Heilende Landschaft

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Buch/Filmbesprechung
Published On:

January 27, 2025

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Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
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Über den Film »The Outrun« von Nora Fingscheidt

Manchmal erfüllt ein Dröhnen die Inseln. Bei Nacht kann man es hören. Unter den Inselbewohnern ist es ein offenes Geheimnis. Über die Ursache gibt es verschiedene Geschichten. Die Nachwirkungen militärischer Versuche vor der Küste, unterirdische Höhlen, in denen sich das Wasser tosend verfängt. Oder der Mythos von Mester Stoor Worm, einer riesigen Seeschlange, die Schottland bedrohte und vom König Menschenopfer forderte. Der Sohn eines Bauern wagte sich mit einem brennenden Torfstück in einem kleinen Boot in dessen Nähe, wurde verschluckt, und das Feuer verzehrte das Untier von innen. Es zerbarst, und seine Zähne fielen als die Orkney Inseln zur Erde nieder, in denen die Erschütterung des Todeskampfs nachhallt.

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Über den Film »The Outrun« von Nora Fingscheidt

Manchmal erfüllt ein Dröhnen die Inseln. Bei Nacht kann man es hören. Unter den Inselbewohnern ist es ein offenes Geheimnis. Über die Ursache gibt es verschiedene Geschichten. Die Nachwirkungen militärischer Versuche vor der Küste, unterirdische Höhlen, in denen sich das Wasser tosend verfängt. Oder der Mythos von Mester Stoor Worm, einer riesigen Seeschlange, die Schottland bedrohte und vom König Menschenopfer forderte. Der Sohn eines Bauern wagte sich mit einem brennenden Torfstück in einem kleinen Boot in dessen Nähe, wurde verschluckt, und das Feuer verzehrte das Untier von innen. Es zerbarst, und seine Zähne fielen als die Orkney Inseln zur Erde nieder, in denen die Erschütterung des Todeskampfs nachhallt.

Die Orkney Inseln ganz im Norden Schottlands, raue Küstenregion, mythenschweres Land, dort ist Rona aufgewachsen, brillant gespielt von Saoirse Ronan. Rona zog es aus der Tristesse ins schillernde London, wo sie in Party und Alkohol den Exzess sucht. Das intensive Leben, das sie doch immer wieder an den Rand des Abgrunds führt. Bis sie sich entschließt, in ihre Heimat zurückzukehren. Zum Beben der Landschaft, das sie in ihrem Herzen spürt.

»The Outrun« ist der zweite Kinofilm der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt. Wie schon in »Systemsprenger« steht im Zentrum eine weibliche Figur in ihrer Suche nach dem Ausbruch aus einengenden Konventionen, dabei nah an der Grenze zum Zusammenbruch. Die Geschichte von Rona basiert auf dem autobiografischen Buch »Nachtlichter« von Amy Liptrot, die auch am Drehbuch mitwirkte.

»Im Eintauchen in Sturm und Wellen spürt Rona eine neue und doch urbekannte Intensität.«

Die Suche nach sich selbst, nach Heilung, wird in einem sich überlappenden Zeithorizont erzählt. Verschiedene Phasen ihres Weges wechseln sich ab, wir springen zwischen Kindheit, Jugend, Erwachsenwerden und ihrem Schritt in die Einsamkeit hin und her. Darin sind Sequenzen als Dokumentation oder Animation eingestreut, in der Rona über Alkoholismus, Naturphänomene und Mythen spricht. So öffnet sich der Film kaleidoskopartig in eine spannungsreiche Gleichzeitigkeit und bettet die individuelle Geschichte der jungen Frau in größere Kraftfelder menschlicher Existenz ein.

Das innere Erleben von Rona wird dabei transparent und zutiefst mitvollziehbar. Wir erleben die Geschichte aus ihrer Perspektive, tauchen in ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen ein: ihre Suche nach der Ekstase in Tanz und Alkohol, die Verzweiflung über die zerstörerische Kraft in ihr, die sie von den Menschen trennt, die sie liebt, die schwierige Beziehung zu ihrem alkoholkranken und einsamen Vater und ihrer Mutter, die sich im christlichen Glauben in eine vermeintlich heile Welt flüchtet. Und vor allem die Erfahrung der heilenden Kraft der lebendigen Landschaft.

Um der Sucht zu entkommen, begibt sich Rona nach mehreren fehlgeschlagenen Entzugsversuchen schließlich auf eine abgelegene Insel der Orkneys, kehrt in das stille, wetterbebende Land zurück, dessen Einsamkeit und Eintönigkeit sie als junge Frau entfliehen wollte. Jetzt lebt sie allein in einer Hütte, unternimmt ausgiebige Spaziergänge durch die raue Natur, sammelt Steine, Seetang, angespültes Holz, begegnet der einfachen Herzlichkeit der Inselbewohner, malt und meditiert. Das Land und die Menschen lernt sie zu lieben. Und findet zu sich selbst. Im Eintauchen in Sturm und Wellen, beim Schwimmen im kalten Meer, in der Begegnung mit Robben und Vögeln spürt sie eine neue und doch urbekannte Form der Intensität. In eindrücklichen Bildern vermittelt der Film, wie Rona eine tiefe Verbundenheit mit der lebendigen Natur erfährt. Hier findet ihr Inneres in eine eigenständige innere Ordnung, sie klärt die Verletzungen ihrer Kindheit, und aus dem Gespräch mit der Landschaft zwischen Ozean und Fels erwächst ein neuer Sinn in ihrem Leben.

Der Film legt auch beim Zuschauen tiefere Ebenen der Verwobenheit mit dem Lebendigen frei und lässt die Heilkraft darin spürbar werden. In einer berührenden Szene nimmt Rona an den Klippen die Kopfhörer ab, die Techno-Musik, die wir mit ihr gehört haben, verstummt, und das Tosen von Wellen und Wind ist zu hören. Rona lauscht und wird am Ende sagen können: »Mein Körper ist ein Kontinent. Mein Atem schickt die Wolken über den Horizont, die Wellen rollen im Takt meines klopfenden Herzens ans Ufer.« Das sehnsuchtsvolle Beben in ihrem Herzen verschmilzt mit dem kraftvollen Dröhnen der Landschaft. Sie kann – ganzgeworden – erste Schritte in ein neues Leben gehen.

Author:
Mike Kauschke
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