Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
July 15, 2024
In »Die Religion von morgen« geht der integrale Vordenker Ken Wilber von der Grundannahme aus, dass sich die großen Religionen der Welt an einem Scheideweg befinden. Zu Beginn drückt er zwar seine Wertschätzung ihnen gegenüber aus, da sie vielen Menschen dabei geholfen haben, zur wunderbaren Realität ihrer wahren Natur und zur Natur des Universums zu erwachen. Doch dann zeigt er auf, wie im Verlauf der Jahrhunderte durch kulturelle Aneignung und dadurch, dass Mythos und Ritual zum Selbstzweck wurden, diese Einsichten in Vergessenheit gerieten und die Religionen nun Gefahr laufen zu verschwinden oder sich zu dogmatischen, fundamentalistischen Systemen zu verengen.
In »Die Religion von morgen« geht der integrale Vordenker Ken Wilber von der Grundannahme aus, dass sich die großen Religionen der Welt an einem Scheideweg befinden. Zu Beginn drückt er zwar seine Wertschätzung ihnen gegenüber aus, da sie vielen Menschen dabei geholfen haben, zur wunderbaren Realität ihrer wahren Natur und zur Natur des Universums zu erwachen. Doch dann zeigt er auf, wie im Verlauf der Jahrhunderte durch kulturelle Aneignung und dadurch, dass Mythos und Ritual zum Selbstzweck wurden, diese Einsichten in Vergessenheit gerieten und die Religionen nun Gefahr laufen zu verschwinden oder sich zu dogmatischen, fundamentalistischen Systemen zu verengen.
Wenn die großen Religionen in Zukunft lebendig bleiben und ihrer ursprünglichen spirituellen Vision treu bleiben wollen, müssen sie laut Wilber die wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen, die in den letzten hundert Jahren über die menschliche Natur gemacht wurden – Erkenntnisse zum Beispiel über den Geist und das menschliche Gehirn, über Emotionen und die Entwicklung des Bewusstseins. Da man sich früher dieser Dinge nicht bewusst war, konnten sie in der kontemplativen Praxis der großen Religionen nicht berücksichtigt werden.
Am Anfang des Buches schreibt Wilber, er werde das am Beispiel des Buddhismus erklären – zum einen deshalb, weil es die Religion sei, die er im Laufe seines Lebens besonders studiert und auch praktiziert hat, zum anderen, weil der Buddhismus in vielerlei Aspekten kurz vor »einer vierten Drehung des Dharma-Rades« stehe, wobei die »dritte Drehung« vor fast 1000 Jahren stattgefunden hat.
Wilber zeigt, wie der Integrale Ansatz, mit dem bereits viele Praktizierende verschiedener Weltreligionen arbeiten, eine nach seiner Ansicht kulturelle Katastrophe von beispiellosem Ausmaß abwenden kann. Die Gefahr besteht darin, dass durch die materialistische postmoderne Weltsicht die höheren Bereiche des menschlichen Potenzials in Vergessenheit geraten. Dann zeigt er, wie der integrale Ansatz in unserer persönlichen spirituellen Praxis Anwendung finden kann.
Wer sich bereits mit dem Integralen befasst hat, wird in diesem Buch viel finden, das er bereits kennt. Wilber hat eine sehr zirkuläre Art zu schreiben, was großartig ist, um zu lernen, aber bestimmte Punkte werden über viele Seiten hin wiederholt – wie zum Beispiel die Beschreibung von Zuständen und Stufen. Für Wilber sind Bewusstseinszustände und Bewusstseinsstrukturen zwei der wichtigsten psycho-spirituellen Elemente, die der Mensch besitzt und die jeweils ihr eigenes Entwicklungsspektrum haben. Bewusstseinszustände, Zustände oder spirituelle Erfahrungen wurden in den Religionen seit tausenden von Jahren erforscht, und nach Wilber kennzeichnen sie den Prozess des Erwachens (Waking-Up). Stufen oder Stadien und Strukturen des Bewusstseins betrachtet er als spirituelle Intelligenz und als notwendig für das Erwachsen-Werden (Growing-Up).
»Die großen Religionen der Welt befinden sich an einem Scheideweg.«
Wilber legt dar, dass die großen religiösen Traditionen die modernen Entwicklungen der Bewusstseinsstrukturen, die die Menschheit und die Individuen in den letzten Jahrhunderten entwickelt haben, nicht genügend berücksichtigen. Aus diesem Grund könne ein spiritueller Meister den höchstmöglichen Zustand des non-dualen Bewusstseins erreicht haben, aber in einer niedrigeren Stufe der Entwicklung feststecken und dadurch die an sich non-duale spirituelle Religion durch eine nur ethnozentrische oder mythische Weltsicht offenbaren. Hier gibt Wilber Beispiele für die Herausforderungen und Probleme, die entstanden, als asiatische buddhistische Lehrer mit einem hohen Bewusstseinszustand begannen, sich in eine westliche Gesellschaft zu integrieren, die aus einer Stufenperspektive (zum Beispiel im Hinblick auf Ansichten über Rasse, Geschlecht und so weiter) weiter entwickelt war als sie selbst. Er beschreibt die Verwirrung und den Schmerz, die dadurch verursacht wurden.
Insgesamt habe ich die Lektüre des Buches als eine Einführung in die integrale Sicht sehr genossen – Quadranten, Ebenen, Linien, Zustände und weitere Elemente der integralen Landkarte. Ich weiß auch zu schätzen, dass Wilber im Stil schnell wechseln kann: zuerst Darlegungen in akademischer und wissenschaftlicher Sprache und dann plötzlich die Anleitung zu einer Meditation über Non-Dualität.
Am Ende befasst sich Wilber noch kurz mit den Lehren über Chakren, feinstoffliche und kausale Körper, Schattenarbeit, Kulturkämpfe, Zustands- und Stufenstörungen und einer Reihe anderer Bereiche. Das alles ist lesenswert. Allerdings war ich enttäuscht, dass Ken Wilber nie wirklich zu dem Punkt kommt, an dem er, wie in der Einleitung versprochen, erklärt, wie denn die »vierte Drehung des Dharma-Rades« im Buddhismus genau aussehen wird.
Die Religion von morgen, Ken Wilber
Erschienen im Phänomen Verlag. 760 Seiten, Paperback, 39,95 €.