Alles ist lebendige Verwandlung
Bruder Thomas Hesslers Weg zwischen Himmel und Erde
January 27, 2025
Bruder Thomas Hessler wuchs in einem kleinen Dorf im Osten Österreichs auf, zwischen Wien und Graz, dort, wo die Alpen beginnen und sich auf bis zu 2000 Meter erheben. Es war eine Dorfgemeinschaft von circa tausend Menschen, eingebettet in die Rhythmen von Kirche, Schule, Sport und Musik. Thomas’ Eltern waren gut integriert, und als eines von sechs Kindern spürte er die Geborgenheit dieser dörflichen Gemeinschaft – doch etwas fehlte. Anna, seine Schwester, starb noch vor der Geburt, ein Verlust, der die Familie prägte, aber nie ausgesprochen wurde. Der Arzt riet dazu, zu schweigen und zu vergessen, wie es damals üblich war. Für Thomas jedoch, nur zwei Jahre alt, als Anna starb, blieb das Ungesagte spürbar. »Schon als Kind entwickelte ich Ordnungsrituale, bemühte mich um Ausgeglichenheit in einer Welt, die mir unvollständig schien, ohne dass ich den Grund verstand«, sagt er bei unserem Gespräch.
Bruder Thomas Hessler wuchs in einem kleinen Dorf im Osten Österreichs auf, zwischen Wien und Graz, dort, wo die Alpen beginnen und sich auf bis zu 2000 Meter erheben. Es war eine Dorfgemeinschaft von circa tausend Menschen, eingebettet in die Rhythmen von Kirche, Schule, Sport und Musik. Thomas’ Eltern waren gut integriert, und als eines von sechs Kindern spürte er die Geborgenheit dieser dörflichen Gemeinschaft – doch etwas fehlte. Anna, seine Schwester, starb noch vor der Geburt, ein Verlust, der die Familie prägte, aber nie ausgesprochen wurde. Der Arzt riet dazu, zu schweigen und zu vergessen, wie es damals üblich war. Für Thomas jedoch, nur zwei Jahre alt, als Anna starb, blieb das Ungesagte spürbar. »Schon als Kind entwickelte ich Ordnungsrituale, bemühte mich um Ausgeglichenheit in einer Welt, die mir unvollständig schien, ohne dass ich den Grund verstand«, sagt er bei unserem Gespräch.
Die Kunst wurde früh zu einem Ventil für diesen unaussprechlichen Schmerz. Als die Mauer im Osten fiel, engagierte Thomas’ Mutter sich dabei, die Migranten beim Ankommen zu unterstützen. Ein polnischer Intellektueller, der ins Dorf gekommen war, erteilte dem zehnjährigen Thomas seinen ersten privaten Kunstunterricht. Schon zuvor hatte er viel gemalt und gezeichnet, sein Talent war den Lehrern aufgefallen. »Es war eine Möglichkeit, mich auszudrücken, Dinge ins Bild zu bringen, die sich mit Worten nicht beschreiben ließen«, sagt er.
Mit 14 Jahren verbrachte Thomas erstmals Zeit in einem Kloster. In der Nähe gab es ein Augustiner-Chorherrenkloster, in dem sein Großonkel Priester war, und Thomas verbrachte dort eine Jugendfreizeit. Eines Morgens, als er allein in der Kirche saß, erlebte er das Morgenlicht, das durch die hellen Fenster der Barockkirche fiel, und roch den Duft alter Kirchenbänke. Plötzlich wusste er: »Jetzt bin ich angekommen.« Ein Samen wurde in Thomas gelegt, der Jahre später keimen sollte.
Mit 18 Jahren kam Thomas wieder zu diesem Kloster in der Nähe von Salzburg, aber dieses Mal erhielt er das Ordensgewand und wurde Mönch. Die nächsten drei Jahre studierte er Theologie in Salzburg. Ein Mitbruder nahm ihn regelmäßig zu einem Schwesternkloster in Mainz mit. Dort begegnete er auch Gertrude Simon-Rieser, einer Heilpraktikerin, die die Schwestern behandelte und die für ihn eine wichtige Inspiration wurde.
Immer wieder in diesen drei Jahren verliebte er sich, und spürte, dass seine Homosexualität – mit vier oder fünf Jahren hatte Thomas sich schon in einen Skilehrer verliebt – und das klösterliche Leben nicht zusammenpassten. Er konnte über Sexualität nicht offen reden. Langsam erkannte er, dass er etwas ändern musste. »Ich wollte dortbleiben, aber das ging einfach nicht«, sagt er. Mit 21 verließ er das Kloster, eine schmerzvolle, aber befreiende Entscheidung. Seine Familie, die miterlebt hatte, dass er im Kloster unglücklich war, verstand ihn und gab ihm den Raum, für sich zu entscheiden und selbstverantwortlich zu leben.
Thomas hörte, dass die Heilpraktikerin in Mainz einen Lehrling suchte, und machte sich auf den Weg zu ihr. Er schloss noch sein Theologie-Studium ab und begann gleichzeitig eine Ausbildung zum Heilpraktiker. Die Arbeit mit Heilkräutern, Massage und Ernährung führte ihn zu einer neuen Balance zwischen Theorie und Praxis, zwischen Kopf und Hand. »Ich freute mich«, so sagt er, »in engen Kontakt mit dem zu kommen, was die Erde schenkt. Ich lernte viel über die Pflanzen in der Umgebung, zum Beispiel wie man eine Rheumatinktur aus Farnen herstellt.« Nach eineinhalb Jahren erlitt die Heilpraktikerin Gertrude Simon-Rieser einen Herzinfarkt, und Thomas unterstützte ihre Pflege. »Es war gut für mich«, reflektiert er, »die Zerbrechlichkeit des Menschen kennenzulernen.« Zwei Jahre später starb seine Mentorin, und diese Begegnung mit der Endlichkeit des Lebens war ein weiterer Wendepunkt in seiner Entwicklung.
Zu dieser Zeit war Thomas nach Österreich zurückgekehrt, um mit einer Gruppe junger Menschen ein Europakloster zu gründen. Sie wollten ein europäisches Einkehrzentrum schaffen, inspiriert von der Benediktiner-Tradition. Nach langer Suche in Ostdeutschland boten Franziskanerschwestern aus Bayern ihr ehemaliges Kinderheimgebäude als Geschenk an, und die Gruppe von vier Menschen übernahm den Ort. Thomas, inzwischen 25, trat als Benediktinermönch ein. Diesmal war es anders. Der Fokus lag auf Stille, Einkehr und Heilung. Obwohl es herausfordernd war, so aufeinander angewiesen zu sein (ein Mitbruder verließ das Kloster schon nach sechs Monaten), bauten sie gemeinsam ein Gesundheitszentrum auf, das ambulante Physio- und Psychotherapie anbot.
Das Gefühl des Angekommenseins, das Thomas schon mit 14 Jahren im Kloster erlebte, zieht sich als roter Faden durch sein Leben, durch alle Erschütterungen der Liebe, des Todes, dem Austreten aus dem Kloster und dem Wiedereintritt.
Ein besonders kritischer Punkt kam, als Thomas 41 Jahre alt war. Eine Beziehung brachte ihn an die Grenzen seiner eigenen Ohnmacht und Vergänglichkeit. Diese Erfahrung wurde zum Katalysator: »Ich schaute die Beziehung in der Seelsorge an, machte Aufstellungsarbeit und verstand, dass für mich Sexualität damit verbunden war, mich mächtig zu fühlen.« Er entschied sich bewusst, ganz in seine Berufung als Mönch einzutauchen und sich seiner Endlichkeit zu stellen.
Sein Vorsatz blieb lebendig bis heute. Im Laufe der Jahre starben seine Eltern, Onkel, Tanten, einige Freunde. Viele von ihnen begleitete er. »Der Tod hat einen Platz im Leben«, betont er. »Alles fließt weiter. Nichts bricht ab, alles ist lebendige Verwandlung.« Thomas findet Frieden in der Erkenntnis, dass der Tod ein Teil des Lebens ist. Die Präsenz derer, die gegangen sind, bleibt für ihn spürbar: »Man kann zwar nicht mehr mit ihnen sprechen, aber ihre Gegenwart ist spürbar.«
»Wie wird Spiritualität offenbar und bleibt doch ein Geheimnis?«
Heute leben acht Mönche im Europakloster. Es besteht aus fünf großen Häusern: dem Kloster, einem Gästehaus mit Gesundheitszentrum, einem Wohnhaus für Ehrenamtliche und Mitarbeiterinnen (davon gibt es über 40), einem Vertriebsbüro (die Gemeinschaft stellt 250 Produkte her und lebt dadurch von dem, was die Erde schenkt) und einer Kunstwerkstatt mit Goldschmiede. Gemeinsam mit Mitarbeitenden produzieren die Mönche Heilmittel aus Wildkräutern, bieten Retreats an und gestalten eine Gemeinschaft, in der Spiritualität und Kunst Hand in Hand gehen. Die Kunst blieb für Thomas stets ein zentraler Weg, um Spiritualität erfahrbar zu machen. Dabei fragt er sich: »Wie kann Spiritualität spürbar in einem Raum werden?« und »Wie wird sie offenbar und bleibt doch ein Geheimnis?« Seine Arbeit mit Holz, Glas und Malerei spiegelt den Wunsch wider, das Unfassbare sichtbar zu machen.
Spiritualität bedeutet für Thomas, lebendig zu sein. In der Stille, im Tanz, im kreativen Schaffen, im Gebet und in der Begegnung mit anderen spürt er diese Lebendigkeit. Es ist das Vertrauen darauf, getragen zu sein, eingebunden in das Leben selbst. Diese Rückbindung an das Göttliche ist für ihn die Quelle seiner Kraft, der Grund, warum er kreativ, liebevoll und engagiert leben kann.
Heute begleitet Thomas Menschen durch Heilfastenkurse, Meditation und stille Einkehr. Jedes Jahr im November und März leitet er Fastenwochen, in denen Menschen die Gelegenheit bekommen, loszulassen, leer zu werden und das Wesentliche wiederzuentdecken. Bruder Thomas lebt im Einklang mit der Natur und der Erde und ist davon überzeugt, dass wir lernen müssen, gewaltfrei und gemeinschaftlich zu leben. »Ein besseres Leben beginnt dort«, so erklärt er, »wo Menschen auf Augenhöhe miteinander umgehen, Geschwisterlichkeit praktizieren und global denken, während sie lokal handeln.«
Thomas ist angekommen in seinem Leben als Mönch. Er lebt die Balance zwischen Spiritualität, Kunst und Gemeinschaft, zwischen der Stille der Klostermauern und der Welt, die er durch seine Arbeit berührt. Es ist ein Leben, das von tiefer Zugehörigkeit geprägt ist, von der Gewissheit, dass alles fließt und nichts verloren geht. In der Verbindung von Himmel und Erde, von Materiellem und Geistigem hat er seinen Platz gefunden. Mit 56 Jahren ist er vor Kurzem zum Prior des Europaklosters ernannt worden. In seinem letzten Satz unseres Gespräches liegt die Ruhe und Gewissheit eines Mannes, der durch viele Wandlungen gegangen und seinem Weg treu geblieben ist: »Ich bin ganz glücklich als Mönch«, sagt er und lächelt.