Veranstaltungen und die Veranstaltungen profitieren hoffentlich von der Atmosphäre vor Ort.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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