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Unsere Gegenwart ist geprägt von Unsicherheit, großen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen und der fortlaufenden ökologischen Krise. Mitten hinein in diese prekäre Zeit werden in der Biologie überraschende und revolutionäre Erkenntnisse über das Leben und die Lebewesen entdeckt. Es scheint alles ganz anders und viel wunderbarer zu sein, als wir dachten. Können uns die Erkenntnisse der neuen Biologie helfen, tieferes Vertrauen zu finden?
Die Bäume tanzen in zartem Grün: Der Frühling ist wieder da und der Kreislauf des Lebens zieht seine Bahnen. Im treuen Lauf der Natur erneuert sich das Leben und strotzt nur so vor frischen Blättern und jungen Blüten, aus denen sich die Samen für den nächsten Lebenszyklus entwickeln. Dagegen wirken in den von Menschen gestalteten Bereichen von Politik und Gesellschaft Erneuerungsrituale wie etwa Wahlen oder öffentliche Debatten weitgehend abgenutzt. Die geopolitische Lage hat sich in den letzten Monaten abrupt verändert und neue Unsicherheiten hervorgebracht. Egal, ob dies nun längst überfällige Veränderungen und Umwälzungen mit sich bringt oder nicht: Die Annahmen, die wir wie selbstverständlich über den Verlauf unserer Leben hatten, geraten ins Wanken. Und: Vor dem Hintergrund äußerer Klimaereignisse wie Überschwemmungen oder Bränden und dem durch sie verursachten Chaos kann sich das innere »Klima« in uns ebenso chaotisch anfühlen. Existenzielle Unsicherheit ist schwer zu ertragen.
Seit einiger Zeit leben wir beide, die wir hier schreiben, mit einer akuten existenziellen Ungewissheit, seit bei Thomas vor über zwei Jahren ein Gehirntumor diagnostiziert wurde. Für Thomas ist das natürlich eine sehr persönliche Herausforderung – und doch auch viel größer. Er erlebt seine Krankheit als eine spirituelle Praxis mit weitreichenden Auswirkungen auf unser Zusammenleben in dieser Zeit. Und für Elizabeth ist es eine ständige Herausforderung, in Dankbarkeit für die Gegenwart präsent zu sein und sich dessen bewusst zu sein, dass es vielleicht das letzte Mal ist. Unter solchen Umständen ist die Tendenz, sich abzuschotten oder eine Vermeidungshaltung einzunehmen, stark – der menschliche Geist ist so geprägt. Und angesichts solcher Ungewissheit und Endgültigkeit ist es ein Leichtes, dem Leben selbst zu misstrauen.
»In der gesamten Welt, die wir bewohnen, wimmelt es von Handlungsfähigkeit, genau wie in uns.«
Um den Stürmen am Horizont zu trotzen, ist ein tiefes Vertrauen ins Leben die wichtigste Kraftquelle. Aber was bedeutet das eigentlich? Viele, die dies hören, ersetzen vielleicht das Wort »Leben« durch Gott oder den Schöpfer und sprechen damit das Leben in seinem umfassenden Sinn an. Andere setzen »Leben« möglicherweise mit einem Geheimnis gleich. Und dann stellt sich die Frage: Können wir alle in dieser Zeit der großen Ungewissheit auf die Intelligenz vertrauen, die uns bis hierher gebracht hat? Gibt es eine Intelligenz des Lebens, die vertrauenswürdig ist?
Trotz der philosophischen und sogar theologischen Implikationen dieser Frage haben wir uns auf der Suche nach Erkenntnissen an die Biologie gewandt. Zwar hat wohl jede und jeder von uns eine intuitive Vorstellung davon, was Leben ist, dennoch gibt es auf dem Gebiet der Biologie bemerkenswerterweise keine einheitliche Definition von Leben. Doch, so haben wir festgestellt, ereignet sich so etwas wie eine Revolution in der Biologie, die in den letzten Jahrzehnten merklich an Dynamik gewonnen hat. Die Erkenntnisse aus diesen neuen Entdeckungen offenbaren Prozesse, die die Entfaltung des Lebens in all seinen erstaunlichen Fähigkeiten gesteuert haben. Unsere Aufgabe als Menschen besteht darin, uns auf diese Prozesse einzustimmen und bewusst an ihnen mitzuwirken. Offensichtlich ist eine Intelligenz am Werk, die vertrauenswürdig ist.
Von der Chemie zur Handlungsfähigkeit
Was wir in der Schule über die Entfaltung des Kosmos von den Anfängen bis zur Gegenwart lernen, beschreibt eine reduktionistische Ödnis. Die Evolution, so wird uns beigebracht, ist zufällig. Nach einem anfänglichen Ereignis, vielleicht einem Urknall, nach Milliarden von Jahren mit Gasen und Staub bilden sich Sterne. Ohne ein steuerndes Prinzip wird unser Planet über Äonen hinweg in einem Prozess von Versuch und Irrtum zur Heimat mikroskopisch kleiner Lebewesen, die sich selbst replizieren, indem sie chemischen Anweisungen folgen, die von Genen generiert werden. Wiederum nach dem Zufallsprinzip gestalten sich die auf dem DNA-Molekül basierenden Gene immer komplexer und schaffen die Voraussetzung für die Entstehung immer komplexerer Organismen. Gene gelten als Blaupause des Lebens, ja sogar als Triebfeder für das Verhalten von Pflanzen, Tieren und Menschen. Und die Chemie ist – in Gestalt vorhersehbarer chemischer Reaktionen – die Grundlage dieses Lebens. Man könnte sagen, dass das Leben ein Epiphänomen der Chemie ist. Und dieses riesige Ereignis ohne Sinn und Zweck wird schließlich in einer entropischen Abwärtsspirale enden und erlöschen.
Dabei ist die Emergenz jeder neuen Phase der Evolution – von Sternen über Planeten und Zellen bis hin zu mehrzelligen Organismen – ein wahrhaft erstaunlicher Prozess. Aber in dem vorherrschenden wissenschaftlichen Narrativ wird betont, dass wir chemische Unfälle in einem riesigen toten Kosmos sind, der von den Gesetzen der Physik beherrscht wird. Dies wirkt sich sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Kultur aus. Denn dieser Physikalismus, der behauptet, alles sei materiell und von der Physik beherrscht, besteht letztlich darauf, dass die bedeutungsvollsten Aspekte des menschlichen Lebens in Wirklichkeit bedeutungslos sind.
»Jede kleine und große Entfaltung, von den Sternen bis zum Menschen, war eine ähnliche Überraschung.«
Genau hier setzt die neue Biologie an. Der theoretische Biologe Stuart Kaufmann beschreibt es so: »Die Emergenz von Leben eröffnet eine Welt jenseits der Physik. Es ist eine Welt jenseits der Physik, weil sie sich nicht aus der Physik ableiten lässt.« Anstatt das Leben auf Chemie und Physik zu reduzieren, gelangen Biologen mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass das Genom nicht die zentrale Erklärung ist, für die man es hielt. Ob Gene aktiviert oder deaktiviert werden, ist eine Reaktion – man könnte es sogar eine Entscheidung nennen –, die auf der zellulären Ebene eines Organismus getroffen wird. Auf jeder Ebene eines lebenden Systems besteht ein gewisses Handlungsspektrum und es zeigen sich Prozesse des Lernens. Und diese Agency oder Handlungsfähigkeit ist innovativ und kreativ, nicht mechanistisch. Vor allem aber ist sie intelligent und in der Lage, Probleme zu lösen. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen zudem auf, dass diese Fähigkeiten des Lernens, Auswählens und Innovierens bis hinunter in die »nur« chemischen Prozesse in Zellen reichen. Und sogar unterhalb der zellulären Ebene wirken kognitive Fähigkeiten, die wir salopp als »Denken« bezeichnen können. Das Universum, das wir bewohnen, ist kein gewaltiger Mechanismus physikalischer und chemischer Prozesse, sondern scheint von unten bis oben mit Lebensformen angefüllt zu sein, die uns ähnlich sind: zielorientierte, entscheidungsfähige und kreative Akteure.
Nehmen Sie den Unterschied wahr, den diese Erkenntnis auslöst. Spüren Sie sich einmal ganz bewusst in die traditionelle physikalische Sichtweise des Lebens ein. Vor diesem Hintergrund erscheinen Pflanzen und Tiere letztlich als Mechanismen, die von Genen gesteuert werden, die überleben und sich fortpflanzen wollen. Und der Mensch ist im Grunde dasselbe – ein Unfall in einem gleichgültigen Kosmos. Wir sind Anomalien in einer kalten und fremden Welt. Erspüren Sie dann, wie es ist, wenn wir uns als eine Form von kollektiver Intelligenz wahrnehmen, so wie alles, was wir als lebendig bezeichnen – Bäume, Bienen, Mäuse –, die bis hinunter zu den chemischen Prozessen in unseren Zellen eine Handlungsfähigkeit besitzt. In der gesamten Welt, die wir bewohnen, wimmelt es von Handlungsfähigkeit, genau wie in uns. Welche dieser beiden Vorstellungen fühlt sich mehr nach Heimat an?
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Unsere Gegenwart ist geprägt von Unsicherheit, großen politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen und der fortlaufenden ökologischen Krise. Mitten hinein in diese prekäre Zeit werden in der Biologie überraschende und revolutionäre Erkenntnisse über das Leben und die Lebewesen entdeckt. Es scheint alles ganz anders und viel wunderbarer zu sein, als wir dachten. Können uns die Erkenntnisse der neuen Biologie helfen, tieferes Vertrauen zu finden?
Die Bäume tanzen in zartem Grün: Der Frühling ist wieder da und der Kreislauf des Lebens zieht seine Bahnen. Im treuen Lauf der Natur erneuert sich das Leben und strotzt nur so vor frischen Blättern und jungen Blüten, aus denen sich die Samen für den nächsten Lebenszyklus entwickeln. Dagegen wirken in den von Menschen gestalteten Bereichen von Politik und Gesellschaft Erneuerungsrituale wie etwa Wahlen oder öffentliche Debatten weitgehend abgenutzt. Die geopolitische Lage hat sich in den letzten Monaten abrupt verändert und neue Unsicherheiten hervorgebracht. Egal, ob dies nun längst überfällige Veränderungen und Umwälzungen mit sich bringt oder nicht: Die Annahmen, die wir wie selbstverständlich über den Verlauf unserer Leben hatten, geraten ins Wanken. Und: Vor dem Hintergrund äußerer Klimaereignisse wie Überschwemmungen oder Bränden und dem durch sie verursachten Chaos kann sich das innere »Klima« in uns ebenso chaotisch anfühlen. Existenzielle Unsicherheit ist schwer zu ertragen.
Seit einiger Zeit leben wir beide, die wir hier schreiben, mit einer akuten existenziellen Ungewissheit, seit bei Thomas vor über zwei Jahren ein Gehirntumor diagnostiziert wurde. Für Thomas ist das natürlich eine sehr persönliche Herausforderung – und doch auch viel größer. Er erlebt seine Krankheit als eine spirituelle Praxis mit weitreichenden Auswirkungen auf unser Zusammenleben in dieser Zeit. Und für Elizabeth ist es eine ständige Herausforderung, in Dankbarkeit für die Gegenwart präsent zu sein und sich dessen bewusst zu sein, dass es vielleicht das letzte Mal ist. Unter solchen Umständen ist die Tendenz, sich abzuschotten oder eine Vermeidungshaltung einzunehmen, stark – der menschliche Geist ist so geprägt. Und angesichts solcher Ungewissheit und Endgültigkeit ist es ein Leichtes, dem Leben selbst zu misstrauen.
»In der gesamten Welt, die wir bewohnen, wimmelt es von Handlungsfähigkeit, genau wie in uns.«
Um den Stürmen am Horizont zu trotzen, ist ein tiefes Vertrauen ins Leben die wichtigste Kraftquelle. Aber was bedeutet das eigentlich? Viele, die dies hören, ersetzen vielleicht das Wort »Leben« durch Gott oder den Schöpfer und sprechen damit das Leben in seinem umfassenden Sinn an. Andere setzen »Leben« möglicherweise mit einem Geheimnis gleich. Und dann stellt sich die Frage: Können wir alle in dieser Zeit der großen Ungewissheit auf die Intelligenz vertrauen, die uns bis hierher gebracht hat? Gibt es eine Intelligenz des Lebens, die vertrauenswürdig ist?
Trotz der philosophischen und sogar theologischen Implikationen dieser Frage haben wir uns auf der Suche nach Erkenntnissen an die Biologie gewandt. Zwar hat wohl jede und jeder von uns eine intuitive Vorstellung davon, was Leben ist, dennoch gibt es auf dem Gebiet der Biologie bemerkenswerterweise keine einheitliche Definition von Leben. Doch, so haben wir festgestellt, ereignet sich so etwas wie eine Revolution in der Biologie, die in den letzten Jahrzehnten merklich an Dynamik gewonnen hat. Die Erkenntnisse aus diesen neuen Entdeckungen offenbaren Prozesse, die die Entfaltung des Lebens in all seinen erstaunlichen Fähigkeiten gesteuert haben. Unsere Aufgabe als Menschen besteht darin, uns auf diese Prozesse einzustimmen und bewusst an ihnen mitzuwirken. Offensichtlich ist eine Intelligenz am Werk, die vertrauenswürdig ist.
Von der Chemie zur Handlungsfähigkeit
Was wir in der Schule über die Entfaltung des Kosmos von den Anfängen bis zur Gegenwart lernen, beschreibt eine reduktionistische Ödnis. Die Evolution, so wird uns beigebracht, ist zufällig. Nach einem anfänglichen Ereignis, vielleicht einem Urknall, nach Milliarden von Jahren mit Gasen und Staub bilden sich Sterne. Ohne ein steuerndes Prinzip wird unser Planet über Äonen hinweg in einem Prozess von Versuch und Irrtum zur Heimat mikroskopisch kleiner Lebewesen, die sich selbst replizieren, indem sie chemischen Anweisungen folgen, die von Genen generiert werden. Wiederum nach dem Zufallsprinzip gestalten sich die auf dem DNA-Molekül basierenden Gene immer komplexer und schaffen die Voraussetzung für die Entstehung immer komplexerer Organismen. Gene gelten als Blaupause des Lebens, ja sogar als Triebfeder für das Verhalten von Pflanzen, Tieren und Menschen. Und die Chemie ist – in Gestalt vorhersehbarer chemischer Reaktionen – die Grundlage dieses Lebens. Man könnte sagen, dass das Leben ein Epiphänomen der Chemie ist. Und dieses riesige Ereignis ohne Sinn und Zweck wird schließlich in einer entropischen Abwärtsspirale enden und erlöschen.
Dabei ist die Emergenz jeder neuen Phase der Evolution – von Sternen über Planeten und Zellen bis hin zu mehrzelligen Organismen – ein wahrhaft erstaunlicher Prozess. Aber in dem vorherrschenden wissenschaftlichen Narrativ wird betont, dass wir chemische Unfälle in einem riesigen toten Kosmos sind, der von den Gesetzen der Physik beherrscht wird. Dies wirkt sich sowohl auf den Einzelnen als auch auf die Kultur aus. Denn dieser Physikalismus, der behauptet, alles sei materiell und von der Physik beherrscht, besteht letztlich darauf, dass die bedeutungsvollsten Aspekte des menschlichen Lebens in Wirklichkeit bedeutungslos sind.
»Jede kleine und große Entfaltung, von den Sternen bis zum Menschen, war eine ähnliche Überraschung.«
Genau hier setzt die neue Biologie an. Der theoretische Biologe Stuart Kaufmann beschreibt es so: »Die Emergenz von Leben eröffnet eine Welt jenseits der Physik. Es ist eine Welt jenseits der Physik, weil sie sich nicht aus der Physik ableiten lässt.« Anstatt das Leben auf Chemie und Physik zu reduzieren, gelangen Biologen mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass das Genom nicht die zentrale Erklärung ist, für die man es hielt. Ob Gene aktiviert oder deaktiviert werden, ist eine Reaktion – man könnte es sogar eine Entscheidung nennen –, die auf der zellulären Ebene eines Organismus getroffen wird. Auf jeder Ebene eines lebenden Systems besteht ein gewisses Handlungsspektrum und es zeigen sich Prozesse des Lernens. Und diese Agency oder Handlungsfähigkeit ist innovativ und kreativ, nicht mechanistisch. Vor allem aber ist sie intelligent und in der Lage, Probleme zu lösen. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen zudem auf, dass diese Fähigkeiten des Lernens, Auswählens und Innovierens bis hinunter in die »nur« chemischen Prozesse in Zellen reichen. Und sogar unterhalb der zellulären Ebene wirken kognitive Fähigkeiten, die wir salopp als »Denken« bezeichnen können. Das Universum, das wir bewohnen, ist kein gewaltiger Mechanismus physikalischer und chemischer Prozesse, sondern scheint von unten bis oben mit Lebensformen angefüllt zu sein, die uns ähnlich sind: zielorientierte, entscheidungsfähige und kreative Akteure.
Nehmen Sie den Unterschied wahr, den diese Erkenntnis auslöst. Spüren Sie sich einmal ganz bewusst in die traditionelle physikalische Sichtweise des Lebens ein. Vor diesem Hintergrund erscheinen Pflanzen und Tiere letztlich als Mechanismen, die von Genen gesteuert werden, die überleben und sich fortpflanzen wollen. Und der Mensch ist im Grunde dasselbe – ein Unfall in einem gleichgültigen Kosmos. Wir sind Anomalien in einer kalten und fremden Welt. Erspüren Sie dann, wie es ist, wenn wir uns als eine Form von kollektiver Intelligenz wahrnehmen, so wie alles, was wir als lebendig bezeichnen – Bäume, Bienen, Mäuse –, die bis hinunter zu den chemischen Prozessen in unseren Zellen eine Handlungsfähigkeit besitzt. In der gesamten Welt, die wir bewohnen, wimmelt es von Handlungsfähigkeit, genau wie in uns. Welche dieser beiden Vorstellungen fühlt sich mehr nach Heimat an?
Über Xenobots und Anthrobots
Einige der provokantesten Forschungsarbeiten in der Biologie werden von Professor Michael Levin von der Tufts University in den USA durchgeführt (wir hatten das Glück, ihn für diese Ausgabe zu interviewen). Levin und seine Forschungsgruppe »züchten« neuartige, mikroskopische Lebensformen, um zu untersuchen, wozu diese fähig sind. Sie arbeiten mit so genannten Xenobots und Anthrobots. Xenobots sind winzige biologische Gebilde, die aus Froschstammzellen entstanden sind, während Anthrobots ähnliche Gebilde sind, die aus Epithelzellen im Rachen erwachsener Menschen hergestellt werden. Beide haben weder Gehirne noch Nervensysteme. Sie sehen zwar aus wie Teichschaum, sind aber genetisch betrachtet voll und ganz Frosch oder Mensch.
Diese winzigen Bots haben keine Geschichte. Sie waren nie den Zwängen des evolutionären Drucks über Millionen von Jahren hinweg unterworfen. Obwohl sie Zugang zum Genom komplexer Organismen haben, mussten sie nicht ums Überleben kämpfen oder sich an schwierige Umweltbedingungen anpassen. Beide Bot-Varianten sind mobil, schwimmen umher und erkunden ihre Umgebung. In Experimenten zeigen Xenobots die Fähigkeit, sich selbst zu reparieren und sogar zusammenzuarbeiten, um Material zu transportieren. Noch bemerkenswerter ist, dass sie andere Froschzellen, die sich zufällig in ihrer Laborumgebung befanden, zu Clustern zusammengefügt haben, um Nachbildungen von sich selbst zu bilden – eine einzigartige Form der Fortpflanzung.
Die Forschung mit Anthrobots ist noch neu, und doch bringt sie schon Überraschungen zutage, wie das folgende Beispiel zeigt: Anthrobots schwammen in einem Medium aus Neuronen, und diese Neuronen wurden von Forschern mit einer Nadel angekratzt. Als die Wissenschaftler vier Tage später nachsahen, waren die winzigen Bots dabei, diese Kratzer zu reparieren.
Niemand hatte sie das gelehrt. Sie erkannten, dass dies notwendig war, und reagierten darauf. Levin selbst sagt, dass alle Erwartungen, die sie in ihre Forschung gesetzt haben, stets übertroffen wurden: »Was immer man hineinsteckt, man bekommt mehr zurück.« Für Levin sagen die Fähigkeiten, die diese Bots offenbaren, etwas über die Muster der Intelligenz aus, die den verschiedenen Formen von Organismen zur Verfügung stehen. Bei den Bots könnte eine Empfindung für »Selbst«-Kohärenz eine kognitive Fähigkeit sein, die eine Selbstreparatur ermöglicht. Der Impuls, die Kratzer zu reparieren, deutet darauf hin, dass die Anthrobots eine Wahrnehmung von Ganzheitlichkeit haben. Und ihre Neigung, bei der Lösung von Problemen zusammenzuarbeiten, macht Kooperation zu einer grundlegenden kognitiven Fähigkeit. Levin stellt die Hypothese auf, dass diese Muster der Intelligenz nicht physischer Natur sind, sondern durch die gesamte Bandbreite der Formen, die das Leben ermöglicht hat, in die physische Welt eintreten – vom Teichschaum über Dschungelbiotope und Bergziegen bis hin zu menschlichen Kulturen.
Bislang zeigen diese neuen winzigen Lebenseinheiten, mit denen Levin und sein Team arbeiten, eine spontane Neigung zu Ganzheitlichkeit und Kooperation, die ihrer Lebendigkeit innewohnt. Aber das ist noch nicht alles, was uns die neue Biologie zeigt.
Überraschende Intelligenzen
Die Emergenz neuer, komplexerer Fähigkeiten und Potenziale aus einfacheren Bestandteilen verleiht der Evolution und den Lebensprozessen, die sie hervorgebracht hat, etwas fast Magisches. Wasser zum Beispiel ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Doch zu einer bestimmten Zeit in der Entstehung des Kosmos – und zwar über Milliarden von Jahren – gab es nur Gase, und die flüssige Substanz Wasser war ein Novum. Jede kleine und große Entfaltung, von den Sternen bis zum Menschen, war eine ähnliche Überraschung. Komplexes Leben existiert, weil sich früh in der Erdgeschichte, als sich die Atmosphäre bildete, die prokaryotischen Mikroben, die Sauerstoff als giftig empfanden, zu dem zusammenschlossen, was schließlich zu sauerstoffverwertenden eukaryotischen Zellen wurde. Dies schuf eine neue Form des Lebens.
Für Wissenschaftler und Neugierige stellt sich die Frage nach der Emergenz immer wieder: Woher kommen diese neuen Merkmale, die in der Regel gerade noch rechtzeitig entstehen, um das Leben fortzusetzen? Diese Frage wird allzu oft beiseite geschoben, man winkt ab und flüchtet sich in Verweise auf die natürliche Selektion. Die neuen Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass es sich nicht nur um einen zufälligen Prozess von unten nach oben handelt. Es gibt eine sogenannte downward causation (Abwärtskausalität): Ein übergeordnetes Ganzes scheint den Prozess zu steuern. So beginnt zum Beispiel das Leben jedes Embryos als zwei Zellen, die sich in einem regelmäßigen Rhythmus teilen. Jede neue Zelle differenziert sich aus und wird zu einer Herzzelle oder einer Augenzelle oder einer Ellbogensehnenzelle oder was auch immer. Woher kommen die Anweisungen für die Zellen? Das steht weder in den Zellen noch im Genom oder in der DNA eingeschrieben. Die Information, wie ein Organismus zu erschaffen ist, scheint im Kollektiv der Zellen enthalten zu sein. Irgendwie hat das Kollektiv in einem Raum, der nicht physisch ist, Zugang zu einer Intelligenz, die die Entfaltung des gesamten Organismus lenken kann.
»Der Dialog ist den grundlegendsten Ebenen des Lebens inhärent.«
Was für eine Erkenntnis: Biologen beginnen zu begreifen, dass die Muster, die die Bildung von Körpern und Geist steuern, nirgendwo physisch repräsentiert sind.
Erstaunlich ist auch, dass Zellen tatsächlich über bioelektrische Impulse miteinander kommunizieren. Dabei handelt es sich nicht nur um eine automatische Signalübertragung. Es scheint einen Austausch- und Entscheidungsprozess über Millionen von Situationen hinweg zu geben, in denen die Zellen reagieren müssen. Zellen sind keine kleinen Maschinen, sondern abwägende Akteure, die im Dialog miteinander kooperieren. Der Dialog ist den grundlegendsten Ebenen des Lebens inhärent.
Lektionen unter dem Mikroskop
Die Erkenntnisse der neuen Biologie öffnen uns den Blick für die Intelligenz und die Handlungsfähigkeit, die unter dem Mikroskop sichtbar werden und zugleich unseren Kosmos – und noch mehr – erfüllen. In diesem Universum können wir ein Zuhause finden. Denn uns als komplexen kollektiven Intelligenzen, die ein hohes Maß an Handlungsfähigkeit besitzen, ist das nicht fremd. Wesentlich daran ist, dass die Handlungsfähigkeit auf mikroskopischer Ebene zwar auch darauf ausgerichtet ist, das Individuum zu schützen, aber diese Fähigkeit von Natur aus kooperativ wirkt und auf das Ganze reagiert, zu dem die Zelle oder das System gehört. Wenn dieses lebensdienliche Zusammenwirken im menschlichen Körper aus der Balance gerät, spricht man von Krebs.
Was können wir sonst noch von Zellen lernen? In vielerlei Hinsicht scheint zu gelten: »Wie unten, so oben«. Mit anderen Worten: Wir komplexen kollektiven Intelligenzen sind wie die winzigen Zellen, aus denen wir bestehen. So wie sie sind auch wir Menschen empfänglich für das transzendente Ganze, das uns trägt. Vielleicht wird unser Hinauslehnen in die Ganzheit jenseits unserer Reichweite ein anderes Muster von Geist und Intelligenz offenbaren, das die Entwicklung neuer Formen kollektiven Lebens leiten kann. Und wie bei den Zellen müssen auch wir diesen nächsten Schritt gemeinsam unternehmen – indem wir im Dialog durch unsere tiefste Lebensenergie, die sich in unserer Gegenwärtigkeit zeigt, verbunden sind. Die Tatsache, dass die Zellen unseres Körpers dies bereits wissen, gründet uns zutiefst in einer unversehrten Einheit mit dem Leben, das wir sind.
Author:
Dr. Thomas Steininger
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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Bernd Rosslenbroich erforscht die Prozesse der Evolution und die Eigenschaften des Lebens. Er erklärt, dass wir über mechanistische Modelle von Ursache und Wirkung hinausgehen müssen, um das Lebendige zu verstehen. So eröffnet sich auch ein neuer Blick auf unsere Beziehung zu den umfassenden Prozessen der Natur.
Die Biologin Ursula Goodenough hat sich in ihren Forschungsprojekten intensiv mit der Frage beschäftigt, wie in der lebendigen Welt neue Fähigkeiten entstehen. Dieses Neuentstehen wird in der Biologie als Emergenz bezeichnet. Obwohl wir diese Prozesse erforschen können, bleibt es ein Geheimnis, was diese Emergenz bewirkt. Für Ursula Goodenough ist dieses Mysterium die Quelle einer religiösen Haltung, die sich »die Natur zu Herzen nimmt«.
Mit seinen bahnbrechenden Experimenten zur Kognition von Zellen sorgt Michael Levin für Aufsehen. Seiner Ansicht nach finden wir nicht nur bei Lebewesen eine Form von Intelligenz bis hinunter in einfache Lebensformen. Die vielfältigen Intelligenzen, wie er sie nennt, gehen über die Grenze zwischen Leben und toter Materie hinaus.