Ehrfurcht vor dem Material

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Porträt
Published On:

January 27, 2025

Featuring:
Karen Müller
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Issue:
Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
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Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten der Künstlerin Karen Müller gestalten, die im Mai 2022 überraschend verstorben ist. Ingrid Gardill möchte in diesem Text die lebendige Prozesshaftigkeit der künstlerischen Arbeiten erfahrbar machen.

Als im Redaktionsbeirat das Thema für das vorliegende Heft entwickelt wurde, entstand die Idee, für dessen Ausgestaltung keramische Arbeiten zu wählen. Sofort dachte ich an Karen Müller, eine inzwischen vielbeachtete Künstlerin, in deren Werk meines Erachtens ein transformativer Übungsweg, so wie ihn diese Ausgabe vielfach erkundet, sinnlich-fassbare Gestalt angenommen hat.

Karen Müller und ihre sehr spezielle Arbeitsweise hat mich stark beeindruckt und fasziniert, als ich sie im Winter 2017 zusammen mit einer Freundin und Kollegin in ihrem Atelier in Elmau besuchte: strahlender Sonnenschein, tiefer weißer Schnee, blauer Himmel, der Wetterstein im Hintergrund und unweit vom Schloss das geduckte Hüttchen, in dem sie wohnte und arbeitete.

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Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten der Künstlerin Karen Müller gestalten, die im Mai 2022 überraschend verstorben ist. Ingrid Gardill möchte in diesem Text die lebendige Prozesshaftigkeit der künstlerischen Arbeiten erfahrbar machen.

Als im Redaktionsbeirat das Thema für das vorliegende Heft entwickelt wurde, entstand die Idee, für dessen Ausgestaltung keramische Arbeiten zu wählen. Sofort dachte ich an Karen Müller, eine inzwischen vielbeachtete Künstlerin, in deren Werk meines Erachtens ein transformativer Übungsweg, so wie ihn diese Ausgabe vielfach erkundet, sinnlich-fassbare Gestalt angenommen hat.

Karen Müller und ihre sehr spezielle Arbeitsweise hat mich stark beeindruckt und fasziniert, als ich sie im Winter 2017 zusammen mit einer Freundin und Kollegin in ihrem Atelier in Elmau besuchte: strahlender Sonnenschein, tiefer weißer Schnee, blauer Himmel, der Wetterstein im Hintergrund und unweit vom Schloss das geduckte Hüttchen, in dem sie wohnte und arbeitete.

Diese raue, atemberaubend schöne Natur und eine innere Stärke mit enormem Durchhaltevermögen waren wesentliche Voraussetzungen für das Entstehen der besonderen und kühnen Kunstwerke: Sie – diese zierliche und zugleich eminent kraftvolle Person – hat erstmals umgesetzt, was bis dahin als unmöglich erschien, nämlich großdimensionierte Figuren aus gebranntem Porzellan zu schaffen. »Porzellan lässt sich nicht beliebig behandeln oder gar beherrschen. Es will erfühlt und erfahren sein und widersetzt sich jedem oberflächlichen Zugriff«, erzählt sie und durchdringt dabei ihr Material intensiv, um mit ihm eine vollkommene Verbindung einzugehen, denn sonst würden die Werke tatsächlich nicht zustande kommen können.

»Das Material hat mir beigebracht, Geduld zu haben.«

Dabei ist bei ihr nichts glatt und schön wie beim klassischen Porzellan, sondern rau, teils aufgerissen und zerklüftet. Sie bearbeitet die Rohmasse in einem sehr langwierigen und kraftaufwendigen Prozess mit Stöcken und Brettern, um die Lufteinschlüsse herauszuschlagen. Diese Spuren belässt sie ganz bewusst und verleiht damit jeder einzelnen Figur einen ganz eigenen, expressiven Charakter.

Während des Ringens mit dem schweren, widerspenstigen Werkstoff entwickelt Karen Müller erstaunliche Kräfte. Doch ist es bei ihr nie ein »Kampf dagegen«, sondern die Bearbeitung vollzieht sich stets im Einklang mit und in Ehrfurcht vor dem uralten Gestein, aus dem das Porzellan besteht. Diese Haltung erwächst nicht zuletzt aus dessen Unberechenbarkeit: Rund 80 Prozent der Skulpturen, Schalen usw. platzen im Brennofen, wenn Luftblasen übersehen werden, die noch in der Masse enthalten sind. So lernt die Künstlerin mit Verlusten umzugehen: »Das Material hat mir hauptsächlich beigebracht, Geduld zu haben.« Immer steht dabei ihr eigenes Wesen in enger Beziehung mit dem Wesen des Gerade-entstehen-Wollenden. Das prozesshafte Sich-Entfalten soll dabei möglichst noch sichtbar bleiben. Daher rührt auch ihre Vorliebe für den Torso und die lediglich angedeuteten Antlitze der Köpfe. Nichts soll »fertig« im Sinne von statisch festgelegt sein.

Auch in ihrer Malerei, besonders aber in den raschen, großformatigen Farbskizzen aus selbst geschürften Erdpigmenten, die sie gern als Hintergrund für die daraus hervorgehenden Skulpturen nutzt, zeigt sich das in seiner Offenheit dynamische Moment. Auch die Werkgruppe der Gefäße ist in ihrer teilweise enorm ausladenden Größe nicht nur unfassbar schön, sondern jede einzelne Arbeit besitzt in ihrer unterschiedlichen Erscheinungsform auch so etwas wie Charakter. Der Komplexität der behandelten Themen und dem Werkstoff Porzellan nimmt die Künstlerin durch intensive Arbeits- und tiefe Erfahrungsprozesse jegliche Schwere, so dass ihre Werke eine beweglich-leichte, wache und heitere Lebendigkeit ausstrahlen.

Author:
Ingrid Gardill
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