Wissenschaft

Ihre Grenzen, ihre Macht

Die wissenschaftliche Revolution hat unsere Welt verändert – unseren Blick auf den Kosmos und unseren Platz darin. Die Wissenschaft ist zur ausschlaggebenden Instanz geworden, um unser Handeln auszurichten. Sie ist aber auch durch ihre inneren Widersprüche, blinden Flecken und Grenzen geprägt. Wie gehen wir damit um? Und könnten diese Lücken auch der Raum sein, aus dem sich eine Erweiterung eines wissenschaftlich informierten, aber nicht begrenzten Denkens und Seins in der Welt entwickeln kann?

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Issue Articles

Readers Voice's

Zu Thomas Steininger „Wahrheit und Wissenschaft“

Wie selten und wohltuend: einer, der die Geschichte der (Natur-) Wissenschaften kennt und paradigmatisch bedeutsame Entdeckungen anschaulich schildert. Der Descartes nicht, wie seit Langem üblich, gedankenlos für die unheilvolle Spaltung von Subjekt und Objekt verantwortlich macht, dessen schöpferisches Denken meditativ aus den Tiefen des Unbewussten, des Traumlebens erwuchs und dessen „Mediationen“ und „methodischer Diskurs“ auch heute noch lesenswert sind.

Einer, der zutiefst ermisst und wertschätzen kann, was Wissenschaft für den Menschen zu leisten vermag, auch neueste neurologische und physikalische Konzepte kennt, dabei aber nicht vergisst und außer Acht lässt, dass eben diese Wissenschaft – besser: der Umgang des Menschen mit den Ergebnissen dieser Wissenschaft – erheblich zur Gefährdung des Menschen und der Welt beigetragen hat. Mathematische Modellierungen ermöglichen erstaunliche Vorhersagen und Berechnungen, aber sie lassen die Lebenswelt verblassen, die ganz konkrete sinnlich erfahrbare Welt hier und jetzt, worauf Husserl bereits in „Die Krisis der europäischen Wissenschaften“ 1936 warnend aufmerksam gemacht hat.

Einer solchen fundierten kritischen Wertschätzung der Leistung, aber auch Grenzen von Wissenschaft öffnet sich das denkende Herz und nimmt dankbar Anstöße zur Kenntnis, die auf die untrennbare Verbundenheit von Mensch und Natur, Subjekt und Objekt in einer vernetzten Welt hindeuten.

evolve hat mit dieser Ausgabe erneut bewiesen, dass das Magazin für Bewusstsein und Kultur seinen Namen zu Recht trägt und zu den maßgeblichen philosophisch-spirituellen Zeitschriften gezählt werden muss.

Benedikt Maria Trappen M.A.
Hennweiler

Zu Rüdiger Sünner „Überflüssig wie Musik“

Der „theopoetisch“ akzentuierte kritische Schluss der Rezension von Rüdiger Sünner kann gar nicht genug hervorgehoben, betont und gelobt werden. Mehr noch. Der Sinn all dieser schöpferischen, dichterischen, symbolisch-metaphysischen Hervorbringungen muss deutlich werden: Dass es „Landkarten“ sind, vor-läufige Wegbeschreibungen möglicher Erfahrungen, die der Mensch, von seiner tiefsten Sehnsucht berufen und auf den Weg gebracht, machen kann und machen muss, wenn er sein Potenzial verwirklichen und wirklich Mensch werden will, vollständig, ganz. Der Sinn aller Metaphysik und Religion ist die Menschwerdung des Menschen, die Menschwerdung Gottes. Die „Überwindung“ des Menschen und der Welt führt in kein sagenhaftes Jenseits. Himmel und Hölle sind not-wendige Erfahrungen des Bewusstseins auf seinem Weg. Und die andere Welt, in der der neu geborene Mensch sich nach dem Tod des alten, egozentrischen ICH wiederfindet, ist keine andere als diese unsere Erde, wenn auch anders. Wer diesen Prozess wirklich durchlebt – nicht nur darüber gelesen, geredet, geschrieben – hat, hat dabei aber auch die Intuition oder Gewissheit eines unsterblichen ewigen Seins gewonnen, das er im Grunde ist, immer schon war und immer sein wird, unberührt von aller Entwicklung und Veränderung. Ihm wurde unzweifelhaft deutlich, dass Leben kein einmaliger linearer Prozess ist, der vom Anfang zum Ende verläuft, sondern ein unendlicher Prozess der Aufhebung, der in Stufen verläuft, einer Schlange gleich, die sich in sich weitenden Spiralen in die Höhe windet, hin zur Sonne, dem alles durchdringenden, alles erleuchtenden, alles belebenden LICHT.

Um es noch einmal mit Hegel zu sagen: Das Geschäft der Philosophie – Wahrheit – ist nicht schon mit dem „Genuss der Idee“ abgetan und kann nicht in demokratische Diskurse aufgelöst werden. Darauf aber haben es – im besten Fall – die Schriftgelehrten und Intellektuellen seit Langem schon reduziert.

Benedikt Maria Trappen M.A.
Hennweiler

Das Thema „Wissenschaft“ hat mich förmlich elektrisiert! Es hat meine Skepsis und Sorge hinsichtlich unserer rauschhaften Rationalisierungs- und Technisierungs-Orgien dazu inspiriert, diesen Rausch unserer späten Moderne einmal gründlicher zu reflektieren und diesen „heißen Komplex“ auch selbst
im wörtlichen Sinn „zur Sprache zu bringen“. Mein „Hilferuf“ ist mehr ein Stammeln.

Die Wissenschaft
Bedeutung, Risiken, Chancen

Die heutige Rolle der Wissenschaften erschöpft sich nicht nur in ihrer bedeutenden lebenspraktischen, erkenntnis-theoretischen, wirtschaftlichen und politischen Rolle. Im Licht dieser gigantisch großen, unmittelbar praktischen Bedeutung wird aber meist vergessen, neben ihren Licht- auch ihre Schattenseiten zu registrieren und ernst zu nehmen. Aus dem Siegeszug der Wissenschaften haben sich nicht nur praktische, sondern auch kulturelle, weltanschauliche Veränderungen von großem Gewicht ergeben. Vor diesem Horizont brachte allein der damals relativ junge Begriff „Wissenschaft“ eine neue Kategorie in das komplexe Gefüge unserer Kultur ein. Wurden die Wissenschaften noch vor wenigen Jahrzehnten ganz fraglos als ein kultureller Gewinn verstanden, so wird heute vor dem Hintergrund von wachsenden ökologischen, klimatischen, sozialen und kulturellen Zweifeln deutlich, dass über ihre ökologische und vor allem ihre kulturelle Rolle neu nachgedacht werden muss.
Es sind nicht nur die technischen, lebenspraktischen Aspekte der Wissenschaften in ihrer Rolle innerhalb unserer Kultur zu hinterfragen. Es ist zudem auch über den Einfluss der wissenschaftlichen Objektivierungslogik auf unser modernes Menschen- und Weltbild nachzudenken.

Die vorwiegend mathematisch-materialistische Logik der Neuzeit und Moderne (Industrialisierung, Militärtechnik, Atomenergie, künstliche Intelligenz etc.)  „infiziert“ gleichsam das moderne Bewusstsein. Sie infiziert in dem Sinn, dass diese höchst komplexe, abstrakt-materielle Logik in einem zuvor nicht denkbaren Ausmaß nahezu alles umstrukturiert, „mentalisiert“ und „materialisiert“. Was dabei zunehmend – aber wenig beachtet! – in den Hintergrund tritt, das nannte man einst Seele, Geist, Kultur, Kultiviertheit, Religio. Wir haben es dabei nicht mit einer politischen, sondern mit einer im alten Sinn kulturellen Ordnung zu tun. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um die äußere, sondern vor allem um die innere, kulturelle, seelisch-geistige Ordnung. Um eine Ordnung, um einen „Geist“, der mehr mit den komplexen, sensiblen, biologisch-lebendigen Ökosystemen als mit einer technisch-wirtschaftlichen Logik vergleichbar ist.

Babylons moderne Türme

Die historische Herausforderung unserer fortschritts- und prestigehungrigen Moderne zeigt sich am augenfälligsten in den ständig neuen Rekorden beim Bau von architektonischen Wunderwerken. Der im Bau befindliche „Kingdom-Tower“ in Saudi-Arabien wird mit seiner geplanten Höhe von mehr als 1000 m der vorläufige Star unter diesen architektonischen Wunderwerken werden. Die „Babylonischen Türme“ unserer spätmodernen Epoche schießen wie Pilze aus dem Boden. Sie dienen dem Prestige und dem Ruhm ihrer Besitzer viel mehr als dem praktischen Nutzen, den sie als Büro- und Verwaltungsgebäude haben. Sie sind die in Beton und Stahl gegossenen Inkarnationen des technisch-wissenschaftlich-objektivierenden Geists unserer spätmodernen Epoche.

Diese architektonischen Rekorde, die immer schneller von neuen „Wundern“ abgelöst werden, sind nur anschauliche Symbole des Ruhms, dem sie dienen. Dieser vor allem naturwissenschaftlich und ökonomisch generierte Geist hat diese Felder zum unerschütterlichen Credo der Moderne aufsteigen lassen. In der uralten Geschichte vom Babylonischen Turm zeigt sich, dass die Hypertrophie der technisch-mental-objektivierenden Intelligenz offensichtlich eine universell-menschliche Herausforderung mit hohem Risikofaktor ist. Unsere gegenwärtige Entwicklung gleicht einem Rausch, der die Illusion hervorruft, dass unsere menschliche Intelligenz das höchste aller Ziele wäre. Und: dass es scheinbar keiner Ein- und Unterordnung unter eine höhere Weisheit oder Besinnung bedarf.

Der gigantische Siegeszug dieser wissenschaftlich-materiellen Deutung von Sein und Dasein beruht auf der Vorstellung, dass wir Menschen den Schlüssel zu „der Weisheit letztem Schluss“ in der Hand hätten. Der endgültige Horizont wäre demnach derjenige, den die objektiven Erkenntnisse vor allem den Naturwissenschaften beimessen. Alle organisch-geistig-lebendige Wirk-lichkeit, alle seelisch-geistig-spirituellen Perspektiven ließen sich – nach der Logik dieser naturwissenschaftlichen Sicht – mindestens prinzipiell auf objektiv-materielle Daten zurückführen.

Genau diese materialistische Deutung und Verwirklichung von Sein und Bewusstsein macht aus unserem unermesslich kostbaren Kosmos eine Art Selbstbedienungsladen im doppelten Sinn. Nämlich zum einen in dem Sinn, dass wir uns in diesem Laden namens „Erde“ nach Belieben bedienen und über ihn herrschen dürfen. Und zum anderen: dass alle Möglichkeiten der Erkenntnis nur innerhalb des wissenschaftlich-technisch-objektivistischen Paradigmas deutbar wären. Mit anderen Worten: dass es keine epistemologisch höhere als die positivistisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis gibt. Vor allem diese stolze Hybris einer streng materialistischen Weltsicht ist es, die den mächtigen erkenntnistheoretischen und materiellen Besitz- und Herrschaftsanspruch über alle anderen Erkenntnis-Horizonte hinweg hervorbringt.

Aus einer historisch-kulturellen Perspektive ergeben sich andere Einsichten. Sie erscheinen in der Gestalt von Mythen, Sagen und Märchen, weil allein schon der Geist, die Melodie der Sprache ein wichtiger Teil dessen ist, was zur Sprache gebracht werden soll. Die Geschichte von der babylonischen Sprachverwirrung ist solch eine sehr alte kulturelle Metapher. Mit anderen Worten: ein Gleichnis für ein fundamentales anthropologisches Risiko. Nämlich: dass ein zu hoher mental-materieller Welt-Erfolg in seinem Schatten zu einem Sensibilitäts- und Achtsamkeitsverlust auf der Innenseite, in der existenziell-anthropologisch-seelisch-geistigen Dimension unserer scheinbar rein materiellen Existenz führen kann.

Die „Innenseite“ verschwindet gleichsam unter dem riesigen Schatten, den der große und stolze Erfolg auf der materiell-objektivistischen Außenseite hervorgebracht hat. Das gilt auch dann, wenn dabei keine Spur von bösem Willen im Spiel war! (Unser sozial-ethischer Horizont reicht zwar etwas weiter als der unserer Augen, aber auch er verbleibt viel zu oft innerhalb des Schattens dieser Logik aus Materie und praktisch-objektiver Intelligenz). Wenn eine ganzheitlich-integrale Deutung aus hellerem Fortschritts- und dunklerem Bewahrungsbedarf angemessen wäre, dann wäre nicht der „Fortschritt“, sondern die innere, die integrale Bewusstseins-Schnittmenge aus Herkunfts- und Zukunfts-Horizont das Ziel einer Kultur, die diesen Namen verdient. Jean Gebser hat schon mit dem Titel „Ursprung und Gegenwart“ einen Horizont eröffnet, der in der Lage wäre, diesen Dauerkonflikt zwischen Herkunfts- und Zukunfts-Orientierung, zwischen praktisch-materieller und integral-kultureller Vernunft in einem neuen, integralen Bewusstsein zu versöhnen und fruchtbar werden zu lassen.

Das Ziel eines solchen „integralen Bewusstseins“, das gleichsam alle geschichtlich-kulturellen „Sprachen“ und „Melodien“, die uralten und die hypermodernen, als die beiden Seiten eines einzigen Kontinuums verständlich machen könnte, dieses Ziel würde den jahrtausendealten Konflikt zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Bewahrung und Fortschritt (politisch ausgedrückt: zwischen Rechts- und Links-Orientierung) mindestens beruhigen oder vielleicht sogar beheben. Die praktisch-materielle Nutzung und Ausnutzung und Ausbeutung unserer natürlichen Ressourcen würde aufgehoben in einem wesentlich größeren, einem integralen und deshalb konfliktärmeren, kulturell-universellen Horizont, in dem auch die Psyche und deren Kultur und Kultivierung gut aufgehoben wäre.Beim babylonischen Turmbau war die Folge des Hoch- und Übermuts die große Sprachverwirrung. Das heißt: die verwirrende Störung im Austausch, in der Kommunikation, in der Verbundenheit der Menschen untereinander. Und darüber hinaus wäre ein Boden bereitet, auf dem die innere Verbundenheit und Sym-pathie(!) der Menschen wieder besser gedeihen könnten.

Es ist zu fürchten, dass wir heute in einer ganz ähnlichen Lage sind wie damals diese praktisch sehr intelligenten, sehr reichen und sehr schicken Babylonier. Die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ ist heute nur der momentan modernste und raffinierteste aller bisherigen „Türme“. Dass „9/11“ oder Tschernobyl oder Fukushima ein Fanal auch zu einer kulturell-anthropologisch-integralen Selbstbesinnung hätte sein können, diese Chance wurde im Rausch unserer westlich-modernen, wissenschaftlichen Raffinesse versäumt.

Die Archaik, die aus den uralten Mythen und Kulten spricht, ist nach Jean Gebser nichts Überholtes, sondern eine uralte Schicht auch noch unserer modernen, aber zugleich auch uralten Geschichte. Das Gleichgewicht zwischen Innen und Außen, zwischen Ursprung und Gegenwart schreit förmlich nach Balance. Es schreit nach einer Kultivierung aller Aspekte von Vergangenheit und Zukunft, von Raum und Zeit, von Innen- und Außenwelt, von Alpha und Omega. Der theoretisch-objektivierende Siegeszug der modernen Wissenschaften müsste auch seinen eigenen, uralten magischen Schatten integrieren. Nicht allein ein technisch-mentales, sondern erst ein kulturell-integrales Bewusstsein könnte die Schieflage unserer einseitig mentalen Moderne in ein neues Gleichgewicht bringen. Der wahrscheinlichste Lichtblick in dieser Richtung ist für mich dieses besagte „integrale Bewusstsein“, das Jean Gebser, unter dem Titel „Ursprung und Gegenwart“ postuliert hat. Das mental-moderne Bewusstsein würde demnach von einem integral-ganzheitlichen Bewusstsein aufgehoben. Aufgehoben im doppelten Sinn: überholt und dennoch bewahrt.

Weil in unserer eigenen Tradition die Linie der Mystik und in den östlichen Traditionen die Zen-Linie eine gute Verbindung eingehen könnten, geht meine Hoffnung in Richtung auf einen Dialog, einen Austausch von östlicher und westlicher Weisheit. Auch in der sprachlichen Zurückhaltung – im Schweigen – dieser beiden „inneren“ Kulturen verbirgt sich eine große Chance. In einer Pflege des Schweigens könnte der Lärm nicht nur der vielen Maschinen, sondern auch der „mentale Lärm“ unserer technisch-wissenschaftlichen Raffinesse sich wieder ein Stück weit beruhigen. Erst in einer inneren Stille und Geduld könnte wieder ein neues Erwachen zum Wesentlichen gelingen.

Über den Weg einer Reduktion von Ich und Ego könnte eine Aussicht auf heilsame Selbstfindung am individuellen und kulturellen Horizont auftauchen. Und Wissenschaft könnte so zu ihrer Herkunft zurückfinden: zur Weisheit sowohl im individuellen als auch im kulturellen Raum. Die tiefe Krise unserer späten Moderne lässt sich nicht allein draußen in der Objektwelt lösen. Sie ist Symptom einer schwerwiegenden Gleichgewichtsstörung zwischen Innen- und Außenwelt-Erfahrung. Eine einseitig mentale Änderung („Modernisierung“) macht den Graben zwischen Innen und Außen nur noch tiefer. Jean Gebsers „Integrales Bewusstsein“ zielt auf genau diese not-wendige, not-wendende Balance zwischen der Innen- und Außenwelt, zwischen der inneren und äußeren Dimension unserer menschlichen Existenz. Zu fürchten ist, dass nicht mehr viel Zeit bleibt für eine Besinnung, für ein Erwachen in diesem integralen Sinn. Gelingt ein solches Erwachen, so wird das „Licht“, das da einleuchtet, auch eine tiefe individuelle und kulturelle „Bewegung“ in Gang bringen.

Kurzer, sehr knapp ergänzender Brückenschlag zur modernen Physik

Ein wichtiger Hintergrund bei der Frage nach einem „integralen Bewusstsein“ ist mit größter Wahrscheinlichkeit die von der modernen Physik umkreiste Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Raum, der Raum-Zeit und der dimensionalen ZEIT. „Raum“ meint alles physikalisch, biologisch, materiell Feststellbare. Zeit dagegen ist aus der klassisch physikalischen Sicht all das, was Uhren und Kalender zählen und messen: die Bewegung von Objekten (z. B. der Erde um ihre Achse, der Erde um die Sonne, der Zeiger um die Achse der Uhr usw.).

Einsteins dimensionale ZEIT dagegen meint eine viel „tiefere Ebene“. Diese tiefere, diese dimensionale ZEIT meint eine alte und zugleich sehr neue, energetische Dimension von „Realität“ und „Universum“. Diese „dimensional-energetische ZEIT“ (die den Raum nicht nur zu „biegen“, sondern hervorzubringen vermag!) meint diejenige Dimension, die alle physikalisch-materielle Wirklichkeit nicht nur permanent dynamisch misst, sondern hervorbringt. Nämlich den Punkt aus dem ursprünglich-dimensionalen „Nichts“: die Linie aus der Bewegung des Punkts, die Fläche aus der Bewegung der Linie (quer zu ihrer eigenen Logik), den Raum aus der Bewegung der Fläche (quer zu ihrer eigenen Logik) … Mit anderen Worten: diese „Dimension“ meint eine stets sprudelnde Quelle von Gegenwart. Die permanente ZEIT-igung des Raums ist das Wesen aller kosmischen und menschlichen WIRK-lichkeit! Eine solche Deutung der WIRK-lichkeit lässt nicht zuletzt auch zu, dass die vom mentalen Ein-Räum-en hervorgerufene klassische Raum-vor-stellung als Konsequenz unseres mentalen „Objektivierungs-Tricks“ erkennbar wird. Alle Versuche, diesen energetisch-dynamischen Charakter der dimensionalen ZEIT fest-zu-stellen, verkennen das Wesen von Einsteins dimensionaler ZEIT: weil fast unser gesamtes Bewusstsein bis heute als Sein und nicht als Werden aufgefasst wird. Jede neue Fest-stellung oder Objektivierung wird – wenn sie nicht als Geschehen erfahren wird – Teil des Gehäuses, des Turms in den wir uns hineingedacht und eingesperrt haben.

Ein Ausweg aus dieser Feststell-Falle kann nur von innen gefunden werden. Alle hohen Feste unserer europäischen Kultur – Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Pfingsten waren mentale Versuche, das integral Unbegreifliche begreiflich zu machen. In der Tradition des Zen (aber auch in der christlichen Mystik und vielen anderen spirituellen Traditionen!) ist deshalb das Ziel eines Zu-SICH-Kommens von so immens hoher Bedeutung. Nur wer dieses permanente Werden vollkommen unmittelbar selbst erfährt, verwirklicht, der weiß, der spürt, wovon diese rätselhaften „Berichte“ berichten. Und er weiß um den heiligen inneren Wert, der sich in den uralten, seltsam anmutenden Ritualen und Sagen und Märchen verbirgt. All diese Geschichten erzählen von einem Geschehen. Eine definitiv objektivierende Wahrheit ist in diesen Symbol-Geschichten nicht transportierbar. Nur diese nicht fest-stell-bare Resonanz, nur dieses Mitschwingen, dieser Einklang, diese Sensibilität in einer individuell-lebendigen (niemals objektartigen) „Seele“ lässt diese spirituell not-wendige Erfahrung geschehen.

Karlheinz Gernbacher
Bad Schwalbach