Geschwisterliche Lebendigkeit

Our Emotional Participation in the World
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Buch/Filmbesprechung
Published On:

July 15, 2024

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Ausgabe 43 / 2024
|
July 2024
Spirituelle Resilienz
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Andreas Weber hat letztes Jahr das Buch ­»Essbar sein« veröffentlicht. Es ist ein Buch, das uns in 15 Kapiteln mit uns selbst und unserem Welt-Sein konfrontiert. In Kapiteln wie »Haut«, ­»Erde«, »Atem« erfahren wir verschiedene Arten unseres Mit-Seins, in Kapiteln wie »Rio Gelato«, »Wörthersee« und »Die Eichen am ­River Dart« nimmt Andreas uns mit in seine einzigartigen, eigenen Erfahrungen des Uns-als-Welt-Erkennens. Wir lernen unsere Menschheits-Geschichte anders zu betrachten, das Gesicht als Portal zu verstehen, viel Biologie, eigentlich Bio-­Philosophie, Erdgeschichte, das Wood-Wide-Web. Immer mit Referenzen und Verweisen auf bereits Erforschtes, aufbauend auf Francisco Varela, Gilles ­Deleuze, Pierre-­Félix ­Guattari, Maurice Merleau-­Ponty, Bruno Latour. Sogar ­Karen Barad, die Schwerverständliche, wird hier klarer. Auch ­Rainer Maria Rilke oder Ursula Le Guin fehlen nicht, und so wird aus ­Poesie Kulturaktivismus, aus erlebten Geschichten ein doch auch sehr wissenschaftliches Buch am Rande unserer alltäglichen Erzählungen.

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Über das Buch »Essbar sein – Versuch einer biologischen Mystik« von Andreas Weber

Andreas Weber hat letztes Jahr das Buch ­»Essbar sein« veröffentlicht. Es ist ein Buch, das uns in 15 Kapiteln mit uns selbst und unserem Welt-Sein konfrontiert. In Kapiteln wie »Haut«, ­»Erde«, »Atem« erfahren wir verschiedene Arten unseres Mit-Seins, in Kapiteln wie »Rio Gelato«, »Wörthersee« und »Die Eichen am ­River Dart« nimmt Andreas uns mit in seine einzigartigen, eigenen Erfahrungen des Uns-als-Welt-Erkennens. Wir lernen unsere Menschheits-Geschichte anders zu betrachten, das Gesicht als Portal zu verstehen, viel Biologie, eigentlich Bio-­Philosophie, Erdgeschichte, das Wood-Wide-Web. Immer mit Referenzen und Verweisen auf bereits Erforschtes, aufbauend auf Francisco Varela, Gilles ­Deleuze, Pierre-­Félix ­Guattari, Maurice Merleau-­Ponty, Bruno Latour. Sogar ­Karen Barad, die Schwerverständliche, wird hier klarer. Auch ­Rainer Maria Rilke oder Ursula Le Guin fehlen nicht, und so wird aus ­Poesie Kulturaktivismus, aus erlebten Geschichten ein doch auch sehr wissenschaftliches Buch am Rande unserer alltäglichen Erzählungen.

Dabei ist »Essbar sein« ein anderes, ein ungewohntes Buch. Es saugt mich hinein, in die Seiten, die zwischen dem Umschlag ein eigenes Leben führen. Ich glaube, wenn es geschlossen ist, tanzen die Buchstaben miteinander, die Kapitel lesen sich gegenseitig und die Seiten reiben sich aneinander. Ich glaube, wenn ich es ein zweites und ein drittes Mal lese, werden andere Dinge darin stehen, je nach Jahreszeit vielleicht.

»Essbar sein« berührt; meine Finger die Seiten, die Worte das Herz, es duftet nach Wald, plätschert in meinen Ohren und ist eine Zeitreise. Es atmet mich hinein und hinaus, umarmt, verschenkt und gebiert und zeigt damit auf, dass das Außen gleichzeitig immer ein Innen wird und alles, was ist, eine Innerlichkeit und ein Fühlen gemein hat. Und das gar nicht mal in irgendeinem abstrakten, irgendwie abgehobenen Sinne, wie so manche philosophischen Schriften beschreiben. Nein, »Essbar sein« führt uns unsere ewige geschwisterliche Lebendigkeit auf eine Art und Weise vor Augen, Nase, Mund und Hände, Hirn und Herz und Eingeweide, dass wir wahrnehmen, erkennen und verstehen, wie Oberfläche zu Innenseite wird, dass Grenzen zum Öffnen da sind. Dass wir aus jenen Stoffen gemacht sind, aus denen auch alles andere gemacht ist, sich selber macht, und dass wir daher schon immer dazu und zueinander gehören.

Andreas Weber schreibt die Subjekt-Objekt-Dichotomie, das Leib-Seele-Problem, den Geist-Körper-Dualismus durcheinander und weht ihn Wort für Wort hinfort, in die staubigen Archive der kapitalistischen, egoistischen Institutionen – wo niemand mehr sterben, sondern ewig leben will und sich damit letztendlich dem Kreislauf entzieht, dem doch der Zauber der Lebendigkeit erst innewohnt.

Aus »Essbar sein« spricht das afrikanische »Ubuntu – ich bin, weil du bist«, spricht das Dao, das man nicht beschreiben kann, weil es sonst nicht mehr das Dao ist. Wir folgen den Worten, die auf dem Papier stehen, das aus Holz gemacht ist, das Baum war, der aus Erde gewachsen ist. Worten, die gedacht wurden von einem, der sie gefühlt hat, durch dessen Adern Blut fließt wie durch unsere. Wir folgen den Worten wie auf einem Möbiusband, und ehe wir uns versehen, befinden wir uns auf der anderen Seite, die doch die gleiche ist, von der aus wir losgegangen sind. In Wirklichkeit wurden wir schon gegessen. Alles, was uns ausmacht, wurde bereits mehrfach vereinnahmt, verarbeitet, verdaut, umgebaut und ausgeschieden, und doch sind wir jetzt hier und lesen. Wie kann das sein?

Es widerfährt einem eine Unmittelbarkeit beim Lesen, die die eigene Körperlichkeit so sehr ins Zentrum rückt, dass sie plötzlich als lebendige Materie »erkannt« wird. Und zwar von einem fühlenden Körper, der gerade noch ein Glas Wasser getrunken hat und auf eine seltsame Art und Weise »Ich« ist, von dem wir in dem Augenblick gar nicht mehr so richtig verstehen, was das eigentlich bedeuten soll. Einzig, dass es stimmig ist, wissen wir sehr genau. Und dass es nur durch die Vielheit im Werden der Welt entstanden sein kann – durch die Dus als Portal, durch das wir erst geworden sein können, während wir gleichzeitig ein solches sind, und anderem das Sein und Werden ermöglichen.

Während dieses leiblichen Verstehens des rhythmischen Werdens und Vergehens von Wesenheiten, von Steinen, Bäumen, Pilzen, Algen, Viren, Bakterien und Tieren, zu denen auch wir gehören, regt sich in mir Kapitel für Kapitel mehr eine Sehnsucht, oder besser: Ich er-innere mich an eine Sehn-Sucht, ein Begehren, das im Atmen, im Essen, im Berühren seinen Ausdruck findet. Und auch im Teilen, im Geben und in den vielen Weisen zu lieben, zu denen wir fähig sind. Ein Begehren der Wechselseitigkeit, des gemeinsamen Werdens.

»Ein Begehren der Wechselseitigkeit, des gemeinsamen Werdens.«

Es ist diese Sehnsucht und dies Begehren, die in »Essbar sein« den Beweg-Grund bereiten für das gemeinsame Werden. Die ersten Zellen sind Ableitungen der Vorgänge in Mineralien und Steinen, der Schmetterling eine Ableitung der Blüte. Die unzählbaren Wurzelspitzen der Baumwesen in der Erde voran drängend, suchend, aufnehmend, in ihrer Feinheit irgendwann ununterscheidbar vermischt mit den anderen Lebewesen im Boden, sich durchdringend, eins in der Vielheit. Sich bewegende Lebewesen sind Ableitungen von »fest« gewachsenen. Weil wir aus all dem geworden sind, weil wir es SIND, wissen wir um dessen innere Erfahrung, argumentiert Andreas Weber.

Das gemeinsame Werden ist ein sich Einverleiben und ein Ausdifferenzieren der innewohnenden Möglichkeiten, gleichzeitig Lebenslust und Glück. Innerlichkeit wird Äußerlichkeit und andersherum. Die zweite Schleife auf dem Möbiusband und wir steigen krächzend mit dem Krähenschwarm auf in den Nachthimmel und riechen die Berge, weil Mineral und Flechte an der Innenwand unserer Nasenschleimhäute Er-Innerungen in uns wachrufen, die wir sind.

Wir wissen es alles bereits, weil wir es sind – und haben es doch vergessen. Wir wissen um die Rhythmen, den Klang, die Schwingungen. Wir wissen um die Verschränkung, die Verwobenheit, die Gleichzeitigkeit, die allem innewohnende Intelligenz, Lebendigkeit und Bewusstheit. Weil wir Teil davon sind. Wir, mit unserem uns beeinflussenden Mikrobiom und dem Mineralkern in jedem unserer Blutkörperchen, sind der wandelnde Beweis dafür, dass Intelligenz, Lebendigkeit und Bewusstheit in allem ist, weil es alles mit sich und durch sich in Resonanzprozessen wurde.

Andreas Weber geht in »Essbar sein« so weit wie auch Nora Bateson, Tochter des Anthropologen und Kybernetikers Gregory Bateson, wenn sie sagt: »Perception is Action« – Wahrnehmung ist Handlung. Wahrnehmung ist Resonanzprozess, ist Teil eines wechselseitigen Veränderungsprozesses, Fühlen ist Teil von Materie, ist Kommunikation mit dem Potenzial der Welt um uns herum. Und indem die Welt uns fühlt, können wir unser Potenzial verwirklichen. Es gibt diese Trennung zwischen Ich und Welt nicht, es ist verschränktes Werden: Durch-Einander.

»Essbar sein« ist damit ein hochpolitisches, aktivistisches Buch. Andreas Weber kritisiert die westliche Sichtweise des Entweder/Oder, die Binarität des Gut/Böse, tot/lebendig, Sein/Nichtsein. Wenn wir uns entziehen wollen, dem Tod entrinnen, uns trennen von denen, die sterben, und unsere Welt »unsterblich« machen wollen, gestalten wir damit unsere eigene Ausgrenzung aus dem Leben. Wer nicht sterben kann, lebt nicht. Je mehr unsterbliche Materie wir erschaffen, desto mehr Leben zerstören wir. Am Ende werden wir allein sein, wenn wir nicht essbar bleiben und uns verschenken.

Das Buch gebiert mich, spuckt mich wieder aus als Teilnehmenden an einem sich selbst schaffenden, sich selbst wahrnehmenden Begehren. Ich habe Lust, da hinaus zu wandern, mich wahrnehmen zu lassen von der Maus, der Libelle, den Linden vor meiner Tür. Ich habe Lust, die Welt zu teilen mit den Wesen um mich herum, neu-gierig zu sein, mich rufen zu lassen. Und zu schauen, welche Resonanz diese Lebens-Lust auf die mich umgebenden Mitwesen hat.

Essbar sein
Versuch einer biologischen Mystik
von Andreas Weber. Erschienen im Drachen Verlag, Klein Jasedow 208 Seiten, 26,80 €

Author:
Kaa Faensen
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