Ernste Spiele

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Essay
Published On:

April 30, 2024

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Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Rituelle Prozesse in Aufstellungen und Performance-Kunst

In einer Zeit, in der Rituale im größeren kulturellen Kontext zumindest im Westen kaum eine Rolle spielen, gibt es doch Bereiche, in denen sie weithin lebendig sind, darunter sind Aufstellungsarbeit und Performance-Kunst zwei interessante Phänomene. Was sagen sie uns über die Bedeutung ritueller Prozesse in unserer krisengeschüttelten Welt?

Umfassende gemeinschaftliche rituelle Prozesse als Räume der Begegnung mit dem Heiligen, dem Numinosen, dem Wesentlichen, dem Unverfügbaren des Lebens scheinen in unserer Gesellschaft in den Hintergrund gerückt. Gottesdienste erreichen nur noch eine Minderheit, und im weiten Feld neuer Spiritualität gelten gemeinschaftliche Rituale häufig als veraltet. Aber sind kollektive Rituale wirklich verschwunden? Natürlich haben Konzerte, Dance Partys oder gar Fußballstadien das Bedürfnis des Menschen, sich mit anderen in etwas für sie Wichtigem zu verbinden, aufgegriffen. Aber es gibt auch andere Bereiche, in denen rituelle Dynamiken wirken, die näher an dem eigentlichen Grundanliegen von Ritualen rühren, uns mit etwas Größeren zu verbinden und uns daraus verwandeln zu lassen. Verbinden und verwandeln – ­diese Grundstruktur zeigt sich beispielhaft in der Kunst, insbesondere der Performancekunst, und der Aufstellungsarbeit. Wie zeigt sich darin die Signatur der Rituale und was können wir daraus für die Gestaltung zeitgemäßer Rituale lernen?

Stellvertretende Wahrnehmung

Bert Hellinger hat in den 1990er-Jahren aus Ansätzen der Familientherapie die Familienaufstellung entwickelt. Wahrscheinlich flossen darin auch Erfahrungen als langjähriger Missionar in Südafrika ein, wo er die Stammeskultur der Ahnenverehrung erlebte. In Familienaufstellungen stellt die Klientin Menschen als Stellvertreter für Familienmitglieder auf. In einem mysteriösen Phänomen, das als stellvertretende Wahrnehmung bezeichnet wird, haben diese Vertreter Zugang zu Gefühlen und Bildern, die offensichtlich nicht von ihnen stammen, sondern aus dem aufgestellten System und demjenigen, für den sie stehen. Der Prozess der Aufstellung besteht darin, dass die Aufstellerin einen Prozess anleitet, in dem etwas, das im System nicht gesehen wurde oder nicht einer »heiligen Ordnung« (Hellinger sprach von »Ordnungen der Liebe«) entspricht, gelöst wird. Am Ende steht ein lösendes Bild in der Aufstellung, das manchmal auch durch eine rituelle Handlung verstärkt wird. Kinder, die etwas, das sie vom Schicksal der Eltern getragen haben, loslassen, können das symbolisch verstärken, indem sie in der Aufstellung den Stellvertretern der Eltern einen Stein überreichen. Seit den Anfängen dieser Form von Familienaufstellungen haben sie sich im deutschsprachigen Raum und weltweit verbreitet. Aufstellungen werden mittlerweile auch verwendet, um Teams, Unternehmen, Krankheits­symptome und gar gesellschaftliche Konflikte aufzustellen.

Vielleicht liegt die ungebrochene Popularität dieser gemeinschaftlichen Therapieform trotz der Kritik an ihrer geheimnisvollen Wirkungsweise darin, dass hier rituelle Prozesse zum Tragen kommen. Stephan Hausner, ein weltweit lehrender Aufsteller, sieht den gemeinschaftlichen Prozess, den Aufstellungen ermöglichen, durchaus mit einem Ritual vergleichbar. Denn obwohl jede Aufstellung das Anliegen einer Klientin bewegt, bildet die Gemeinschaft, die sich an einem Aufstellungsseminar begleitet, ein soziales Feld, das Impulse aus dem System der Klientin ausdrücken und in Verwandlung führen kann. Im Laufe eines Aufstellungsseminars sind meist alle sowohl als Klient als auch als Stellvertreter anwesend. Dieses soziale Feld ermöglicht lösende Bewegungen im System, die in einem individuellen Therapiekontext so nicht möglich wären. Zudem setzen Aufstellungen starke psychische Energien frei, weil scheinbar oft ungesehene Aspekte eines Systems – ein Suizid, ein Missbrauch, traumatische Erfahrungen der Ahnen – gefühlt werden, was manchmal wie eine Katharsis erlebt wird. Und wenn das lösende Bild möglich ist, wird das oft als eine heilsame oder gar heilige Präsenz oder Energie wahrgenommen. Der gemeinschaftliche Rahmen, in den die Aufstellung meist eingebunden ist, ermöglicht zudem eine Integration des Erlebten.

Dienst an der Verbundenheit

In diesem Prozess scheinen Resonanzen zu rituellen Prozessen zu wirken. Einige Aufsteller haben diesen Pfad vertieft. So lernte der Holländer Daan van Kampenhout nach langjährigen Erfahrungen im Schamanismus die Aufstellungsarbeit kennen. Aus dieser Verbindung hat er eine systemische Ritualarbeit entwickelt, bei der die Aufstellung durch schamanisches Trommeln und Gesang begleitet wird. Die Kanadierin Francesca Mason Boring mit indigenen Wurzeln im Volk der Shoshonen erforscht eine ähnliche Verbindung. Für sie sind Aufstellungen keine Therapie, sondern »einer der schönsten Wege der Heilung, die man gehen kann. Diese Arbeit ist für mich eine Erweiterung der Zeremonie, ein Weg der indigenen Heilung«.

»In Aufstellungen wird spürbar, dass sozialen Systemen eine eigene Intelligenz innewohnt.«

Die heilsame und heilige Bewegung kommt für Stephan Hausner aus einer Öffnung für einen größeren Raum der Verbundenheit. »Man lernt eigentlich in jeder Aufstellung das Gleiche: Man ist entweder mit mehr verbunden, als man bisher dachte, oder man ist auf einer tieferen Weise verbunden. Und Verstrickung kann sich lösen, wenn es einen im System gibt, der die Freiheit und den Mut hat, sein Herz zu öffnen und in diese Verbundenheit einzutreten.« Aufstellungen sind für ihn »ein Dienst an der Verbundenheit“. Und hier sieht er die Resonanz zu Ritualen, in denen ebenfalls Verbundenheit bestätigt, bekräftigt oder erlernt wird. »Bei der Visionssuche«, so Hausner, „setzt man sich einem Prozess aus, um mit dem eigenen Leben, aber auch mit dem Kosmos tiefer verbunden zu sein.« Eine weitere Parallele sieht er in der stellvertretenden Wahrnehmung und der damit einhergehenden Repräsentanz von Menschen oder Aspekten eines Systems. »Auch im Ritual übernehmen Personen oder Elemente eine Repräsentanz und der Priester oder Schamane stellt sich in den Dienst der Anbindung zum Göttlichen oder größeren Ganzen. In gewissem Sinne könnte man das auch als eine Form von Aufstellung sehen und die Aufstellung als ein Ritual.«

Das Unsichtbare sichtbar machen

Eine solche »Sichtbarmachung durch Repräsentation« oder »Verwirklichung durch Darstellung«, die der Kulturhistoriker Johan Huizinga in seinem einflussreichen Buch »Homo Ludens« beschreibt, wird auch in der Kunst erforscht. Fast schon ikonisch ist eine Performance von Marina Abramović, die als eine der einflussreichsten Performancekünstlerinnen gilt. Bei ihrer Aktion »The Artist is Present« saß sie 90 Tage lang jeden Tag acht Stunden ohne Unterbrechung in einem offenen Raum im MoMa in New York. Menschen konnten sich je einzeln ihr gegenübersetzen und einen stillen Moment der Präsenz mit ihr teilen. Für die Besucher war diese Begegnung eine berührende, erschütternde, verwandelnde Erfahrung, wie viele von ihnen berichten. Und wenn man die Aufnahmen sieht, bemerkt man, wie sehr die Menschen bewegt sind. Aber die Erfahrung jedes Einzelnen ist aufgehoben im größeren Prozess der Performance. Menschen mussten lange warten, bis sie Abramović gegenübersaßen. Dabei beobachteten sie die Begegnungsmomente der anderen, und jede dieser Präsenzerfahrungen geschah im Beisein der Wartenden. Man könnte sagen, dass Abramović hier eine rituelle Dramaturgie von Vorbereitung, Schwellenmoment und Rückkehr ermöglichte.

Auch in neuen Formen des Theaters werden rituelle Dynamiken aufgenommen. Im antiken Griechenland waren theatrale Inszenierungen kollektive Wandlungsmomente, die grundlegende Lebenserfahrungen in ihrer Tiefe zugänglich machten, indem sie im Spiel in Szene gesetzt wurden. Im 20. Jahrhundert hat Peter Brooks rituelle Elemente im Theater wieder bewusst gemacht und spricht von einem »heiligen Theater«, in dem das Unsichtbare sichtbar wird. Dabei war er beeinflusst von dem polnischen Theaterregisseur Jerzy Grotowski und dessen »armem Theater«, das die Präsenz der Schauspieler ins Zentrum stellt. Brooks schreibt dazu: »Der Priester führt das Ritual für sich selbst und im Namen anderer für andere aus. ­Grotowskis Schauspieler bieten ihre Darbietung als Zeremonie für diejenigen an, die daran teilhaben wollen: Der Schauspieler beschwört, deckt auf, was in jedem Menschen steckt – und was das tägliche Leben verdeckt. Dieses Theater ist heilig, weil sein Zweck heilig ist; es hat einen klar definierten Platz in der Gemeinschaft und antwortet auf ein Bedürfnis, das die Kirchen nicht mehr erfüllen können.« Und Grotowski selbst schreibt über die Rolle des Schauspielenden: Er/sie »gibt sich selbst als absolutes Geschenk hin. Dies ist eine Technik der ›Trance‹ und der Einbeziehung aller psychischen und körperlichen Kräfte des Schauspielers, die aus den intimsten Schichten seines Seins und seiner Instinkte hervorgehen und in einer Art ›Durchstrahlen‹ hervorsprudeln.«

Es ist doch nur ein Spiel

Die dänische Künstlerin Sara Topsøe-­Jensen sieht sich in dieser Tradition. Für sie ist »das Gute am Theater, dass man sagen kann: ›Lasst uns so tun, als ob wir spielen würden.‹ Man kann sagen: ›Lasst uns so tun, als wären wir das Universum.‹ Es erlaubt uns, sehr nahe an etwas heranzukommen, was sonst zu überwältigend oder zu gefährlich wäre. Das Theater ist also der Ort, an dem wir Grenzen und schwierigere oder gefährlichere Bereiche der Existenz erkunden können.« So wie Rituale einen Raum für existenzielle Erfahrungen eröffnen, die den Einzelnen überfordern, können solche künstlerischen Prozesse ein Raum werden, in dem sie spielerisch getragen werden. Zu solchen existenziellen Erfahrungen, die das Ritual eröffnen, gehört auch die Verbindung zu etwas Heiligem. Topsøe-Jensen versucht ausdrücklich, in ihrer Arbeit diesen Raum zu eröffnen. »Wir tun alles, was wir können, um eine heilige Atmosphäre zu schaffen. Gleichzeitig ist es aber auch ›nur ein Spiel‹. Das Publikum entscheidet, wie ernst es die Sache nehmen will. Und die Aufgabe der Künstlerin ist, sie dort zu treffen.«

»Rituale können eine Art Landeplatz für die Weisheit werden.«

Die Fähigkeit künstlerischer Prozesse, solche rituellen Räume zu öffnen, hängt aber entscheidend von der Absicht und der Bewusstheit der Ausführenden ab. Joseph Beuys, dessen Aktionen wie »Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt« zu den Initialzündungen künstlerischer Rituale gehören, sah sich selbst als eine Art Schamane und wollte in seinen Werken einen Bezug zur Transzendenz eröffnen. Jerzy Grotowski lernte auf Reisen durch Indien, Mexiko und Haiti religiöse Zeremonien kennen. Peter Brooks war mit dem Mystiker Georges I. Gurdjieff verbunden, der mit dem Gurdjieff Movements eine sakrale Tanzform schuf. Marina Abramović durchlief selbst intensive schamanische Prozesse. Meredith Monk, die ebenfalls in Tanz und Theater rituelle Elemente einfließen lässt, ist praktizierende Buddhistin. ­Arawana Hayashi, die im »Social Presencing Theater« Aufstellungsarbeit mit Theater verbindet, ist buddhistische Lehrerin. Künstlerische Versuche rituelle Prozesse zu verkörpern, sind also keine Methode oder Technik, sondern werden bestimmt von der spirituellen Reife und Anbindung der Ausführenden. Ganz ähnlich hängt auch die Qualität von Aufstellungen von der Sensibilität und dem Bewusstsein der Aufstellerin ab.

Mittel zur Kommunikation

Sowohl Aufstellungen als auch Performancekunst scheinen das menschliche Bedürfnis nach gemeinschaftlichen rituellen Prozessen anzusprechen. Was können wir daraus für die Gestaltung zeitgemäßer Rituale lernen? Zunächst wohl die Einsicht, dass die Qualität und Tiefe eines Rituals von der Absicht und Bewusstheit der Ausführenden abhängt. Zudem wird klar, wie sehr es ein gemeinschaftliches Feld braucht, um Rituale zu ermöglichen. Vielleicht ist es eine der großen Möglichkeiten ritueller Prozesse, uns aus der Vereinzelung und Isolation zu führen, die das Leben in der westlichen Welt bestimmen, und in einen Raum der Verbundenheit zu finden. In einer Welt der lebensbedrohlichen Krisen brauchen wir vielleicht dringend soziale Räume, in denen Gefühle und Erlebnisse rituell bewegt werden können, die ein Einzelner gar nicht tragen kann. Die Konfrontation mit brutalen Kriegen, das Artensterben, der Klimakollaps – all das kann ein Einzelner gar nicht erfassen. Aber rituelle Prozesse können solche Emotionen ansprechen und zugänglich machen. Und gleichzeitig den Raum öffnen, um der Essenz, dem Heiligen zu begegnen, das sich wesentlich in der gespürten und erkannten Einbindung in ein umfassendes geistiges Ganzes zeigt.

»Das Spiel ist eine Kommunikationsform, weil wir uns darin neuen Möglichkeiten öffnen.«

In Aufstellungen wird spürbar, dass sozialen Systemen eine eigene Intelligenz und Weisheit innewohnt, die zu Inte­gration und Heilung strebt. In der Kunst erleben wir die Kraft des Spiels, Räume zu eröffnen, in denen sich tiefere Wahrheiten zeigen können. Vielleicht sind das auch Hinweise, wie wir in unserer Kultur und Zeitsituation zu neuen Ritualen finden oder alte Rituale neu beleben können. Zunächst das Vertrauen und die Wahrnehmung, dass dem Leben selbst eine Weisheit innewohnt, für die wir uns in Verbundenheit öffnen können. Rituale können dann eine Art Landeplatz für diese Weisheit werden. Ganz ähnlich wie indigene Kulturen Rituale als ein Kommunikationsmittel mit dem Land und einer geistigen Präsenz nutzen.

Zugleich kann uns der spielerische Zugang die Freiheit und Kreativität eröffnen, Menschen jenseits bestimmter religiöser Überzeugungen in rituelle Prozesse einzuladen. Das fordert uns auf, uns auf die wesentlichen Werte und Erfahrungen zu besinnen, die allen Menschen potenziell zugänglich sind. Aber auch das Spiel ist eine Kommunikationsform, weil wir uns darin neuen Möglichkeiten, Einsichten, Überraschungen, Imaginationen und Visionen einer besseren Zukunft öffnen. Dafür rituelle Prozesse zu schaffen oder wiederzubeleben, könnte uns wertvolle Antworten auf die Fragen unserer Zeit geben.

Author:
Mike Kauschke
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