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July 15, 2024
Matthias Riegel beriet mit seiner Agentur den Wahlkampf der Grünen und hat jahrelang Spitzenpolitiker in der Kommunikation begleitet. Heute sucht er den Weg nach innen und sieht von dort neue Perspektiven für gesellschaftliche Veränderung.
evolve: Wo sehen Sie Quellen der Resilienz in unserer Krise der Demokratie?
Matthias Riegel: Was genau ist denn unsere Krise heute? Demokratie ist zunächst nur ein Begriff, den niemand erklären kann, jenseits davon, dass es eine Staatsform ist. Aber damit ist noch kein Gefühl verbunden. Es ist ein sehr großes Wort, das wir hier benutzen. Die Aussage »Nie wieder ist jetzt« ist eine Erinnerung, der man sich im Jetzt bewusstwerden soll, sie eröffnet aber keine Perspektive nach vorne. Oder der Spruch: »Wir sind die Brandmauer«. Auch dieser ist statisch, grenzt etwas ab und sagt »Bis hierhin und nicht weiter. Hier steht jetzt eine Mauer, wir lassen nicht zu, dass ihr das verändert.« Das ist stark, aber trotzdem unbeweglich und bedient einen konservativen Denkrahmen. Die Transformationsforscherin Maja Göpel hat auf einer Demonstration gefragt: »Wo sind die Türen in dieser Brandmauer, um Leute, die wieder rein wollen, hereinzulassen?«
Mit solchen statischen Formulierungen sagen wir, dass das, was wir bisher hatten, verteidigungswert ist. Das kann man sicher so sehen. Wählen ist ein absolutes Privileg. Es gibt viele Menschen, die auf dieser Welt dafür kämpfen, wenn nicht sogar ihr Leben lassen, um in so einer Freiheit zu leben und wählen zu gehen.
Aber mit Blick darauf, dass ich zwölf Jahre lang Wahlkämpfe geleitet habe, frage ich mich, was wir eigentlich wirklich verteidigen wollen. Wenn wir die Demokratie verteidigen, ist ja noch nichts Neues gewonnen. Ich habe damit noch keine positive Richtung vorgegeben, in die sich unsere Gesellschaft entwickeln könnte.
Im simplen Verteidigungsmodus der Demokratie habe ich keine Perspektive nach vorne gerichtet. Wir sehen es an der Europawahl – alle wollen gegen rechts die Demokratie verteidigen, aber wofür sie selbst stehen, bleibt phrasenhaft.
»Auch in Beziehungen gibt es ein Innen.«
Und mit Blick auf Resilienz: Diese bedeutet im ersten Wortsinne Widerstandskraft. Nur wenn man sich tiefer damit auseinandersetzt, kommen Ruhe und Atem in den Begriff. Aber mir ist auch darin zu wenig Neues, er ist zu wenig nach vorne gerichtet.
Die AfD und rechtsgesinnte Strukturen fühlen sich ebenso im Recht, wenn sie etwas verteidigen wollen. Sie glauben, sie sind demokratisch gewählt und stehen für einen bestimmten Anteil in der Gesellschaft. Sie benutzen die gleichen Wörter, Werte und Konstrukte. Dadurch entstehen Pole, die bedient und nicht aufgelöst werden. So öffnen sich keine Türen.
Krise greift zu kurz
e: Welche Antwort würde hier Türen aufmachen?
MR: Für echte Antworten müssen wir erst einmal tiefer schauen und feststellen: Es gibt eine umfassende Trennung. Wir als Menschheit haben uns von unserem Körper, von unserem Bewusstsein getrennt. Wir werden erwachsen, und dann hören wir auf, uns zu spüren. Wir leben in einer Welt, in der es einfacher ist, sich an diese trennenden Strukturen anzupassen. Es gibt heute viele Ungereimtheiten und schlimme Gegensätze, Unsicherheit, Orientierungslosigkeit, fehlende Klarheit. Aber von einer Krise, gar einer multiplen Krise zu sprechen, greift zu kurz. Wir sprechen schon seit Jahren von einer Krise. Und heute gibt es dafür bei manchen sogar eine neue Begrifflichkeit. Viele Leute arbeiten an ihren Traumata und am kollektiven Trauma. Aber auch darin ist noch nichts nach vorne Gerichtetes. Oder es gibt die Begrifflichkeit »Krise als Chance«, aber wenn wir die Chancen nicht benennen, dann kümmern wir uns die ganze Zeit nur um das Sezieren und Sortieren dessen, was ist. Wir beheben Symptome, aber vermeiden zu sagen: »Hey, das wäre doch eine Perspektive, die uns ermöglichen würde, uns am Licht zu orientieren und in diese Richtung zu gehen.« Es gibt keine Partei mehr, die die Zukunft als Versprechen vermittelt. Mir fehlt die Verheißung einer Zukunft, die lohnend und lebenswert ist.
e: Von welchem Platz müssen die Antworten kommen? Brauchen wir Parteien, deren Zielsetzung das Vermitteln von Zukunft ist? Das scheint nicht zu funktionieren. Wir sind in einer Gesellschaft, wo wir Brandmauern in viele Richtungen gegeneinander bauen. Das ist, um im Bild zu bleiben, brandgefährlich. Mit Ihrer politischen und menschlichen Erfahrung, von welchem Platz aus glauben Sie, dass Antworten kommen können?
MR: Von innen. Damit meine ich aber ein doppeltes Innen. Also das in mir selbst, aber es gibt auch in Beziehungen ein Innen. Ich hatte zum Teil tiefe Verbindungen mit Spitzenkandidierenden, und in diesen Beziehungen sind Antworten und Perspektiven entstanden. Im Zusammenspiel. Die Antwort kann auch aus dem einheitlichen Feld kommen, wo ich keine Person mehr bin, keine Dinge mehr existieren, wenn ich mich an ein höheres Sein oder Bewusstsein anschließe. Das gibt vielleicht Orientierung oder Antworten, das würde ich für mich persönlich vor allem so sehen, weil ich diese Erfahrung bereits machen durfte.
Resonanzräume
e: Ist das aus Ihrer Sicht eine individuelle Erfahrung oder etwas, was auch kulturell tragfähig sein könnte?
MR: Aus meiner Sicht ist es in jedem Fall tragfähig, weil ich es schon sehr lange mit vielen Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen und Hintergründen erlebe. Ich meine damit nicht nur Herkunftsländer, sondern auch Persönlichkeitsstrukturen. Eine Ingenieurin denkt ganz anders als ich. Und ein Yogalehrer auch noch mal ganz anders. Ich habe versucht, durch die Meditationspraxis für mich einen Weg zu finden, in mir etwas zu spüren, was ich vorher nicht gespürt habe, nämlich die Liebe und das wirkliche Sein mit mir selbst und allem, was ist. Und daraus die Kraft zu schöpfen, etwas sein oder werden zu können. Wenn man mit 2000 Leuten über eine Woche zusammen meditiert und sich danach unterhält und spürt, was bei den Menschen passiert, dann denke ich, dass es auch tragfähig ist für eine größere Struktur. Aber es erfordert Auseinandersetzung, Arbeit an sich selbst und auch Verlust, weil nicht jeder versteht, warum man das tut.
e: Diese Beziehungsarbeit hat eine persönliche, individuelle Dimension, aber es geht auch um unser gesellschaftliches Zusammensein. Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich das Gefühl, dass Ihre Meditationserfahrung Ihnen Hoffnung gibt, dass es in der Beziehungsfähigkeit Möglichkeiten gibt, auf unsere gesellschaftliche Aufsplitterung zu antworten.
MR: Auf jeden Fall, ich erlebe es hier. Ich wohne seit einem Jahr in einem Projekt, wo wir gemeinschaftliche Strukturen aufbauen, aushalten und leben. Bei der Meditation oder der Kontaktimprovisation begegnet mir Öffnung und der Versuch, nicht mehr diese Trennung zu sein, von der ich vorhin gesprochen habe. Das sind beispielhafte Kontexte, die ich als bewusst wahrnehme, wo Menschen auf der Suche sind. Darin liegt für mich eine Art Verheißung. Denn obwohl der Begriff Demokratie zu kurz greift, ist er trotzdem gut, denn darin wird etwas Verbindendes angesprochen.
Als ich bei einer Demo gegen rechts war, hatte ich Tränen in den Augen und dachte: »Wow, ich bin nicht allein. Es gibt etwas, das größer ist als ich selbst.« Aber es gibt zu wenig Resonanzraum, um dieses Verbindende zu katalysieren, woraus dann etwas bewegt werden kann. Das heißt jedoch nicht, dass die Menschen nicht auf der Suche sind oder nicht wissen, dass es genau das braucht.
e: In den letzten Jahren gibt es eine Entwicklung, dass junge Menschen wieder aufs Land gehen, Gemeinschaften gründen. Das ist etwas, was man als Rückzug aber auch als innere Sammlung interpretieren kann. Wie nehmen Sie das wahr?
MR: Ich sehe beides, den Rückzug ins Private und den Rückzug in die Bezogenheit. Beides ist miteinander verwoben. Es gibt eine tiefe Sehnsucht, sich zu fühlen, im Austausch zu sein, in Verbindung auch mit Natur.
Feldwahrnehmung
e: In Ihren Antworten nehme ich einen Begriff immer wieder sehr stark wahr, der Ihnen anscheinend bedeutsam ist, das ist die Feldwahrnehmung. Welche Bedeutung hat das für Sie?
MR: Ich kenne die Bedeutung nicht, da bin ich ehrlich. Aber ich glaube an ein Feld von Verbundenheit, von Größe, von Energie. Insofern ist das eine interessante Spiegelung, dass ich jetzt anscheinend viel darüber rede.
Es gibt mehrere biografische Momente, in denen ich das erlebt habe. Ich war z. B. drei Jahre lang Geschäftsführer einer Agentur mit über 20 Menschen. Meine beiden Kolleginnen in der Geschäftsführung haben zu einem bestimmten Zeitpunkt entschieden, dass sie aufhören wollen. Da standen wir vor der Herausforderung: Was machen wir jetzt mit diesem Unternehmen? Das wurde schon immer sehr demokratisch geführt. Wir waren sehr viel im Austausch, aber trotzdem gab es eine Hierarchie.
»Mir fehlt die Verheißung einer Zukunft, die lohnend und lebenswert ist.«
Wir haben offen gesagt, dass wir nicht wissen, wie es weitergeht. Dann entstand aus dieser Gruppe von Mitarbeitenden der Gedanke: Lass uns doch schauen, wie wir das Unternehmen retten können, indem wir alle zusammenarbeiten. Daraufhin haben wir uns beraten lassen, um eine Genossenschaft zu gründen. Es war ein besonderer Moment, wirklich zu spüren, wie Verantwortung oder Führung von sechs Schultern, sechs Augen und sechs Händen übergegangen ist auf 32 Augen, 32 Schultern, 32 Hände. Und zu spüren, was für eine Energie frei wurde bei Menschen, mit denen ich schon über Jahre zusammengearbeitet hatte. Einige hatten bisher abgelehnt, in Führung oder Verantwortung zu gehen. Aber weil sie auf einmal das Gefühl hatten, sie sind ihr eigener Chef und können mitbestimmen, wurde etwas frei, was ich nicht anders beschreiben kann als ein Feld, weil dadurch ein Miteinander anwesend war.
e: Ist das, was Sie jetzt gerade beschreiben, nicht ein tieferes, wesentliches Verständnis dessen, was mit Demokratie gemeint sein könnte? Nicht im Sinne eines legalistischen, soziologischen, politologischen Systems, sondern das, was sozusagen seelisch mitschwingen könnte mit diesem Begriff.
MR: Ja, darin liegen für mich mehrere Erkenntnisse: Einheit in der Vielfalt heißt ja nicht Gleichschaltung, sondern zu erkennen, dass es so etwas wie die höchste situative Kompetenz gibt. Selbst wenn ich die Entscheidungen nicht mit gefällt habe, kann ich trotzdem anerkennen, dass die Gruppe, die die Entscheidung getroffen hat, in dem Moment nach der höchsten situativen Kompetenz entschieden hat. Dafür gibt es eine richtige Faszination in mir.
2021 hatten wir einen besonderen Moment, weil Angela Merkel nicht wieder angetreten war und es unklar war, wer in Zukunft dieses Land regieren würde. Es gab viel Zuspruch für progressive Kräfte, und es schmerzt mich, dass wir uns in dem Moment nicht getraut haben, das ganze System neu zu formulieren, oder zu überlegen, wie es anders gestaltet werden könnte.
e: Dann ist es vielleicht so, dass die Demokratie nicht in der Krise, sondern die Antwort ist – in dem Sinne, in dem Sie es gerade formulieren.
MR: Wir sind uns überhaupt nicht bewusst darüber, wie stark uns eigentlich diese demokratische Struktur helfen könnte, wenn wir sie so leben würden, wie sie gedacht ist. Es gibt einen Poetry-Slam, in dem es heißt »Lass uns uns mal demaskieren, und dann sehen, wir sind die Gleichen«. Das könnte für alle gelten, selbst für die Strukturen, bei denen wir momentan die krassesten Widerstände aufbauen.
Und es gibt ein wunderschönes Lied von Antony and the Johnsons, »I found Hitler in my heart«. Das ist natürlich sehr voraussetzungsvoll, zugleich ein berührendes Lied. Darin kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass ich selbst diese Trennung bin. Wenn ich mir das eingestehe, wäre es vielleicht möglich, miteinander in einen Diskurs zu kommen, in dem Demokratie ein Modell ist, das uns sehr helfen kann. Dazu brauche ich ein ganz anderes Bewusstsein innerhalb einer Gruppe, um mich wirklich dem Demokratiebegriff, dem Leben in dieser Tiefe zu öffnen.