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Die überraschende Aktualität der Malerin Hilma af Klint
Die kühnen Werke der schwedischen Malerin Hilma af Klint, die von 1862 bis 1944 lebte, werden seit einigen Jahren neu entdeckt und in großen Ausstellungen geehrt. Was macht diese abstrakten Werke so besonders und relevant für unsere Zeit? Eine ästhetische Spurensuche
Ihre Zukunft ist unsere Gegenwart.« So der letzte Satz im Katalog zur Ausstellung »Hilma af Klint und Wassily Kandinsky. Träume von der Zukunft«, zu sehen unlängst in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. In jenem Deutschland, dem die Schwedin und der Russe sich tief verbunden fühlten. Beide verfassten viele ihrer Schriften auf Deutsch, in der Hoffnung, hier mehr als anderswo auf offene Ohren und Augen zu stoßen. Während jedoch Kandinsky fast schon zu Lebzeiten als Ikone der Klassischen Moderne und bis vor Kurzem als »Erfinder« der abstrakten Malerei galt, hat Hilma af Klint, sehr lange eine Außenseiterin, erst durch diese Präsentation beider Werke auf Augenhöhe endgültig den ihr gebührenden Platz in der Geschichte moderner Kunst gefunden.
Aus lebensweltlicher Sicht zeigte sich in der Düsseldorfer Schau einmal mehr das »Phänomen af Klint« – die ganz eigene, selten durchdringende Wirkung ihres Werkes auf uns Heutige. Tatsächlich war vielen Menschen, die versunken vor diesen Bildern standen, buchstäblich anzusehen, wie die hier erlebbare imaginative Kraft die Schubladen im Kopf ausputzt, innerlich etwas in Bewegung setzt. Die Räume der Ausstellung schienen erfüllt von der geteilten Ahnung, dass sich hier ein höchst bedeutsames Wissen mitteilt – als offenbares Geheimnis.
Hilma af Klint, Notizbuchseiten aus »Blumen, Moose und Flechten«, 1919, Mischtechnik auf Papier, 20,5 × 16,5 cm
Wie kommt es, dass Hilma af Klints Malerei, entstanden vor gut hundert Jahren, gerade jetzt so anspricht? Was hat das mit unserer aktuellen Lage – mit nahenden ökologischen Abgründen, gesellschaftlichem Zerfall und rasant sich verbreitender KI – zu tun? Inwiefern wird dank dieser so lange verkannten Malerin die Hinwendung zur Abstraktion in der Klassischen Moderne weit über kunstgeschichtliche Kriterien hinaus neu als bewusstseinsgeschichtlicher Aufbruch erfassbar?
Die Menschheit in Erstaunen versetzen
In akademischer Malerei ausgebildet, warf af Klint bereits 1906, früher als Kandinsky, das konventionelle Regelwerk über Bord und schuf mit »Urchaos«, »Eros« oder »Der Schwan« ganze Serien ungegenständlicher Gemälde, die aus heutiger Sicht unfassbar kühn und modern anmuten. Nirgends sonst gab es damals eine solche Malerei, an keinem Ort der Avantgarden. Jahrzehntelang verschrieb af Klint sich einer Aufgabe, zu der »höhere Intelligenzen«, Wesen aus der geistigen Welt, sie immer neu inspirierten: Mit ihren Bildern schuf sie den Vorschein einer Kultur, die nicht mehr auf das Objekthafte, Zählbare, Verkaufbare fixiert sein würde und in der Kategorien wie Geschlecht und Klasse, Nationalismus und Kapitalismus oder auch die Trennung von Kunst und Leben ihre Macht verloren hätten. Überzeugt, dass die neuen Formen, die durch sie entstanden, ein ganzheitliches Denken in Bewegung setzen würden, suchte sie beharrlich – jenseits des Kunstmarkts – nach Wegen, ihre Bilder der Öffentlichkeit zu zeigen. Ohne Erfolg. Bis sie zu dem Schluss gelangte, ihrer Zeit zu weit voraus zu sein, und verfügte, ihr Werk dürfe erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod zugänglich gemacht werden.
»Es ist allerhöchste Zeit für eine entschlossene Umorientierung hin zur Innenseite der Welt.«
Der Durchbruch kam im 21. Jahrhundert: Unter dem Titel »Hilma af Klint: Paintings for the Future« widmete das Guggenheim New York 2018 sein gesamtes Gebäude einer Ausstellung, die mit mehr als 600.000 Besuchern alle Rekorde des Hauses brach. Hier geschah das, was af Klint ihren Bildern stets zugetraut hatte und was Julia Voss als Titel ihrer Biografie wählte: »Die Menschheit in Erstaunen versetzen«. Und ohne diesen Publikumserfolg wäre af Klint, so Voss, die internationale Anerkennung weiter versagt geblieben. Denn ihr Werk und mehr noch ihre Arbeitsweise schienen schlicht nicht kompatibel mit den Kriterien der Kunstkritik. Sie galt als esoterisch. Auch hielt man ihre Bilder schon deshalb für buchstäblich »wertlos«, weil sie nicht auf dem Kunstmarkt gehandelt wurden. Sie gehörten keinem Museum, keiner Galerie, keinem Sammler, sondern einer kleinen Privatstiftung – traten mithin völlig schutzlos in der machtförmigen, durchökonomisierten Kunstwelt an.
Heute hingegen veranlasst uns das Phänomen af Klint, umgekehrt die Geschichte der Abstraktion neu und kritisch in den Blick zu nehmen. Völlig offenkundig nun, wie diese Kunst in der Rezeption radikal um die Beiträge von Künstlerinnen bereinigt und in starre formalistische Raster gezwängt wurde. Gerade mit Letzterem habe die ungegenständliche Malerei, so die Kuratoren der Düsseldorfer Ausstellung, ihre »lebensweltlichen Bezüge« verloren. Was aber sind das für Bezüge? Dazu hebt die hier angestellte Betrachtung diese drei Kernaspekte hervor: Der Gang in die Abstraktion zu Beginn des letzten Jahrhunderts war eine ästhetische Revolte gegen die Verabsolutierung der Realität, wie die westlich geprägte Moderne sie propagiert. Abstrakte Malerei unterläuft den Sog der Linearität – sie inspiriert dazu, weniger auf die Zukunft hin als vielmehr von der Zukunft her zu gestalten. Hilma af Klint praktizierte, im Unterschied übrigens zu Kandinsky, ein bewusstes Dezentrieren des Ichs, woraus ein nicht mehr anthropozentrisches, sondern kosmozentrisches Weltwahrnehmen erwuchs.
Eine zivilisatorische Musterbrechung
Wie Kandinsky sah af Klint in der abstrakten Malerei keineswegs nur einen neuen Stil. Beide waren, zusammen mit zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern jener Zeit, die, oft völlig losgelöst voneinander, den Gang in die Abstraktion antraten, überzeugt, ein Erweitern der Wahrnehmung über die Grenzen des Sichtbaren hinaus könne die Menschen auf neue Bahnen lenken, die Erkenntnisfähigkeit wie auch das Gefühlsleben revolutionieren. Anstatt eine nur ästhetisch radikale Disruption zu sein, habe die ungegenständliche Malerei, so Kandinsky in seiner einflussreichen Schrift »Über das Geistige in der Kunst« (1911), das Potenzial, eine Zeitenwende einzuläuten – die »Epoche des großen Geistigen«. Aus der Gegenüberstellung von Kandinskys Werken mit denen af Klints rückt dieses Kernanliegen, nämlich eine radikale zivilisatorische Musterbrechung zu unterstützen, neu ins Zentrum.
Hilma af Klint, Urchaos, Nr. 16, Serie WU/Rose, Gruppe I, 1906-07, Öl auf Leinwand, 53 × 37 cm
Der vielleicht prägnanteste Ansatz, um die immer aktueller werdende Relevanz jener ästhetischen Revolution für die Lebenswelt zu erfassen, kommt aus der Quantenphysik, die, wohl nicht von ungefähr, etwa zeitgleich entstand. Es ist der Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit, wie Hans-Peter Dürr, Quantenphysiker und Philosoph, ihn herausarbeitete: Meist synonym zueinander verwendet, beinhalten diese Begriffe zwei grundverschiedene Weisen des Welterlebens. In »Realität« steckt das lateinische res, »Ding, Sache«. Realität bezeichnet mithin eine Sichtweise, die jedes Phänomen letztendlich für dinghaft hält – für etwas, das man abtrennen, sortieren, kategorisieren kann. Von da aus erscheint alles in der Welt handhabbar und machbar, vorausgesetzt, man verfügt über genügend Wissen, genügend Geld und entwickelte Technik. Die Wirklichkeit hingegen ist die darunter liegende energetische Sphäre – gemäß dem lateinischen energia, was »wirkende Kraft, Wirkkraft« bedeutet. Zentrales Merkmal der Wirklichkeit ist Dürr zufolge »Potenzialität«: ein noch nicht aufgebrochenes »Sowohl-als- auch«, aus dem sich die Realität mit ihren objekthaften, der Logik des »Entweder-oder« unterworfenen Erscheinungsformen ausprägt. Dürr stützt sich dabei auf den quantenphysikalischen Befund, wonach es in der feinsten Sphäre dessen, was ist, nur Beziehung gibt – ein Gewebe sich fortwährend entfaltender, bedeutungshafter, nicht determinierter Verbindungen. In anderen Worten: eine primäre, schöpferische Lebendigkeit.
Gegenständliche Malerei fokussiert, wie schon der Begriff anzeigt, auf eine Welt, in der die Phänomene gesondert voneinander in Erscheinung treten, während die abstrakte Formensprache etwas von dem Lebenszusammenhang, aus dem die Vielfalt der Phänomene entspringt, zur Darstellung bringen will. Mithin lässt der Gang in die Abstraktion jener historischen Avantgarde sich als Vorschein einer zivilisatorisch gebotenen Abkehr vom einseitigen Primat der Realität über die Wirklichkeit lesen. Und gegenwärtig laden offenbar gerade af Klints Bilder, die Jahrzehnte eingerollt auf einem Stockholmer Dachboden lagerten, bevor sie nun allerorts mit ihrer ästhetischen Kühnheit, ihrer imaginativen Kraft überraschen, besonders suggestiv zu einem dergestalt transformativen Weltwahrnehmen ein. Es ist, so scheinen diese Bilder zu rufen, allerhöchste Zeit für eine entschlossene Umorientierung hin zur Innenseite der Welt.
Von der Zukunft her gestalten
Von hier aus zeigt sich ein weiterer eminent lebensweltlicher Aspekt solcher Kunst: Indem sie die Ebene getrennt erscheinender Phänomene gleichsam durchschreitet, hin zur darunter liegenden Dimension der Wirklichkeit, entmachtet sie die absolute Vormacht logisch-kausaler, linearer Muster. Gibt es doch, etwa in Bezug auf die Zeit, nur auf der Außenseite der Welt – in der Realität – eine strikt lineare Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Weltinnenraum – der Wirklichkeit – hingegen waltet jenes, um bei Hans-Peter Dürrs Diktion zu bleiben, »Sowohl – als auch«, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Allgegenwart einbettet. Wo es mithin die Freiheit gibt, Orientierung nicht mehr nur aus logisch-kausalen Mustern der Vergangenheit und Gegenwart zu gewinnen, sondern genauso auch aus dem Potenzialraum, den wir Zukunft nennen. Ein ästhetisch verlebendigtes Wahrnehmen kann sich mit der »Werdekraft« der Welt, den »formenden Kräften« (Paul Klee) verbinden, woraus Raum für ein Emergieren wahrhaft neuartiger Muster entsteht. Etwas davon vermittelt die Zeitphilosophie in der Unterscheidung zwischen »Adventus« als unableitbare Herankunft eines Phänomens und »Futurum« als vorhersehbare, planbare Zukunft. Vielleicht wäre »Paintings from the Future« als Titel für jene große Guggenheim-Ausstellung in New York angemessener gewesen?
»Ein ästhetisch verlebendigtes Wahrnehmen kann sich mit der »Werdekraft« der Welt verbinden.«
Gerade angesichts rasant sich ausbreitender KI braucht es Kunst wie die Hilma af Klints als Vorschein und symbolisches Kapital der überfälligen Umorientierung weg von herkömmlichen, fragmentierenden Mustern hin zu einem Wahrnehmen, Denken und Gestalten, dessen Ursprung in der Zukunft liegt. Solch zutiefst schöpferische, lebensdienliche Alinearität, hervorgehend aus ästhetischem Wahrnehmen, dürfte einer der entscheidenden blinden Flecken von KI sein.
Das dezentrierte Ich
Hilma af Klint interessierte sich nicht für den Kunstmarkt, wo der Künstler als »ausgezeichnetes« Individuum gehandelt wird. Umso aufgeschlossener war sie dafür, wie die Wissenschaft ihrer Zeit lauter ungegenständliche Kräfte entdeckte: Röntgenstrahlen, Radioaktivität, das Telefon kam auf, auch die Quantenphysik wurde, wie bereits erwähnt, zu ihren Lebzeiten entdeckt. »Ich bin«, schrieb sie 1916, »ein Atom im Universum, das über unendliche Entwicklungsmöglichkeiten verfügt, die ich versuchen werde, nach und nach zu enthüllen.« Spirituell orientierte sie sich an der Theosophie und der Anthroposophie – damals so etwas wie »Befreiungsreligionen für Frauen« (Julia Voss). Während in Wissenschaft, Kunst und Religion Frauen systematisch abgewertet wurden, konnten sie sich hier angemessen einbringen.
1906 erteilte ein Wesen aus der geistigen Welt af Klint in einer Séance den Auftrag, eine künstlerische Botschaft für die Menschheit vorzubereiten. Das wurde zu ihrer Lebensaufgabe. Immer wieder in Serien entstand eine Bildwelt, die erkennbar werden lässt: Die Welt könnte ganz anders sein. Wenn dieses Werk wie ein lebendiges Wesen wirkt, dann vielleicht, weil es uns in Verbindung mit den Kräften, die mit af Klint arbeiteten, in das kollektive Innere der Welt hineinführen will.
Die Kommunikation mit »höheren Intelligenzen« war ihr Antrieb und Basis für etwas, das wir heute transsubjektives oder selbsttranszendierendes Wissen nennen können – erfahrbar als Wissensform, die durch uns, aber nicht von uns kommt. Entscheidend dabei: Diese »Dezentrierung des Ichs«, dieses Interagieren mit höheren Intelligenzen ist in keinster Weise manipulativ. Af Klint war ein unabhängiger, freiheitsliebender Mensch. Sie empfand stets die Wahl, dem Ruf der höheren Präsenz, die nicht sie war und zugleich ohne sie nicht wirken konnte, zu folgen oder nicht.
Fotografie von Hilma af Klint in ihrem Kunstatelier in Hamngatan in Stockholm
Aufschlussreich auch: Um auf diese Weise aus der Quelldimension heraus wirken zu können, suchte af Klint nach Möglichkeiten eines geteilten Dezentrierens ihres Ichs. In spirituellen Frauengruppen wie »Die Fünf« fand sie Raum für jenes vertiefte Spüren, jene »Gegenwartsfähigkeit«, kraft derer eine Zukunft, die darauf wartet, emergieren kann. Die Künstlerin signierte ihre Werke nicht.
Das Geistige – dem Leib der Erde eingeschrieben
Aus dem Bestreben, den tieferen evolutionären Bedürfnissen der Gesellschaft zu dienen, brachte af Klint ein ökozentrisches oder vielmehr kosmozentrisches Weltwahrnehmen zum Ausdruck: Genauso wie Wesen aus der geistigen Welt hatten für sie auch die anders-als-menschlichen Lebewesen etwas mitzuteilen. In Studien von Blumen, Moosen, Flechten suchte die Malerin Rat bei den Pflanzen. Gegen Ende ihres Lebens erklärte sie in einem Vortrag: »Jedes Mal, wenn es mir gelungen ist, eine von meinen Skizzen auszuführen, ist mein Verständnis von Mensch, Tier, Pflanze, Mineral, ja, von der Schöpfung im Allgemeinen, klarer geworden. Ich fühlte, dass ich befreit war und erhöht über mein begrenzteres Bewusstsein.« Immer wieder, wie in der frühen Serie »Urchaos«, malte sie spiralförmige Bewegungen – Zeichen fortwährender Entwicklung, Veränderung. Weil Atome und Elemente veränderlich sind und die Kunst sich mit der abstrakten Formensprache zur Innenseite der Welt hin stülpte, kann sich alles, mithin auch das Soziale, wandeln, verkehren, neu ins Fließen kommen.
»Das Geistige lässt sich nicht auf höhere Sphären oder exklusiv auf den Menschen beschränken.«
Erkenntnisse etwa der heutigen Evolutionsbiologie vorwegnehmend, veranschaulicht af Klints Werk: Das Geistige lässt sich nicht auf höhere Sphären oder exklusiv auf den Menschen beschränken, sondern es darf als Treiber der kosmischen und biotischen Evolution, letztendlich als Evolutionsprinzip verstanden werden. Es ist unserem Leib eingeschrieben. Wie den Leibern aller Lebewesen. Wie dem Leib der Erde. Weshalb alles Lebendige im Tiefsten in einer nonverbalen Kommunikation miteinander steht, gemeinsam unterwegs durch Raum und Zeit. Und weshalb ein bewusstes Rückverbinden mit dem präkulturellen, kosmischen, biotischen Wurzel- und Adergeflecht unser aller geteilten Seins aus ent-automatisiertem, resonanzfähigem (ästhetischem) Wahrnehmen erwächst. Wozu KI außerstande ist. Gerade jetzt, im Horizont der gegenwärtigen Polykrise, kann solche Kunst nähren und ermutigen.
Author:
Dr. Hildegard Kurt
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