Selbstermächtigt und kokreativ
Hanno Burmester war in der SPD-Fraktion des Bundestages, im Willy-Brandt-Haus und als Journalist tätig. Heute arbeitet er als Organisationsentwickler, Autor und Politikberater. In seiner Arbeit wurde ihm klar, dass die Politik durch eine tiefgreifende Transformation gehen muss. Oft bleiben die Rahmenbedingungen aber unberührt und die politischen Akteure beharren auf dem Status quo. Wir sprachen mit Hanno Burmester über mögliche Wege in eine neue demokratische Dynamik.
evolve: Wo siehst du den Kernpunkt, an dem die Transformation politischer Prozesse scheitert?
Hanno Burmester: In der über Jahrzehnte kultivierten Unwilligkeit des politischen Raums, sich den Wurzeln der heutigen Herausforderungen zuzuwenden. Die Systeme, die wir im 19. und 20. Jahrhundert gebaut haben, sind an vielen Stellen Treiber der Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen. Das wissen wir intellektuell seit den 70er-Jahren, aber im politischen Raum kommt diese Erkenntnis nur sehr zögerlich an. Dass Politik auch dafür da sein kann – da sein muss –, Grundsätzliches zu verändern und Rahmenbedingungen neu zu definieren, ist im politischen Mainstream kaum zu hören.
e: Wo liegt in deiner Arbeit in der Politik dein Beitrag, das zu verändern?
HB: Meine Intention ist, dass politische Akteure ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass das Potenzial ihres Handelns und ihrer Wirkung weitaus größer ist als das, was sie als Politik zu verstehen gelernt haben. Das Grundgesetz lässt dem Politischen eine größere Gestaltungsfreiheit, als Politik sie heute nutzt. Mit meinen Projekten, Veranstaltungen, Texten und Vorträgen will ich den Blick weiten und Menschen dazu ermutigen, grundsätzlichere Fragen zu stellen und neuen Mut zu fassen, die Welt auf demokratischem Weg grundlegend zu verändern.
In den letzten Jahren habe ich das über meine Rolle als Policy Fellow des Think Tank »Das Progressive Zentrum« getan. Ganz traditionell über Policy Papers und konkrete Reformvorschläge, zum Beispiel zu Innovation in Parteien. Aber auch darüber, dass wir grundlegende Fragen auf Konferenzen, in Hintergrundgesprächen usw. stellen: Was ist eigentlich der Sinn der Demokratie? Wie muss sie im 21. Jahrhundert aussehen? Mit der internationalen Konferenz Innocracy habe ich ein Format mitgegründet, das jetzt schon im vierten Jahr demokratische Innovator*innen zusammenbringt. Da geht es um Vernetzen, Inspirieren, voneinander Lernen – aber auch darum, konkret Einfluss zu nehmen und für Themen und Ideen zu werben, bei Ministern, Parlamentarierinnen, hochrangigen Regierungsbeamten und so weiter.
e: Und wie arbeitest Du beratend in Orga-nisationen?
HB: Auf Organisationsebene ist die Arbeit deutlich konkreter und auch ertragreicher als in der institutionalisierten Politik. In vielen Firmen und NGOs gibt es eine große Bereitschaft, mit neuen Organisations- und Führungsmodellen zu experimentieren. Unsere Kunden kommen zu mir und sagen: Wir wollen gern, dass die Leute mehr Eigenverantwortung übernehmen, wir wollen aus der hierarchischen Führungslinie raus und eine kollegiale Steuerung ermöglichen. Was können wir tun, damit das gelingt? In solchen Projekten setzen wir den Rahmen dafür, dass Mitarbeitende aus allen Funktions- und Hierarchieebenen gemeinsam neue »Betriebssysteme« für Führung und Selbstführung in ihren Organisationen bauen. Da geht es um neue Strukturen, Rollen, Prozesse. Aber auch um eine innere Dimension: die eigene Haltung, gemeinsame Werte oder eben die Frage nach der Sinnausrichtung der Organisation.
POLITIK KANN DAFÜR DA SEIN, GRUNDSÄTZLICHES ZU VERÄNDERN UND RAHMENBEDINGUNGEN NEU ZU DEFINIEREN.
e: Wie könnte sich solch ein Wandel im politischen Bereich zeigen?
HB: Wir müssen das, was Unternehmen gerade erproben, rückübersetzen in neue politische Organisationen. Das gilt auch für aktivistische Initiativen. Organisationen wie Extinction Rebellion sind gerade deshalb spannend, weil sie ein sehr durchdachtes, dezentrales, selbstorganisiertes Betriebssystem haben. Wenn du bei denen als junger Mensch mitmachst, bist Du sofort ganz anders sozialisiert und wirst Dich nicht mehr ohne Weiteres in die Strukturen klassischer Unternehmen oder Parteien einfügen.
Deshalb unterstütze ich auch die Neugründung von transformativen Parteien, die zeitgemäßer funktionieren als das, was wir bislang kennen. In meinem bald erscheinenden Buch »Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt« beschreiben mein Co-Autor und ich, wie das aussehen kann: ein bewussterer Fokus auf den politischen Purpose, eine klare ideologische Verortung und das konsequente Leben von kulturellen Werten im Inneren. Aber auch banale, aber lebenswichtige organisatorische Neuerungen: eine dezentrale, subsidiäre europäische Grundstruktur und der Einbezug digitaler Vernetzung.
Ob so oder anders: Es gibt echte Erfolgsaussichten für neue Kräfte. Ich kenne viele Leute in hochrangiger Funktion, bis hin zu hohen Ministerialrängen, die sagen: Wenn es eine neue Partei gibt, die gleichzeitig professionell, konstruktiv und ernsthaft transformativ ist, dann bin ich dabei. Das heißt, die Zeit ist reif. Jetzt braucht es nur das richtige Timing, die richtigen Leute, das richtige Organisationsmodell, das richtige Programm.
e: Was wären Grundsätze, die solch eine Neugründung beinhalten müsste?
HB: Besonders wichtig ist ein klarer Daseinszweck. Wir haben heute das Problem, dass die meisten der etablierten Parteien nicht mehr erklären können, wofür es sie im Kern gibt. Nur Grüne und Teile der AfD haben einen klaren Purpose, der sie im politischen Wettbewerb orientiert und stärkt. Das Gleiche sehen wir auf europäischer Ebene. Wirklich kraftvoll unterwegs sind fast nur illiberale, rechtsnationalistische Kräfte. Sie wollen Grundlegendes verändern – leider zum Schlechten. Aber wo sind die konstruktiven, zukunftsgewandten Kräfte, die klar sagen, was sie wollen und bereit sind, Grundlegendes zu verändern? Ich sehe keine. Es gibt also eine große strategische Leerstelle für eine freiheitliche transformative Kraft, die bereit ist, jenseits der Links/Rechts-Logik das politische Feld durchzupflügen und sich an die Riesenthemen Klimakrise, globale Ungleichheit und so weiter heranzuwagen.
Dazu müssen neue Parteien immer die innere Kultur im Blick haben. Politik ist menschlich so toxisch, weil dieser Punkt immer unterschätzt worden ist: der menschliche Umgang miteinander und die Freude, gemeinsam an einer Sache zu arbeiten. Das spürt man im politischen Raum quasi nicht mehr, außer vielleicht auf kommunaler Ebene. Das ist verheerend, denn es treibt uns als Menschen weg von der Politik. Umso wichtiger, Werte als politische Organisation nicht nur zu haben, sondern sie miteinander mit Leben zu füllen.