Die AfD gewinnt an Zustimmung, etablierte Parteien schmiegen sich an ihre Agenda an. Wie kann man diese Entwicklung aus einer holistischen, integralen Perspektive verstehen? Und warum ist besonders Ostdeutschland dabei im Fokus?
Die AfD ist in erster Linie keine Partei, sondern ein Aufreger, ein Skandal. Man kann sich nicht nicht zu ihr verhalten, für die einen ist die Partei ein Nachfahre nationalsozialistischer Gesinnung und gehört verboten, für andere ist sie die einzige Hoffnung auf einen Politikwechsel und Sprachrohr ihres Protests. Es lohnt sich zu fragen, warum Menschen ihr Kreuz bei dieser Partei machen, vor allem, um Wege zu finden, wie es auch anders gehen könnte.
Schaut man sich die Verteilung der Mehrheit bei der Bundestagswahl auf einer Deutschlandkarte an, fällt auf, dass die AfD in den neuen Bundesländern die meisten Erst- und Zweitstimmen geholt hat, während im Westen überwiegend andere Parteien stärkste Kraft wurden. Warum zeigt sich dieser Unterschied? Zunächst ist zu sagen, dass in absoluten Zahlen trotzdem mehr Menschen im Westen die AfD gewählt haben als im Osten – bis zu 70 Prozent der AfD-Stimmen kommen aus dem Westen, so das Kartografie-Magazin Katapult. Von den nicht einmal 15 Millionen Einwohnern Ostdeutschlands haben im Verhältnis nur sehr viel mehr Menschen AfD gewählt als im Westen. »Was früher die CDU war, ist heute hier die AfD«, berichtet mein Nachbar. Ich lebe in der Sächsischen Schweiz bei Dresden, wo schon seit Jahrzehnten rechter gewählt wird als im Rest des Landes.
Rechts, was heißt das aber eigentlich genau? Getreu dem geflügelten Wort, rechts sei heute schon, wer früh aufstehe und zur Arbeit gehe, ist die AfD zum politischen Normal der Leute hier geworden. Sie sehen sich von links-grünen Eliten moralisch abgewertet und bevormundet, klammern an der Rettung des Bekannten, des Normalen, des Lebens, wie sie es aus den Jahrzehnten ihrer Jugend kennen. Und zur Elite zählt man hier schon, wenn man in Großstädten lebt, sich zu Lebensstil- und Genderfragen Gedanken macht und den öffentlich-rechtlichen Medien und ihren Deutungen vertraut. Vielleicht reicht sogar schon das Westdeutschsein in einigen Fällen aus, um vom Habitus her als elitär und abgehoben gesehen zu werden.
Die AfD gewinnt an Zustimmung, etablierte Parteien schmiegen sich an ihre Agenda an. Wie kann man diese Entwicklung aus einer holistischen, integralen Perspektive verstehen? Und warum ist besonders Ostdeutschland dabei im Fokus?
Die AfD ist in erster Linie keine Partei, sondern ein Aufreger, ein Skandal. Man kann sich nicht nicht zu ihr verhalten, für die einen ist die Partei ein Nachfahre nationalsozialistischer Gesinnung und gehört verboten, für andere ist sie die einzige Hoffnung auf einen Politikwechsel und Sprachrohr ihres Protests. Es lohnt sich zu fragen, warum Menschen ihr Kreuz bei dieser Partei machen, vor allem, um Wege zu finden, wie es auch anders gehen könnte.
Schaut man sich die Verteilung der Mehrheit bei der Bundestagswahl auf einer Deutschlandkarte an, fällt auf, dass die AfD in den neuen Bundesländern die meisten Erst- und Zweitstimmen geholt hat, während im Westen überwiegend andere Parteien stärkste Kraft wurden. Warum zeigt sich dieser Unterschied? Zunächst ist zu sagen, dass in absoluten Zahlen trotzdem mehr Menschen im Westen die AfD gewählt haben als im Osten – bis zu 70 Prozent der AfD-Stimmen kommen aus dem Westen, so das Kartografie-Magazin Katapult. Von den nicht einmal 15 Millionen Einwohnern Ostdeutschlands haben im Verhältnis nur sehr viel mehr Menschen AfD gewählt als im Westen. »Was früher die CDU war, ist heute hier die AfD«, berichtet mein Nachbar. Ich lebe in der Sächsischen Schweiz bei Dresden, wo schon seit Jahrzehnten rechter gewählt wird als im Rest des Landes.
Rechts, was heißt das aber eigentlich genau? Getreu dem geflügelten Wort, rechts sei heute schon, wer früh aufstehe und zur Arbeit gehe, ist die AfD zum politischen Normal der Leute hier geworden. Sie sehen sich von links-grünen Eliten moralisch abgewertet und bevormundet, klammern an der Rettung des Bekannten, des Normalen, des Lebens, wie sie es aus den Jahrzehnten ihrer Jugend kennen. Und zur Elite zählt man hier schon, wenn man in Großstädten lebt, sich zu Lebensstil- und Genderfragen Gedanken macht und den öffentlich-rechtlichen Medien und ihren Deutungen vertraut. Vielleicht reicht sogar schon das Westdeutschsein in einigen Fällen aus, um vom Habitus her als elitär und abgehoben gesehen zu werden.
Die Ostdeutschen neigen zu Misstrauen gegenüber Eliten und sind schnell verbittert, aber sie sind auch kritische Seismografen gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie haben gelernt, kleine Zeichen zu verstehen und mit mehrdeutigen Aussagen umzugehen. In etwa so hat das Klaus-Rüdiger Mai bereits 2018 in der NZZ beschrieben: »Ostdeutsche haben genügend Erfahrung damit gesammelt, wenn Medien nicht mehr kritisch berichten, sondern propagieren, motivieren und erziehen wollen. Aus der Art der Darstellung vermögen Ostdeutsche herauszulesen, was die Mächtigen möchten, hoffen oder befürchten.« Was sagt eine Cancel Culture über unsere Gesellschaft aus? Was ist von Parteien und Politikern wie Friedrich Merz zu erwarten, wenn vieles dafür spricht, dass es ihnen primär um ihre Macht und nicht um die Menschen geht? Das sind Fragen, wo das Feedback der Ostdeutschen ein Geschenk sein könnte, das – richtig interpretiert – zu einem Umdenken führen könnte.
Von Wertschöpfung und Wertschätzung
Kürzlich war ich in Bayern und erlebte wieder einmal: Hier ist die Welt verhältnismäßig in Ordnung, vor allem weil es den Leuten wirtschaftlich gut geht. Das zeigt sich auch an den Wahlergebnissen. Statistisch belegt ist, wer AfD wählt, ist wirtschaftlich eher schwach aufgestellt. Der Osten liegt wirtschaftlich um Längen hinter dem Westen, auch durch dessen Western-Mentalität nach der Wende, als ein Ausverkauf der ostdeutschen Wirtschaft stattfand. Das rächt sich heute an der Wahlurne.
Unter dem Geld liegt noch die Schicht der Wertschätzung. Im Osten fühlt man sich kategorisch seit Jahrzehnten vom Westen als Deutsche zweiter Klasse herabgesetzt und als enfant terrible, das zur Vernunft gebracht werden muss. Die pubertären Reaktionen darauf sind vorprogrammiert. Wertschöpfung und Wertschätzung müssten auch im Osten prosperieren, dann wären die Wahlergebnisse andere.
»Trennung statt Dialog – das kann nicht gut gehen.«
Das begegnet mir von der Seite vieler westdeutscher Freunde: Ihr wohnt dort im Osten, wie kann man nur, mit dem dortigen Abschaum wollen wir nichts zu tun haben. Trennung statt Dialog. Das kann nicht gut gehen, zumal die AfD auch im Westen stärker wird. Das lässt sich nicht aus einem spezifischen ostdeutschen Schatten erklären. Vielmehr ließe es sich so deuten, dass die AfD Repräsentantin eines verfemten, verdrängten Anteils ist, den auch jeder Westdeutsche in sich trägt: der nicht integrierte Teil des Ängstlichen, mit niedrigem Selbstwert bepreisten, paranoiden Otto-Normalmenschen, der sich als Reflex darauf gegenüber allem Fremden und Neuen abschotten möchte. Das nicht ganz Integrierte der letzten zwei Jahrhunderte in jedem von uns wird von der AfD adressiert und auf den Tisch gebracht.
Die Lösung wäre, hüben wie drüben, eine Heilung der im Verlaufe der Moderne angehäuften Traumata: Ein zu rigoroses modernes Leben hat die Menschen vereinzelt, statt ihnen Gemeinschaftlichkeit zu schenken, es hat sie wirtschaftlich in Arbeit ertrinken und kaum davon leben lassen. Das moderne, industrialisierte Leben hat den Sinn, den Körper, Rituale und die Kultur ausbluten lassen. Das fordert jetzt seinen Tribut. Die Menschen flüchten aus der stählernen Mühle in eine Pseudo-Romantik, die sich aus einer nie dagewesenen konsolidierten Moderne speist, und als Symbol nicht die blaue Blume, sondern die blaue Partei hat. Die Reduktion des Ungleichgewichts zwischen Osten und Westen, vor allem auf der Ebene der Wertschätzung, wäre ein erster, wichtiger Schritt der Heilung.
Symmetrische Vorwürfe
Auch wenn es unangenehm sein mag: Die Stigmatisierung der AfD und ihrer Wählerschaft führt zu mehr Trennung und verschlimmert nur die Symptome. Die Brandmauer verläuft in den geografischen Grenzen zwischen alten und neuen Bundesländern, aber sie ist längst untertunnelt und wird nicht lange Bestand haben. Das berichtet auch Matthias Rößler, Mitglied des CDU-Landesvorstandes in Sachsen: »In den Kommunalparlamenten spielt die Brandmauer bei der Findung von Mehrheiten keine Rolle mehr.« Die Brandmauer werde »in den Kommunen bereits von der Realität überholt«. Das wird mutmaßlich auch auf Bundesebene passieren, wenn es den Parteien der Mitte nicht gelingt, einen wirklichen Politikwechsel einzuläuten. Im Resultat stünde eine konservativ-liberale Politik, wie sie im republikanischen Amerika, Argentinien und einigen Nachbarländern derzeit Mode ist. Wirklich weltoffen und für Dialog zwischen den Menschen dürften diese Ansätze kaum sein.
Die Differenz kann nur gerettet werden, wenn ihre Fürsprecher eine behutsame Integration der Vielfalt auf die Straße bringen, ohne eine Diktatur der Differenz heraufzubeschwören – oder zumindest etwas, das so aussehen könnte. Mit anderen Worten: sich nicht an Regenbogenflaggen, Gendersternchen und Pro-Migrations-Positionen festbeißen, sondern auf wirklich substanzieller Ebene etwas für Vielfalt tun wie wirtschaftlichen Aufschwung ankurbeln, Kommunen und direkte Demokratie stärken, bürokratische Hürden abbauen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wirklich vielfältig und plural werden lassen. Das sind nur einige erste Ideen, aber sie führen alle weg vom rein symbolischen Hickhack: Abschiebeflieger, Nazikeule, Grünen-Bashing, Heizungsgesetz-Hass.
Ein pikantes Detail, das beim Blick aufs Ganze ins Auge fällt: Beide Seiten werfen der jeweils anderen vor, Nazimethoden anzuwenden. Die »gesichert rechtsextreme« AfD wird auf völkische Hardliner in ihren Reihen reduziert und als demagogische Nachfolgeorganisation der NSDAP gesehen, weil sie moderne und postmoderne Werte, vor allem Pluralität, nicht beherzigt. Die Anhängerschaft der AfD wirft dem »linksgrünen« Establishment globalistischen Zwang (Nato, WHO etc.) und ökologisch verkappten Autoritarismus vor (Ökofaschismus). Ein Zitat vom Dichter Peter Hacks aus den 90er-Jahren wird hier im Osten viel geteilt, wo dieser prophezeit, die Grünen würden irgendwann das unmerkliche Vehikel eines neuen Faschismus bilden.
So steuern wir auf eine Patt-Situation zu, die sich mittlerweile auch nahezu bei den Wahlergebnissen zeigt: Nur unsere Seite weiß, wie gutes Leben geht und die anderen sind Faschisten. Hier zeigt sich eine Kopplung der wirtschaftlichen und der psychosozialen Bedürfnisse, wo sich beide Seiten Wertschätzung und ökonomische Ressourcen vorenthalten, sowie ein Kampf um das ambivalente Erbe der Moderne: Die einen wollen postmoderne Vielfalt als neuen Standard setzen und werden dabei mit den eigenen nicht gemachten modernen Hausaufgaben von Vernunft, Gerechtigkeit und Wohlstand konfrontiert, während die AfD-nahe Seite postmoderne Vielfalt verabscheut und aus verbogener Nostalgie die modernen Errungenschaften für sich reklamiert.
Ich will keine Lösungen präsentieren, denke aber, dass nur eine veränderte Wahrnehmung voneinander und Anerkennung oben genannter Trennungen zu einer guten Entwicklung führen können. Wer holistisch und integral sein möchte, sollte den gemeinsamen Grund aufdecken und erst dann über Abgrenzung nachdenken. Meist ist es andersherum: Am Anfang stehen die Trennung und der Kontaktabbruch. Was wir bräuchten, ist keine Brandmauer, sondern Menschen, die mit Feuer umgehen können, also etwas zwischen Feuerwehr und Feuer-Dompteur sind! Dann bräuchten wir keine Angst vor den politischen Entwicklungen der nächsten Jahre zu haben, und Ostdeutschland könnte weniger als Gift denn als Medizin für ein ungleich vereintes Deutschland wirken.