Kosmische Verbundenheit
Rudolf Steiner zum 100. Todestag
Rudolf Steiner zum 100. Todestag
Der bekannte Philosoph Charles Taylor hat vor einiger Zeit in der Wochenzeitung »Die Zeit« gesagt: »Kosmische Verbundenheit ist eine Quelle von Kraft und Sinn, aus der sich das moderne Selbst nähren kann« – eine für viele »Zeit«-Leser:innen vermutlich eher ungewohnte Aussage. Denn was kann »kosmische Verbundenheit« im naturwissenschaftlichen Zeitalter bedeuten, wenn unter Kosmos heute mehrheitlich ein endloser Raum verstanden wird, in dem wir Menschen zufällig entstanden sind und in dem wir uns einsam und verloren fühlen müssen? Aber vielleicht ist ja gerade deshalb die Sehnsucht nach Verbundenheit so groß?
Die Aussage Taylors ist verwandt mit einer inhaltlich ähnlichen Aussage, die von Rudolf Steiner stammt. Der Gründer der Anthroposophie, an dessen 100. Todestag am 30. März derzeit erinnert wird, formulierte damals sein Anliegen so: »Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.« Auch hier geht es offensichtlich um die Verbundenheit von Mensch und Kosmos, im weiteren Sinne auch um die Beziehung zur Natur. Welchen Weg sah Steiner zu diesem Ziel?
Rudolf Steiner zum 100. Todestag
Der bekannte Philosoph Charles Taylor hat vor einiger Zeit in der Wochenzeitung »Die Zeit« gesagt: »Kosmische Verbundenheit ist eine Quelle von Kraft und Sinn, aus der sich das moderne Selbst nähren kann« – eine für viele »Zeit«-Leser:innen vermutlich eher ungewohnte Aussage. Denn was kann »kosmische Verbundenheit« im naturwissenschaftlichen Zeitalter bedeuten, wenn unter Kosmos heute mehrheitlich ein endloser Raum verstanden wird, in dem wir Menschen zufällig entstanden sind und in dem wir uns einsam und verloren fühlen müssen? Aber vielleicht ist ja gerade deshalb die Sehnsucht nach Verbundenheit so groß?
Die Aussage Taylors ist verwandt mit einer inhaltlich ähnlichen Aussage, die von Rudolf Steiner stammt. Der Gründer der Anthroposophie, an dessen 100. Todestag am 30. März derzeit erinnert wird, formulierte damals sein Anliegen so: »Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.« Auch hier geht es offensichtlich um die Verbundenheit von Mensch und Kosmos, im weiteren Sinne auch um die Beziehung zur Natur. Welchen Weg sah Steiner zu diesem Ziel?
Für ihn begann – vielleicht überraschend – die Möglichkeit der Verbindung bereits mit der bewussten Betätigung des Denkens. Ausgerechnet mit jenem Element also, das viele für die Trennung von der Welt verantwortlich machen. Dieser Ausgangspunkt im Denken unterscheidet die Anthroposophie von mehr gefühlsmäßig ausgerichteten spirituellen Ansätzen und auch von der Fokussierung auf die Leere, wo das Denken als störendes Element gesehen wird. Aber Steiner geht es auch nicht um Verbindung durch »Nachdenken« oder durch kluges gedankliches Kombinieren. Er schlägt vielmehr eine Brücke zur Philosophie, also der »Liebe zur Weisheit«, die von jeher eine Quelle der Verbundenheit darstellte. Durch Philosophie gelangte er selbst bei der Erfahrung an, dass wir als Menschen im aktiven Denken zu dem »all-einen Wesen, das alles durchdringt« werden können. Er hatte dabei ein tieferes Verständnis von »Denken«, das (auch) mit Goethe zusammenhängt, speziell mit dessen Pflanzen- und Metamorphosenlehre: Als wirklich Erkennende können wir nämlich die Idee als etwas erleben, das keine Abstraktion der realen Pflanze darstellt, sondern was in uns dasselbe ist wie das, was außerhalb von uns die Pflanze real und lebendig bewegt. Indem sich die Natur gewissermaßen im Menschen »ausspricht«, ist eine Brücke zwischen Innen und Außen geschlagen.
»Im aktiven Denken können wir zu dem ›all-einen Wesen, das alles durchdringt‹ werden.«
Wesentlich ergänzt hat Steiner seine Philosophie durch Anregungen zur meditativen und spirituellen Praxis. Sie sollen dabei helfen, die Hüllen des Egos allmählich abzustreifen und die Tore zur Innenseite der Dinge zu öffnen. Diese explizite Spiritualität Steiners, ausgelöst damals durch seine Berührung mit der aus Indien stammenden Theosophie, hat sein Werk allerdings auch vielfach mit esoterisch wirkenden Elementen überformt. Vieles davon wirkt heute auf Anhieb unverständlich, ja vor-modern. Der auf denkend-erkennende Nachvollziehbarkeit ausgerichtete Kern seiner Lehre muss hier oft erst wieder freigelegt werden. Ein Beispiel dazu liefert der Erziehungswissenschaftler Christian Rittelmeyer. Er stellt in einem Buch über Steiner die These auf, dass der anhaltende Erfolg der Anthroposophie durch ein Phänomen zu erklären ist, für das er den Begriff der »Subtexte« gefunden hat: Rittelmeyer ist nämlich überzeugt, dass sich unter der Oberfläche mancher schwer zugänglicher Inhalte bei Steiner Motive verbergen, die heute sogar noch aktueller sind als damals. Als ein Beispiel erläutert er Steiners – oft eher irritierende – Rede von den Naturgeistern und Elementarwesen. Steiner sieht diese Wesen als wirkende Kräfte in den Pflanzen am Werk. In einer Lilie etwa sei ein geistiges Wesen »wie verzaubert« und warte darauf, vom Menschen erkannt und erlöst zu werden: »Schaut doch nicht so abstrakt die Blumen an, sondern habt ein Herz, ein Gemüt für das, was geistig-seelisch in der Blume wohnt. Das will durch euch aus der Verzauberung erlöst werden … Das menschliche Dasein sollte eigentlich eine fortdauernde Erlösung sein verzauberter Elementargeister in den Mineralien, Pflanzen und Tieren.« Löst man eine solche Aussage aus der zunächst fremden Anmutung, die durch einen Begriff wie »Elementargeister« ausgelöst wird, und nimmt man die Aufforderung zu einer tieferen Verbindung mit der Geist-Seite der Natur ernst, dann gelangt man in einen Bereich, den wir heute als »Tiefenökologie« bezeichnen würden. Dieser Ansatz überwindet die rationale Distanz in Richtung einer Empathie für die Natur.
In einem ähnlichen Sinne haben auch viele andere Inhalte Steiners aktualisierbare »Subtexte«, und das gilt nicht nur für die anthroposophischen Lebensfelder wie die Waldorfpädagogik oder die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die durch ihre praktischen Erfolge gesellschaftlich präsent sind. Auch seine Darstellungen zum Leben nach dem Tod oder die Idee der – individualistisch und modern verstandenen – Wiederverkörperung bergen Potenziale, die sich denkend erschließen lassen und Sinn in unser Leben bringen können. So gesehen gilt es mit Steiner einen oft noch übersehenen Klassiker an der Schnittstelle von Philosophie und Spiritualität neu zu entdecken.