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Zusammen mit seiner Kollegin Eva Pomeroy hat Otto Scharmer einen Text verfasst, in dem er die Wirkung und Relevanz eines Fourth-Person-Knowing anspricht. Dabei schöpft er aus seiner Forschung mit Transformationsprozessen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Wir sprachen mit ihm über die Qualitäten dieses Wissens der vierten Person und warum es heute so wichtig ist.
evolve: In deiner Arbeit als Unterstützer von Transformationsprozessen in Organisationen sprichst du von einem Fourth-Person-Knowing, einem Wissen der vierten Person. Kannst du ausführen, welche Erweiterung unserer Erkenntnis damit angesprochen ist?
Otto Scharmer: Was ich in Veränderungsfeldern in Institutionen, in Communities, in Multi-Stakeholder-Gruppen rund um den Planeten erlebe, unterscheidet sich von den konzeptionellen Bausteinen, mit denen wir in unserem westlichen Kontext arbeiten. Allgemein kann man zwischen einem Wissen der ersten Person, der zweiten Person und der dritten Person unterscheiden. Das Erste-Person-Wissen ist subjektiv: das, was ich in mir erkenne. Das Zweite-Person-Wissen ist intersubjektiv: das, was sich im Dazwischen der Begegnung zeigt. Das Dritte-Person-Wissen bezieht sich auf das Objektive, wenn du auf die Außenseite der Phänomene schaust.
In Veränderungsprozessen habe ich immer wieder erlebt, dass man an einen tieferen Punkt kommt, wo ein Umschwung passiert. Das hat oft mit dem Raum der Stille zu tun, wo plötzlich etwas anwesend ist, was vorher nicht anwesend war, und sich alles verändert. Im Grunde ist das ein Wissen, das im Subjekt auftritt und gleichzeitig eine tiefere intersubjektive Dimension hat, weil wir es auch gemeinsam erleben, zum Beispiel in einem Kreis von Führungskräften in einem Unternehmen, in einer Unternehmensgruppe oder in einer Multi-Stakeholder-Gruppierung. Es entsteht etwas, das über die herkömmlichen drei Formen des Wissens hinausgeht, mit denen wir normalerweise in der Aktionsforschung arbeiten.
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Zusammen mit seiner Kollegin Eva Pomeroy hat Otto Scharmer einen Text verfasst, in dem er die Wirkung und Relevanz eines Fourth-Person-Knowing anspricht. Dabei schöpft er aus seiner Forschung mit Transformationsprozessen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Wir sprachen mit ihm über die Qualitäten dieses Wissens der vierten Person und warum es heute so wichtig ist.
evolve: In deiner Arbeit als Unterstützer von Transformationsprozessen in Organisationen sprichst du von einem Fourth-Person-Knowing, einem Wissen der vierten Person. Kannst du ausführen, welche Erweiterung unserer Erkenntnis damit angesprochen ist?
Otto Scharmer: Was ich in Veränderungsfeldern in Institutionen, in Communities, in Multi-Stakeholder-Gruppen rund um den Planeten erlebe, unterscheidet sich von den konzeptionellen Bausteinen, mit denen wir in unserem westlichen Kontext arbeiten. Allgemein kann man zwischen einem Wissen der ersten Person, der zweiten Person und der dritten Person unterscheiden. Das Erste-Person-Wissen ist subjektiv: das, was ich in mir erkenne. Das Zweite-Person-Wissen ist intersubjektiv: das, was sich im Dazwischen der Begegnung zeigt. Das Dritte-Person-Wissen bezieht sich auf das Objektive, wenn du auf die Außenseite der Phänomene schaust.
In Veränderungsprozessen habe ich immer wieder erlebt, dass man an einen tieferen Punkt kommt, wo ein Umschwung passiert. Das hat oft mit dem Raum der Stille zu tun, wo plötzlich etwas anwesend ist, was vorher nicht anwesend war, und sich alles verändert. Im Grunde ist das ein Wissen, das im Subjekt auftritt und gleichzeitig eine tiefere intersubjektive Dimension hat, weil wir es auch gemeinsam erleben, zum Beispiel in einem Kreis von Führungskräften in einem Unternehmen, in einer Unternehmensgruppe oder in einer Multi-Stakeholder-Gruppierung. Es entsteht etwas, das über die herkömmlichen drei Formen des Wissens hinausgeht, mit denen wir normalerweise in der Aktionsforschung arbeiten.
Kollektives Selbstwissen
e: Welche Merkmale hat diese erweiterte Form des Wissens nach deiner Erfahrung?
OS: In dem Artikel »Fourth Person Knowing« beschreiben Eva Pomeroy und ich diese neue Qualität mit fünf Charakteristika. Das erste Charakteristikum ist, dass ich die Anwesenheit einer Präsenz erlebe, die nicht ich bin, sondern es ist etwas, was mich anschaut. Es hat essenziell mit mir zu tun, weil es durch mich – und nur durch mich bzw. nur durch uns – in die Wirklichkeit kommt. Das zweite Charakteristikum ist eine Dezentrierung der Erfahrung. Mein Erleben von Zeit verlangsamt sich, meine Erfahrung von Raum dezentriert sich, von einer zentrierten punkthaften Erfahrung zu einer verteilten Felderfahrung. Auch die Erfahrung des eigenen Selbst verändert sich von einem Zentrums-Ich zu einem peripheren Ich. Und es findet zudem eine Dezentrierung der Sinneswahrnehmung statt, in der oft eine Verdichtung von atmosphärischen Qualitäten oder Lichtqualitäten wahrgenommen werden kann.
Das dritte Charakteristikum bezieht sich auf unsere Handlungsfähigkeit. Diese Erfahrung rückt Potenziale in den Horizont meiner Handlungsmöglichkeiten, die zuvor eher nicht in meiner eigenen Reichweite gelegen haben. Warum ist das wichtig? Umfragen zufolge sind 69 Prozent der Menschen heute weltweit bereit, einen Teil ihres Einkommens für einen positiven Beitrag zum Klimawandel einzusetzen. Das ist der Stand der individuellen Intention. Aber was ist der Stand der Umsetzung dieser Intention in Handlungsfähigkeit? Noch nicht besonders ausgeprägt. Sieben von zehn Menschen weltweit geben an, sich komplett von gemeinsamen Entscheidungs- und Handlungsprozessen abgekoppelt zu fühlen. Wir erleben derzeit einen massiven Verlust der Handlungsfähigkeit (Loss of Agency). Deswegen ist das dritte Charakteristikum so wichtig: die eigene Handlungsfähigkeit wieder mehr zurückzugewinnen – sowohl auf individueller als auch auf gemeinsamer Ebene.
Das vierte Charakteristikum ist die gleichzeitige Vertiefung Individueller und gemeinsamer Wahrnehmung, Willensbildung und Anwesenheit. Im Individuum ereignet sich eine Bewusstseinserweiterung, so dass in der eigenen Bewusstheit mehr vom Ganzen anwesend ist, wobei auch in der Gruppe oder dem Gesamtkreis, mit dem man es zu tun hat, ein größeres Bewusstsein entsteht. Es ist eine wechselseitige Internalisierung des Teils und des Ganzen, welche die Grundlage moderner Organisationsentwicklung ist. Moderne Managementbücher und dezentrale, agile Organisationsformen konzentrieren sich auf die Verflachung von Hierarchien und die Verflüssigung von Steuerungsprozessen. Das funktioniert nur, wenn es ein Shared Alignment, eine gemeinsame Ausrichtung des Bewusstseins gibt. Erst dann kann man Steuerungsprozesse horizontal so organisieren, dass sie sich dynamisch im Gesamtkontext integrieren. Als Organisationsentwickler ist diese Bewusstseinserweiterung hin zu einem gemeinsamen Bewusstsein des Ganzen von allen Beteiligten ein absolut wichtiges Ereignis.
»Die Zukunft ist ein Möglichkeitsraum, der mich anschaut.«
Das fünfte Charakteristikum besteht darin, dass schöpferische Felder aktiviert werden. Darin interagieren wir nicht nur in unserer alten Egoexistenz, sondern treten von unserem höheren Selbst her miteinander in Beziehung. Auch über die Grenzen zwischen konkurrierenden Institutionen hinweg.
In allen Multi-Stakeholder-Prozessen gibt es unterschiedliche Interessen und ideologische Grenzen. Es ist eine Kunst, sich über diese Grenzen hinweg zu verständigen. Das gelingt durch die Aktivierung schöpferischer Felder, in denen man sich auf einer tieferen Ebene begegnet. Es geht um die Frage, was es eigentlich heißt, Mensch zu sein, auf diesem Planeten und in diesem historischen Moment, und wie wir uns dem öffnen können, wer wir werden könnten, aber noch gar nicht sind – auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene.
Wenn man etwas tut im Sinne von Organisationsentwicklung, ist es normalerweise so, dass die Wirkung mit der Zeit abnimmt. In diesen schöpferischen Feldern ist es genau umgekehrt. Wenn dieses Feld einmal aktiviert wird, ist es oftmals so, dass sich die Wirkung nicht nur fortträgt und nachhaltiger ist, sondern auch weiterentwickelt, sich steigert und weitere Menschen und Initiativen integriert. Je weiter du in die Zukunft gehst, umso größer ist die Wirkung, die sich entfaltet.
Diese fünf Charakteristika, die ich oft beobachtet habe, waren der Anlass zu der Erkenntnis: Hier zeigt sich ein anderes Wissen, das nicht rein subjektiv ist. Es ist auch nicht das, was man normalerweise unter intersubjektiv versteht. Und es ist auch nicht mit rein objektiven Kategorien abzudecken. Dieses Wissen hat mit allen dreien zu tun, geht aber noch eine Ebene darunter in die Tiefenstrukturen systemischer Evolution. Es ist ein kollektives Selbstwissen in einem wesenhaften sozialen Feld.
Soziale Felder
e: Wie würdest du das Wesen eines sozialen Feldes beschreiben?
OS: Der sichtbare Teil des sozialen Feldes wird auch soziales System genannt, und der unsichtbare Teil ist der soziale Boden (Social Soil). Der soziale Boden ist der wichtigste Teil des Feldes, den man nicht mit bloßem Auge sieht. Das wissen wir von vielen Veränderungsprozessen. Das habe ich interessanterweise auch von einem erfahrenen McKinsey-Berater gehört. Er hat viele Transformationsprozesse begleitet und seine Erfahrung in einem Gespräch so zusammengefasst: What’s most important is least visible to the eye – Das Wichtigste ist für das Auge am wenigsten sichtbar. In sozialen Feldern ist der soziale Boden das Wichtigste, der für das Auge am wenigsten sichtbar ist.
Anders gesagt: Ein soziales Feld ist ein soziales System mit einer Seele, das heißt, ein System mit einem Innenraum (Social System with a Soul). Das Wissen der vierten Person, diese tiefere Ebene des Selbstwissens, zielt auf das, was sich nicht nur aus dem Gewordenen speist, sondern aus dem Werdenden. Dafür können wir aufmerksamer werden, weil wir in der Welt heute als Veränderungsgestaltende direkt damit zu tun haben, aber oftmals nicht aufmerksam werden für diese tieferen Ebenen unserer Wahrnehmung und unserer Erfahrung bei Gestaltungsprozessen.
Der Weltinnenraum des Feldes
e: Wenn du mir erlaubst, möchte ich das Gesagte mit unserem Erfahrungshintergrund in der Arbeit mit Emergent Dialogues abgleichen, um zu sehen, ob das für dich eine Resonanz hat. Der Denkweg unserer Arbeit ist anders gegründet und geht nicht von den vier Formen des Wissens aus, obwohl es implizit darin enthalten ist, weil damit auch die Transzendierung der Subjekt-Objekt-Trennung angesprochen ist. Der Ansatz, der uns wichtig ist, besteht in den drei Schritten von präindividuell, individuell und transindividuell. Die Formulierung transindividuell beinhaltet, dass es etwas anderes ist als indigene, präindividuelle, kollektive Felderfahrungen.
Ich schätze solche Felder sehr, sie beinhalten aber nicht in der gleichen Weise die individuelle Handlungsfähigkeit, die sich in der Moderne entwickelt hat und welche die Grundlage unserer modernen Subjektivität ist. Gleichzeitig gehen wir meist in der Moderne und in der Postmoderne nicht über die Subjekt-Objekt-Trennung hinaus. Hier finde ich interessant, wie ein Feldbewusstsein, ein Feldwissen oder die Wahrnehmung des Feldcharakters rein phänomenologisch gemeint ist. Eine Weise, das anzudenken, die aus unserer Sicht eine gewisse Erklärungsfähigkeit in sich hat, ist das Ansprechen von synergetischer Intuition und synergetischer Intelligenz.
Wir kommen mit einer gewissen Subjektivität, einer Identität, einer Weltwahrnehmung in die Begegnung und nehmen einander in Resonanz und in Dissonanz wahr. Wir können uns nicht nur in unserer Fremdheit begegnen, sondern es können Verständigungsräume entstehen, die sich synergetisch verstärken. So entsteht ein gemeinsamer Verständigungsraum, in dem wir nicht mehr in einer getrennten Weltwahrnehmung stehen. Sobald sich Unterschiede synergetisch verstärken lassen, entsteht die Feldwahrnehmung eines Verständigungsfeldes, das erweiterbar ist. Dabei wird die Subjekt-Objekt-Trennung zumindest gelockert, weil man beginnt, aus diesem gemeinsamen Verständigungsraum heraus zu denken und Lösungen zu entwickeln. Sichtweisen, die normalerweise konträr gegeneinanderstehen, können eine synergetische Kreativität entwickeln, die nicht in den Einzelnen verortet ist, sondern im gemeinsamen Bewusstseinsraum. Und das ist eine andere Begegnungsweise, die aus diesem Feldbewusstsein, dieser Feldwahrnehmung, die ihr als Wissen der vierten Person darstellt, entstehen kann. Ergibt das so, wie ich es skizziere, aus eurer Erfahrung Sinn?
OS: Das resoniert in ganz weiten Teilen, interessanterweise nicht zu 100 Prozent. Genau das macht es ja spannend. Wir benutzen den Begriff transsubjective, transsubjektiv. Das ist fast der gleiche Begriff wie transindividuell. Beide gehen vom Individuum aus, weil dort die Erfahrung zunächst wahrgenommen wird. Dieses »Trans« ist konstitutiv für das Vierte-Person-Wissen.
e: Wir sprechen von Transindividuation, weil wir es spannend finden, es als Prozess denken zu können, also nicht nur subjektiv. Mit Transindividuation lässt sich argumentieren, dass es nicht ein Weniger an Individualität braucht, sondern ein Mehr an Individualität, weil man als Individuum dieses »Trans« halten muss. Meine Individualität und Eigenheit wird respektiert, aber sie ist auf etwas Ausgedehntes ausgerichtet, das mich in meiner individuellen Getrenntheit transzendiert.
OS: Das ist eigentlich eine Schlüsselkategorie für diesen gesamten Raum. Das vierte Charakteristikum ist genau das, was du eben beschrieben hast: Die Gegenwärtigkeit des ganzen Feldes im Individuum, aber auch des Individuums in der Gemeinschaft, wird gesteigert. Das ist eine Zunahme der Interiorization, des Innenraums auf der Seite des Individuums und auf der Seite der Gemeinschaft. Was ich besonders schön fand, war deine Formulierung: Die Subjekt-Objekt-Trennung wird gelockert. Es bleiben Unterscheidungen, aber die Bewegungsfähigkeit in den Verständigungsräumen wächst. Und das hat mit der Feldwahrnehmung zu tun, die mit dem »Trans« angesprochen ist. Das haben wir mit dem ersten Charakteristikum beschrieben: Es tritt im Individuum, in mir auf, aber es ist nicht von mir, es kommt durch mich aus dem Feld.
Eine Formulierung, die ich im systemischen Denken und in der Arbeit mit Organisationen gebrauche, ist folgende: The beingness of the field and the beingness of the system – die Seinsweise des Feldes und die Seinsweise des Systems. Das meine ich mit Interiority, Innerlichkeit, es ist der Weltinnenraum des Feldes.
In sozialen Prozessen gehen wir durch einen Öffnungsprozess. Es ist das »Going down the U«, man geht das U hinunter. Theory U ist eine systemische Theorie, die von vier Bewusstseinsebenen her arbeitet, und das ist entweder die Fortsetzung von Routinen oder es ist Subjekt-Objekt-Gewahrsein. Dann gibt es etwas Drittes, wo diese Erfahrung der Intersubjektivität mehr ins Zentrum kommt und sich die Grenzen lockern und auflösen. Aber der vierte Raum, der Boden des U, ist der non-duale Bereich. Wenn man hier eintritt, fängt es mit Loslassen, Hingabe und Stille an. Man geht in eine Leere, durch einen Nullpunkt hindurch. Im Loslassen in dieses Nichts öffnet sich etwas, und es wird anwesend, was vielleicht vorher da war, aber es war nicht wahrnehmbar in meinem Bewusstsein. Jetzt beginnt es in mein Aufmerksamkeitsfeld einzutreten. Das meinen wir mit dem ersten Charakteristikum: Da ist etwas, was in meiner Erfahrung auftritt und mich anschaut. Aber es ist nicht mein normales Alltags-Ich. Das bin nicht ich, aber dennoch hat es sehr viel mit mir zu tun.
Ein Begriff, der zentral ist und in meiner Erfahrung auch sehr zugänglich für viele Menschen heute, die eigentlich immer schon diese Erfahrung haben, aber nicht immer genau hinschauen, ist »Zukunft«. Wenn man Zukunft sagt, meint man meist etwas, das zu einem anderen Zeitpunkt passiert, an einem anderen Ort und oftmals mit anderen Menschen. Für mich ist Zukunft etwas, was ich von Innovatoren und Veränderungsmachern gelernt habe, es ist sehr persönlich. Es hat mit dem Hier und Jetzt und mit mir zu tun. Die Zukunft ist ein Möglichkeitsraum, der mich anschaut, weil er von mir abhängt, um in die Welt zu kommen.
Eine neue Identität
e: Das Wort Zukunft meint eine Denkbewegung, wo etwas auf uns zukommt.
OS: Es geht um ein Ankünftigwerden von etwas, was eigentlich schon da ist, was aber meiner bedarf, um wirklich ankünftig zu werden. Es ist ein Erfahrungsraum, wo etwas mich anschaut, weil es von mir abhängt, um Wirklichkeit zu werden. Diese Erfahrungsebene ist viel weitläufiger verteilt, als sich die meisten Menschen bewusst sind. Jeder, der diese Erfahrung gemacht hat, bekommt einen unmittelbaren Zugang zur transindividuellen oder transsubjektiven Dimension des Wissens, wo wir uns dem Wissen eines werdenden Feldes öffnen. In den wichtigsten Zusammenhängen ist es nicht nur etwas, was von mir alleine abhängt, sondern vom gemeinsamen Handlungskontext, in dem ich mit anderen bin und der von daher auch ein gemeinsamer Prozess ist.
e: Dieser Nullpunkt ist in der Theorie U stark verankert, ein Loslassen von Identität, auch von Denkidentität. Ein Nichtwissen, eine Öffnung. Hier entsteht ein ko-kreatives Bewusstsein, eine Ko-Intelligenz, in der die Wahrnehmung für etwas auftaucht. Es ist nicht mehr wahrnehmbar als »Das kommt durch mich oder dich«, sondern es kommt aus einem gemeinsamen Kreativitätsraum. Es kommt aus diesem Zwischenraum der Begegnung. Meine Identität, selbst meine Kreativität ist nicht klar unterscheidbar von deiner oder der der anderen Beteiligten, sondern es ist ein gemeinsamer Bewusstseinsraum, in dem sich der Wahrnehmung nach ein Ko-Bewusstsein und eine Ko-Kreativität entwickeln. Wir sind gemeinsam an einem kreativen Raum beteiligt, der seine eigene Dynamik entfaltet. Und wir sind beteiligt an dieser Entfaltung. Würde das eurer Erfahrung entsprechen?
OS: Ja, das ist die Felderfahrung, die Erfahrung des kreativen oder schöpferischen Feldes. Hier löst sich die Grenze zwischen uns auf oder ist nicht mehr erlebbar. Die Erfahrung meiner Identität, die Erfahrung von Raum und Zeit und Selbst erweitert sich in eine Felderfahrung.
In sozialen Veränderungsprozessen finde ich interessant, dass dieses schöpferische Feld eigentlich immer schon da ist. Aber das ist meist nicht auf die Ebene des Bewusstseins gehoben, sondern ist eher untergründig da, und dann gibt es manchmal ein kurzes Aufscheinen. Aber es wird nicht wahrgenommen und kultiviert und gestaltet, wie es heute möglich ist.
»Das Wissen der vierten Person zielt auf das, was sich aus dem Werdenden speist.«
In eurer Arbeit und in unserer Arbeit finden wir leicht unterschiedliche Begriffe, aber wir haben schon länger Erfahrungen mit diesem Feld gemacht und daher verschiedene Begrifflichkeiten entwickelt, die uns darin bestärken, dass es da ein Etwas gibt. Und ob man diesen oder den anderen Begriff nimmt, ist zweitrangig.
Das ist die wirkliche Frage: Findet das, was wir beschreiben, Resonanz in den Erfahrungsräumen, die Menschen heute in den unterschiedlichen Kontexten erleben?
Ein neues System
e: Ich würde gern ein »Ja, aber« dazusetzen. Die Dimension, von der ich das zu denken versuche, ist eine kulturtheoretische oder bewusstseinstheoretische. Unsere moderne-postmoderne Subjektsetzung wird so radikal infrage stellt, dass es systemsprengend ist. Der Individuationsprozess über die Jahrhunderte hat in der Postmoderne zu einer Hyperindividuation geführt. Heute stehen wir bewusstseinsgeschichtlich vielleicht an einem Wendepunkt, weil wir diesen Individuationsprozess ausgereizt haben. Es steht eine dialektische Gegenbewegung an, die in all dem, was du beschreibst, auf der Suche nach sich selbst ist. Aber unser kulturelles und systemisches Weltverständnis wird getragen von dieser hyperindividuellen Subjekt-Objekt-Wahrnehmung, die damit unverträglich ist. Wie kann sich das neu finden?
Vielleicht braucht es so etwas wie eine Reintegration, in der unsere Individuation in einer Eingebettetheit der Nichtgetrenntheit wahrnehmbar ist. Forschungen wie in eurer oder in unserer Arbeit und in der Arbeit vieler anderer sind in gewisser Weise kulturhistorische Experimente. Verschiedenste Akteure versuchen, gemeinsam neue Aktions- und Identitätsformen zu finden, um eine kulturelle Weltwahrnehmung in diesen neuen Kontexten entwickeln zu können.
Dafür brauchen wir aber einen Systemsprung. Das bestehende kollektive Identitätssystem kann nicht einfach weitergeführt werden. Darauf bezieht sich mein »Ja, aber«.
OS: Die Dialektik zwischen Individuation und Gemeinschaft ist auch in unserem Feld interessant. Die bisherigen Gemeinschafts- und Kollektivprojekte, die es in den letzten 70 Jahren gegeben hat, sind meistens auf Sand gelaufen, wenn man nicht die Individuation mit hineinbringt, sondern es nur beim alten Kollektiv bleibt.
Wir müssen ganz anders denken lernen, wie Individuum und Gemeinschaft kein Gegensatz sind. Es bedingt sich gegenseitig. Die nächste Gemeinschaftsstufe bedeutet, dass wir durch eine Vertiefung der Individuierung gehen. Das haben wir aus der Praxis der Veränderungsprozesse, an der viele Menschen beteiligt sind, gelernt.
Ich würde es in vier einfachen Sätzen zusammenfassen. Das erste ist: To go fast, first you need to go slow – Um schnell voranzukommen, muss man zuerst langsam vorangehen. Man muss in diesen Vertiefungsprozess hineingehen. Zweitens: If you want to change a system, first you need to know yourself – Wenn du ein System verändern willst, musst du zuerst dich selbst erkennen. Du musst in die Individuierung gehen. Das Dritte: If you really want to know yourself first, you need to deepen your engagement and your relationship with the world – Wenn du zuerst dich selbst kennen willst, müssen sich dein Engagement und deine Beziehung zur Welt vertiefen. Du musst deinen Weltbezug vertiefen, nur dann kannst du die tieferen Ebenen deines Selbst zum Erfahrungsgegenstand machen. Und der letzte Satz ist: If you want to engage more deeply with the world, you need to open yourself as an instrument for sourcing a deeper form of knowing – Wenn du dich tiefer in der Welt einbringen willst, musst du dich als Instrument öffnen, um aus den tieferen Ebenen des Wissens zu schöpfen. Das ist das tiefere Feldwissen oder Collective Self-knowing– kollektives Selbstwissen.
Es ist die Beingness, die Seinsweise sozialer Felder.
Was ist eigentlich die Wesenhaftigkeit, die wir in diesen Feldern erleben? Diese Frage können wir aus der Erfahrung stellen, um sie gemeinsamen wahrzunehmen und zu kultivieren. Die vier Sätze, die ich eben beschrieben habe, sind der logische Lernweg, wenn du mit Deep Change,mit tiefen Veränderungsprozessen zu tun hast. If you want to move the needle, that’s what you got to work with – Wenn du eine echte Veränderung voranbringen willst, dann ist das dein Ansatzpunkt. Dabei eröffnet dieses Feldwissen schöpferischer Felder ganz neue Möglichkeiten, die unseren Erkenntnishorizont bedeutsam erweitern. Deshalb ist die Arbeit daran so wichtig, um auf die Herausforderungen unserer Zeit im Sinne von echter Gegenwartsfähigkeit wirksam zu antworten.
Author:
Dr. Thomas Steininger
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Zusammen mit seiner Kollegin Eva Pomeroy hat Otto Scharmer einen Text verfasst, in dem er die Wirkung und Relevanz eines Fourth-Person-Knowing anspricht. Dabei schöpft er aus seiner Forschung mit Transformationsprozessen in Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Wir sprachen mit ihm über die Qualitäten dieses Wissens der vierten Person und warum es heute so wichtig ist.
Jennifer Trujillo arbeitet derzeit für die COP16-Konferenz in Cali, Kolumbien, zum Thema Biodiversität. Sie hat sich intensiv mit partizipativer Führung, dem Global Ecovillage Network, dem Impact Hub Network und vielen Praktiken beschäftigt, die zum Systemwandel im weitesten Sinne beitragen können. Wir sprachen mit ihr über ihr Engagement.