Frauen haben auch eine Geschichte

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Book/Film Review
Published On:

October 19, 2016

Featuring:
Dr. Gerda Lerner
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Ausgabe 12 / 2016:
|
October 2016
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Die UNESCO zeigt einen neuen Dokumentarfilm über das Leben und Werk von Dr. Gerda Lerner

Ob man ein Opfer ist oder nicht, das bestimmt man selbst. Zu dieser Einsicht kam die österreichische Jüdin Gerda Lerner (geb. Kronstein), als sie als Teenager von den Nationalsozialisten einige Wochen in einem Wiener Gefängnis einsperrt wurde. Damals entschied sie, kein Opfer zu sein und auch nie eines zu werden. Diese Erfahrung der Möglichkeit von Autonomie und Selbstbestimmung, selbst unter den schwierigsten Umständen, hat sie nie vergessen. Sie sollte ihr Leben als Schriftstellerin, Aktivistin, Ehefrau und Mutter sowie auch ihre spätere akademische Laufbahn in den Vereinigten Staaten von Amerika mitbestimmen.

Über das Leben und Werk von Gerda Lerner gibt es nun einen Dokumentarfilm, welcher Mitte September dieses Jahres in der Educational, Scientific and Cultural Organization der Vereinten Nationen (UNESCO), bei der ich arbeite, vor einem Publikum von 120 Menschen, gezeigt wurde. In »Warum Frauen Berge besteigen sollten« lädt die Filmemacherin Renata Keller das Publikum ein, sie auf einer Reise mit­Gerda Lerner zu begleiten.

Gerda Lerner hatte schon früh am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, diskriminiert zu werden und eine Außenseiterin zu sein. Gleichzeitig hatten ihre eigenen Erfahrungen und ihr Engagement als Aktivistin sie gelehrt, die Grenzen des Möglichen immer wieder neu zu definieren. Als sie dabei nach weiblichen Vorbildern sucht und nur wenige findet, kommt sie zu dem Schluss, dass die Geschichtsschreibung vor allem aus der Perspektive der Männer berichtet. Die Rolle der Frauen im öffentlichen Leben und ihr Beitrag zu gesellschaftlicher Veränderung nehmen darin meist keinen wesentlichen Platz ein. Genauso wenig wurde thematisiert, wie Frauen, bewusst und unbewusst, am Erhalt patriarchalischer Strukturen beteiligt waren. Gerda Lerner entschied, diesem Missstand Abhilfe zu schaffen. »Durch meine Arbeit möchte ich zeigen, dass Frauen eine Geschichte haben«, sagt Gerda Lerner im Interview.

¬ Wie können wir gemeinsam unsere Geschichte neu definieren?¬

Als Zuschauerin verfolgt man diese Überlegungen nicht passiv. Zusammen mit der Filmemacherin, die Gerda Lerners Lebensweg und Entwicklung im Film mit ihren eigenen Reflexionen begleitet, tritt man in einen inneren Austausch mit den beiden Frauen und letztendlich auch mit sich selbst. Was bedeutet es, ein autonomer und selbstbestimmter Mensch zu sein? Bin ich mir überhaupt bewusst, wie sehr oder wie wenig selbstbestimmt ich eigentlich bin? Wie lebe ich diese Autonomie im 21. Jahrhundert? Was bedeutet es für uns Frauen, Verantwortung für unsere Geschichte zu übernehmen? Was bedeutet es für Männer, und wie können wir gemeinsam unsere Geschichte neu definieren? Was ist der nächste Schritt in Richtung mehr Selbstbestimmung, für mich, für uns alle gemeinsam?

Nach der Filmvorführung in der UNESCO entspannte sich eine interessante Diskussion über den möglichen Beitrag von Bildung und Erziehung zur Förderung der Selbstbestimmung junger Menschen, und zum besseren Verständnis unserer Geschichte. So fragte zum Beispiel jemand, wie denn die UNESCO durch ihre Bildungsarbeit dazu beitragen könnte, die Selbstbestimmung junger Menschen zu fördern. Darauf antwortete Renata Keller, dass ihrer Meinung nach den Jugendlichen viel Raum für Gespräch und Offenheit gegeben werden müsste, damit sie den Mut finden, frei und unabhängig denken zu lernen. Es sei wichtig, dass (junge) Männer und Frauen im gemeinsamen Dialog zu neuen Wegen finden.

Mich erfüllte nach dem Film vor allem ein großes Gefühl der Dankbarkeit. Durch das Werk und Leben Gerda Lerners und ihrer Mitstreiterinnen stehen uns heute mehr weibliche Vorbilder zur Verfügung als vor 50 Jahren. Gerda Lerner ist eines davon. Die nächsten Schritte liegen bei uns.

Author:
Barbara Torggler
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