Meditation ohne Hoffnung

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Interview
Published On:

January 27, 2025

Featuring:
Thomas Metzinger
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Issue:
Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
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Bewusstseinspraxis, die sich der Wirklichkeit stellt

Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Klimakrise und anderer destruktiver Verhaltensweisen des Menschen plädiert Thomas Metzinger für eine säkulare Bewusstseinskultur, die befähigt, angesichts der vielfältigen äußeren Bedrohungen ein Leben in Würde zu führen und handlungsfähig zu bleiben. Wir sprachen mit dem Philosophen und Meditationsübenden über Praktiken, die zur Erkenntnis führen, und die Frage, ob es mehr gibt, als wir denken.

evolve: In Ihrem Verständnis von Meditation grenzen Sie sich ab von spiritueller Praxis als einer Methode, die lediglich Hoffnung konstruiert. Ist die von Ihnen propagierte Form von spiritueller Praxis oder Meditationspraxis eine, die Menschen auch überfordern kann?

Thomas Metzinger: Ja, möglicherweise kann sie das. Vielleicht ist diese Form der Praxis nicht skalierbar und ist nichts für die vielen, sondern nur für einige wenige. Bei meinem Ansatz der Bewusstseinskultur ist das häufigste Missverständnis: »Da sagt einer, wir sollen jetzt alle meditieren und dann können wir die Klimakatastrophe noch abwenden!« Das sage ich nicht und das glaube ich auch nicht.

Wenn man die jetzt verfügbaren Zahlen und Fakten anschaut, dann kommt die Klimakatastrophe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit – das zuzugeben ist einfach eine Frage der intellektuellen Redlichkeit. Und intellektuelle Redlichkeit gehört eben zu einer ernsthaften Praxis dazu. Das ist kein Doomerism und auch kein Zweckpessimismus: Natürlich geht es weiterhin um jedes Zehntelgrad. Wir sollten deshalb auf keinen Fall aufgeben und die Hände in den Schoß legen. Im Grunde ist das Einzige, worum es jetzt noch geht, die Schadensbegrenzung. Und die intelligenteste Form von Schadensbegrenzung ist unter anderem der Aufbau einer Bewusstseinskultur, zu der eine säkularisierte Meditationspraxis gehört. Wenn Sie so wollen: Katastrophenmanagement 2.0.

Bei der Umsetzung einer solchen Bewusstseinskultur gibt es viele weitreichende Fragen, manche ganz praktisch, andere etwas tiefergehend. Ganz praktisch, zum Beispiel: Welche Bewusstseinszustände wollen wir unseren Kindern zeigen? Sollen wir Meditationsunterricht an Schulen und im gesamten Bildungssystem einführen? Welche Meditationstechniken in welchem Alter? Was ist eine vernünftige Drogenpolitik? CDU-Bewusstseinskultur bedeutet zum Beispiel »begleitetes Trinken ab 14 Jahren«. Wollen wir das wirklich? Wer genau verdient daran eigentlich Geld? Das sind die konkreten Fragen, auf die wir Antworten finden müssen.

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Bewusstseinspraxis, die sich der Wirklichkeit stellt

Angesichts der dramatischen Zuspitzung der Klimakrise und anderer destruktiver Verhaltensweisen des Menschen plädiert Thomas Metzinger für eine säkulare Bewusstseinskultur, die befähigt, angesichts der vielfältigen äußeren Bedrohungen ein Leben in Würde zu führen und handlungsfähig zu bleiben. Wir sprachen mit dem Philosophen und Meditationsübenden über Praktiken, die zur Erkenntnis führen, und die Frage, ob es mehr gibt, als wir denken.

evolve: In Ihrem Verständnis von Meditation grenzen Sie sich ab von spiritueller Praxis als einer Methode, die lediglich Hoffnung konstruiert. Ist die von Ihnen propagierte Form von spiritueller Praxis oder Meditationspraxis eine, die Menschen auch überfordern kann?

Thomas Metzinger: Ja, möglicherweise kann sie das. Vielleicht ist diese Form der Praxis nicht skalierbar und ist nichts für die vielen, sondern nur für einige wenige. Bei meinem Ansatz der Bewusstseinskultur ist das häufigste Missverständnis: »Da sagt einer, wir sollen jetzt alle meditieren und dann können wir die Klimakatastrophe noch abwenden!« Das sage ich nicht und das glaube ich auch nicht.

Wenn man die jetzt verfügbaren Zahlen und Fakten anschaut, dann kommt die Klimakatastrophe mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit – das zuzugeben ist einfach eine Frage der intellektuellen Redlichkeit. Und intellektuelle Redlichkeit gehört eben zu einer ernsthaften Praxis dazu. Das ist kein Doomerism und auch kein Zweckpessimismus: Natürlich geht es weiterhin um jedes Zehntelgrad. Wir sollten deshalb auf keinen Fall aufgeben und die Hände in den Schoß legen. Im Grunde ist das Einzige, worum es jetzt noch geht, die Schadensbegrenzung. Und die intelligenteste Form von Schadensbegrenzung ist unter anderem der Aufbau einer Bewusstseinskultur, zu der eine säkularisierte Meditationspraxis gehört. Wenn Sie so wollen: Katastrophenmanagement 2.0.

Bei der Umsetzung einer solchen Bewusstseinskultur gibt es viele weitreichende Fragen, manche ganz praktisch, andere etwas tiefergehend. Ganz praktisch, zum Beispiel: Welche Bewusstseinszustände wollen wir unseren Kindern zeigen? Sollen wir Meditationsunterricht an Schulen und im gesamten Bildungssystem einführen? Welche Meditationstechniken in welchem Alter? Was ist eine vernünftige Drogenpolitik? CDU-Bewusstseinskultur bedeutet zum Beispiel »begleitetes Trinken ab 14 Jahren«. Wollen wir das wirklich? Wer genau verdient daran eigentlich Geld? Das sind die konkreten Fragen, auf die wir Antworten finden müssen.

Und dann gibt es eine neue, aber eher abstrakte Frage, die mir wichtig erscheint: Wie bewahrt man seine Selbstachtung in einer historischen Epoche, in der die Menschheit als Ganze ihre Würde verliert? Die Klimakatastrophe betrifft den gesamten Planeten, es ist nicht nur ein lokaler Krieg oder eine lokale Umweltkatastrophe. Die Atmosphäre ist globales öffentliches Gut. Historisch neu ist dabei auch, dass acht Milliarden Menschen gemeinsam der Zerstörung dieses Gutes im Internet zuschauen können. Wir scheitern alle zusammen und sehenden Auges daran, wirksam etwas gegen den Klimawandel zu tun.

»Die intelligenteste Form von Schadensbegrenzung ist der Aufbau einer Bewusstseinskultur.«

Diese Situation muss ganz bewusst in eine ernsthafte spirituelle Praxis aufgenommen werden, denn sie hat auch die Funktion, eine Antwort auf die neue Kernfrage zu finden: Wenn die ganze Welt um einen herum in Zeitlupe kollabiert, wenn die eigene Spezies scheitert – wie bewahrt man dann als einzelner ethischer, spirituell praktizierender Mensch seine Selbstachtung? Wenn man klar sieht, dass die große Mehrheit die Fähigkeit zur Bewusstheit, zum rationalen Argumentieren, zu Empathie in sich selbst nicht achtet und wertschätzt, wie kommt man dann ohne Bitterkeit zu einem »An mir soll es jedenfalls nicht gelegen haben!«?

Ich habe darauf keine fertige Antwort. Es gelingt mir selbst auch nur selten. Bewusstseinskultur ist eher so etwas wie ein offenes gemeinsames Projekt. Was machen die wenigen von uns, die etwas ernsthafter leben wollen? Ich glaube, dass eine ernsthafte Meditationspraxis dabei eine wichtige Rolle spielen kann. Aber vielleicht ist das ja auch falsch und andere Dinge sind eigentlich viel wichtiger.

Der globale Panikpunkt

e: Warum spielt Meditation hier eine ernsthafte Rolle, um diesen Panikpunkt, wie Sie es nennen, zu vermeiden oder zu minimieren?

TM: Der Panikpunkt wird auch kommen, wenn viele Menschen regelmäßig meditieren. Ich kann nicht sagen, wann der kommt. Vielleicht kommt er erst in 50 Jahren, wenn die Allgemeinbevölkerung merkt, dass die Katastrophen größer werden und wir nicht mehr viel machen können.

Der »globale Panikpunkt« wird der historische Moment sein, in dem die große Mehrheit der ganz normalen Menschen auf unserem Planeten plötzlich zwei einfache Tatsachen wirklich realisieren wird, nicht nur mit dem Intellekt, sondern auch gefühlsmäßig. Tatsache eins: Alles, was man ihnen in den letzten vier Jahrzehnten über den Klimawandel und die planetare Krise erzählt hat, entsprach tatsächlich der Wahrheit. Tatsache zwei: Jetzt ist es zu spät, denn die Katastrophe beschleunigt sich nicht nur, sie ist auch unumkehrbar. Der globale Panikpunkt wird ein entscheidender psychologischer Kipppunkt sein.

Es gibt ja schon eine kleine Gruppe von Kollapsologen, die davon ausgehen, dass der Kollaps unvermeidlich ist und dass man sich der Tatsache stellen muss, dass auch ein sozialer Kollaps kommt. Manche von denen sagen: »Falsch, Herr Metzinger, der Panikpunkt wird niemals kommen – die Leute werden durch KI-gesteuerte soziale Medien so gut verblödet und ruhiggestellt, dass bis ganz zum Ende gar nichts passiert.« Es kann gut sein, dass meine Kritiker da Recht haben.

Die Frage ist, wie man damit umgehen kann, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht für diese Dinge interessiert.

Bei der Jahreskonferenz der MBSR-Lehrer habe ich gehört, dass die Leute zwar merken, dass ihnen die Achtsamkeitspraxis sehr guttut, aber nach anderthalb Jahren hören sie trotzdem wieder auf damit. Und es gab ja schon viele große Meditationsbewegungen wie die weltumspannende TM-Bewegung vor 40 Jahren, die schnell sektenartig wurde und keine nachhaltige Veränderung bewirkt hat. Wer macht heute noch Transzendentale Meditation?

Jenseits von Hoffnung
und Verzweiflung

e: Haben Sie eine Erklärung dafür?

TM: Von den Menschen, die vorübergehend eine spirituelle Praxis ausprobieren, ist es wahrscheinlich nur für einen ganz kleinen Teil wirklich existenziell relevant. Was viele Leute anzieht, sind »Snackangebote«, einfache Achtsamkeitsübungen mit Apps. Das ist eine Lifestyle-Achtsamkeit, die gerade in Mode ist, genauso wie Joggen, eine Diät oder Taylor Swift. Solche Trends kommen und gehen und sind meist einfach Konsumangebote für die Leute in den reichen Ländern.

Zwischen ernsthafter Praxis und Achtsamkeitstrend gibt es, das ist mein Verdacht, viele Leute, für die die eigene Praxis eine Strategie der Sterblichkeitsverleugnung ist. Oder eine Strategie, um eine kohärente Lebensgeschichte zu entwickeln: Ich bin eine Sucherin, ich habe einen Meister, ich habe die wahre Lehre schon entdeckt und jetzt lebe ich danach. Ich bezeichne das als »narrative Selbsttäuschung«.

Für diese Leute ist Hoffnung und Zuversicht ganz wichtig. Haben Sie gesehen, dass es mittlerweile einen ganzen Buchmarkt für Zweckoptimismus und Zuversichts-Kitsch gibt? Für mich ist Hoffnung letztlich eine Form von Unfreiheit. Ein bewusstes Leben wird immer versuchen, jenseits von Optimismus und Pessimismus zu sein und das, was ist, im Moment zu sehen, nicht bewertend, eben jenseits von Hoffnung und Verzweiflung.

e: Es gibt viele religiöse Angebote, die Unsterblichkeit oder Schutz versprechen. Das sind Angebote, mit dem Panikpunkt umzugehen. Sie sprechen von Meditation als epistemischer Praxis, die einen mit der Realität konfrontiert. Neben Hoffnung oder Glauben gibt es zwei Möglichkeiten, mit der Härte der Realität umzugehen. Die eine ist Zynismus, die andere Stoizismus.

Wie kann Bewusstseinskultur in dieser Krisensituation hilfreich sein, wenn sie nicht auf Hoffnung oder Zynismus gründet? Wo­rauf beruht die Kraft der Bewusstseinskultur, eine Resilienz zu schaffen, mit der wir dem Panikpunkt begegnen können?

TM: »Schutz anbieten« – das tun die Mafia und Donald Trump auch. Glauben bedeutet, »etwas für wahr halten«, und wenn es ohne Argument oder empirische Belege geschieht, ist es im Grunde ein intellektuelles Glaubensbekenntnis. Man verachtet die eigene Vernunft. Auch Zynismus wäre – heute – im Wesentlichen eine intellektuelle Haltung, eine gefühllose, mitleidlose, menschenverachtende Form von beißendem Spott. Aber ganz am Anfang war es etwas anderes: Die kynischen (»zynischen«) Philosophen hatten das Ideal der Bedürfnislosigkeit und einen ethischen Skeptizismus. Stoizismus dagegen hat mit Seelenruhe, Gelassenheit und ganzheitlicher Welterfassung zu tun. In Wirklichkeit waren die antike Skepsis oder Stoa eine spirituelle Lebensform. Man muss nicht immer nach Indien schauen.

Strategien zur Sterblichkeitsverleugnung

e: Marc Aurel hat die Skepsis existenziell als Grundlage einer positiven Lebenseinstellung gesehen. Das war weder intellektuell noch lebensfremd, es war eine spirituelle Praxis.

TM: Ja, in diesem Sinne müssen wir nicht nach Tibet schauen, es finden sich ganz viele Wurzeln in unserer eigenen westlichen Kultur. Bei der Stoa in Griechenland wurden sehr viele weise Dinge gesagt. Wenn ich mich selbst nur daran halten würde, dann wäre mein Leben schon viel besser. Zum Beispiel die einfache Regel, dass man sich nicht über Leute unterhält, die nicht anwesend sind. Wenn jemand nicht dabei ist, um sich verteidigen zu können, dann reden wir nicht über ihn, weder im Guten noch im Schlechten. Eine weitere Haltung der Stoa ist wahrnehmen ohne zu urteilen. Daran sieht man, dass die Traditionen in der Wurzel sehr ähnlich sind.

Karen Müller, GESICHT, 1981, Porzellanikon, Staatliches Museum für Porzellan in Hohenberg a. d. Eger, Foto: Alexander Feig

Aber die allermeisten Leute, die sich solchen Praktiken zuwenden, folgen einer alten menschlichen Strategie zur Sterblichkeitsverleugnung: Wir erzeugen veränderte Bewusstseinszustände, wir trommeln, wir tanzen, wir nehmen heilige Pflanzen ein, wir fasten, wir unterziehen uns einem Schlafentzug, wir beten und wir meditieren. Wir erleben dann veränderte Bewusstseinszustände, und wenn sie wieder vorbei sind, interpretieren wir sie so, wie es uns passt: Ich habe gesehen, dass es etwas jenseits der physikalischen Welt gibt, dass ich eine unsterbliche Seele bin, dass es einen unaussprechlichen, tiefen Sinn gibt. In der besseren Drogenszene und auch bei Meditierenden gibt es diesen Mechanismus, dass man Zustände erzeugt, damit man den anderen sagen kann: »Ach, ihr wisst ja alle überhaupt nicht, wovon ihr redet! Ihr versteht das ja gar nicht.« Und es ist ja irgendwie auch so, die anderen verstehen es wirklich nicht. Trotzdem: Neue metaphysische Annahmen brauchen eine unabhängige Rechtfertigung durch vernünftige Argumente.

e: Wir bilden also aus diesen Bewusstseinszuständen heraus Identitäten, die uns als Existenz stabilisieren. Aber es sind illusionäre Identitäten.

TM: Ja, die Buddhisten würden es als Identifikation, Verdinglichung oder Kontraktion bezeichnen.

Beschleunigung der Religiosität

e: Diese Identifikationen hatten historisch auch eine gesellschaftsbildende Kraft. Das ist die Kraft der Religionen, die aufbauend auf Identitäten, Vorstellungen von ewigem Leben oder Wiedergeburt, einer göttlichen Autorität gesellschaftsstabilisierend gewirkt haben. Das ist zu einem Zeitpunkt, an dem wir von gesellschaftlicher Panik sprechen, zunächst einmal nichts Schlechtes. Woher nimmt eine Spiritualität oder Bewusstseinspraxis, die auf die nüchterne Nichtigkeit des Seins setzt, die Kraft, individuell und kollektiv-gesellschaftlich stabilisierend zu wirken, damit wir mit dem Panikpunkt so umgehen können, dass wir nicht einfach Opfer der Panik werden?

TM: Nichtigkeit ist zu stark formuliert. Näher sind mir Meister Eckharts »Istigkeit« oder die buddhistische »Soheit«. Mir geht es bestimmt nicht um Nihilismus, aber es ist ein ganz wichtiges Problem, das Sie benennen. Es ist nachweislich so, dass Leute, die fest in einem religiösen Wahnsystem leben, kürzere Wundheilzeiten haben, früher aus dem Krankenhaus entlassen werden, mit Todesfällen besser umgehen können. Wenn jemand stirbt, sagen sie: »Wir sehen uns bald wieder!«

Natürlich haben sich die Religionen genau deshalb entwickelt und sich über viele Jahrhunderte gehalten, länger als jede Regierung und jeder Nationalstaat. Sie erfüllen ein bestimmtes Bedürfnis, das die Menschen kurzfristig psychisch stabiler macht und sie dazu bringt, mehr Kinder zu haben. Für das individuelle Wohlbefinden kann das funktionieren. Vielleicht funktioniert es sogar ein ganzes Leben lang, aber solche Vorstellungen können auch schnell zerbrechen. Und wenn man in einem längeren Zeitfenster schaut, führt fast jede organisierte Religion irgendwann zu Krieg, weil durch sie eine Ingroup/Outgroup-Dynamik entsteht.

Angesichts der »schützenden« Funktion der Religion könnte man Ihre Fragen zuspitzen und fragen: Macht die Idee einer säkularen Bewusstseinskultur den Leuten nicht Todesangst? Es könnte wirklich sein, dass eine solche Praxis nicht skalierbar ist und die breite Masse ein metaphysisches Wahnsystem braucht, an das sie glauben kann. Deshalb sage ich auch voraus: Während sich die Klimakrise weiter verschärft und mit Trump & Co. vielleicht auch einiges andere noch etwas schneller eskalieren wird, steigt sicher auch der Zulauf zur organisierten Religion, zu Esoterik und pseudo-spirituellen Bewegungen.

e: Die Beschleunigung der Religiosität in verschiedensten Formen ist ein ganz wahrnehmbares Phänomen, es ist bereits in vollem Schwung.

TM: Ja? Die Frage ist einfach, ob man offen sein kann für wissenschaftliche Daten und rationale Argumente, und gleichzeitig offen für diese innere Dimension, über die man eigentlich gar nicht sprechen, aus der man aber Kraft schöpfen kann. Das ist ja auch Ihre Frage. Und es könnte sein, dass es nicht möglich ist, oder nur für wenige Leute wie Sie.

Eine offene Frage

e: Aber wenn ich da nachfragen darf: Gibt es aus Ihrer Sicht einen säkularen Weg, auf dem diese Dimension der Wirklichkeit anerkannt wird, aber man gleichzeitig nicht in mythologisches Denken verfällt? Wie könnte man so etwas entwickeln, damit es nicht nur für ein paar Auserwählte zugänglich ist, sondern zumindest für eine gesellschaftliche Gruppe, die weder der Illusion religiöser Mythen noch dem Zynismus eines säkularen Nihilismus verfällt?

TM: Mein Ziel ist ein anderes, und das habe ich schon erreicht. Das Ziel ist, dass Leute wie Sie solche Fragen stellen und dass mehr von uns zusammen darüber nachdenken. Bewusstseinskultur würde für mich bedeuten, einen kulturellen Kontext zu schaffen, in dem sehr viele Leute sagen: Das ist für mich eine offene Frage. Und eine wichtige Frage. Es ist ein Forschungsprojekt, wir denken jetzt zusammen darüber nach. Und da gibt es auch überraschende Entwicklungen und Ergebnisse.

Ich bin Mitglied der Giordano Bruno Stiftung, einer Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung in Deutschland. Gleichzeitig habe ich meine letzten beiden Vorträge in Kirchen gehalten. Sogar bei uns im Nachbardorf. Dort kamen Menschen auf mich zu und sagten: »Unsere Kirchen sind leer, wir können die Gottesdienste nur noch alle zwei Wochen durchführen. Wir wollen ein Experiment machen. Würden Sie an einem Sonntagmorgen in der Kirche über Bewusstseinskultur sprechen?« So etwas hatte ich noch nie gemacht. Die Pastorin und meine Gastgeber waren sehr nett, aber auch etwas enttäuscht, denn es sind zwar viele Leute gekommen und es war eine gute Diskussion, aber die Christen, die nicht mehr in ihre Predigt kommen, die waren wieder nicht anwesend.

»Wir scheitern sehenden Auges daran, wirksam etwas gegen den Klimawandel zu tun.«

Das ist für mich eine wirklich interessante Entwicklung. Sowohl evangelische Kirchenleute als auch junge katholische Theologen kommen auf mich zu und haben das Gefühl, »Bewusstseinskultur« ist ein spannender Begriff. Nicht gerade mein normales soziales Umfeld … Es gibt bereits viele Suchbewegungen, aber wenn ich bei uns auf dem Land so gesprochen hätte wie jetzt mit Ihnen, dann wäre es viel zu viel für die Leute gewesen.

e: Ja, es gibt einerseits die Menschen, die Bewusstseinskultur und Meditation praktizieren. Sie haben einen gewissen selbstkritisch elitären Blick darauf, dass das nicht für viele Menschen passend ist. Dann gibt es zum Beispiel die Landbevölkerung, die nicht mehr in die Kirchen geht. Dazwischen gibt es ein weites Feld von Menschen, die über diese Fragen nachdenken, die vielleicht auch Ihre Bücher lesen, die nicht in ein mythologisches Denken zurückgehen wollen, aber trotzdem Bewusstseinskultur als etwas empfinden, das vielleicht einen Weg nach vorne freimacht. Wie können Menschen oder auch Gesellschaften so unterstützt werden, dass dieser Weg nach vorne, um das als Metapher zu verwenden, sich erweitert?

TM: Das Wichtigste ist eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis. Nicht so viele Bücher, gar nicht so viele Worte. Man muss den Leuten klarmachen, dass man Meditation praktizieren kann, ohne an irgendeinen Unsinn zu glauben oder sich irgendetwas Asiatischem zuzuwenden. Einfach machen, nicht dauernd drüber reden.

Es gibt andere, die sagen, Psychedelika wirken viel schneller und effektiver. Aber die Erfahrung zeigt, dass das oft nicht nachhaltig ist, dass sie die Erfahrung in ihrem Leben nicht konsolidieren können. Und es gibt auch Leute, die sich auf einen gepflegten Hedonismus beschränken: Gut essen und trinken, gute Bücher lesen, Sex, mehr gibt es nicht in dieser Welt und in diesem Leben. Das kann man kultivieren, und das ist auch eine Form von Bewusstseinskultur. Es gibt wieder andere, die sagen: Ja, das ist alles schön und gut, aber mir würde es viel mehr bedeuten, wenn mir irgendetwas gegen meine Handysucht hilft.

e: Die suchende Bewegung, in der wir in unserem Gespräch sind, vermittelt für mich gerade auch in der Unbestimmtheit eine Offenheit. Es ist eine forschende Geisteshaltung, die ergebnisoffen die Bedeutung spiritueller Praxis bewegt, um diesen Erfahrungsraum zu eröffnen. Das sehe ich zumindest als eine Möglichkeit, damit wir in dem Panikmoment, den ich auch erwarte, zumindest Chancen haben, besser damit umgehen zu können, um es vorsichtig zu formulieren. Was dann wirklich passiert und wie wir wirklich reagieren werden, ist eine andere Sache.

TM: Ja, die Frage ist, ob man ein Leben führen kann, bei dem man nicht die Augen vor den Tatsachen verschließt, sondern so zu leben versucht, dass man zu sich selbst sagen kann: An mir hat es nicht gelegen oder an mir soll es auf dem Planeten zumindest nach Möglichkeit nicht liegen. Vielleicht kann man dann am Ende, wenn es kritisch wird oder wenn man sterben muss, sagen: Okay, ich habe viele Fehler gemacht, aber ich habe es ernsthaft versucht.

Imaginativer Realismus

e: Ich würde das einen imaginativen Realismus nennen. Die Imagination als rationale Möglichkeit, eine Wirklichkeitsbegegnung ernst zu nehmen. Im Prinzip können wir noch so rational sein, die Imagination ist Teil unserer Weltwahrnehmung. Ich kann meinen Arm nicht so wahrnehmen, dass es ein Arm ist, der zu meinem Körper gehört. Das ist eine Imagination, das ist keine Realität. Die Realität ist also ohne Imagination nicht wahrnehmbar. Können wir einen erweiterten Imaginationsbegriff zulassen, der dann auch erlaubt, dass etwas Heiliges real ist, dass es sogar eine mythische Dimension haben darf, wenn ich selbstreflexiv wahrnehme, dass wir das selbst produzieren? Es ist also keine mythische Wahrheit, die gegeben ist, sondern Teil unserer Wirklichkeitsbewältigung, die als solche ernst genommen werden will, weil wir sonst gar nicht in der Wirklichkeit ankommen.

TM: Wir haben große Fortschritte gemacht bei den Theorien darüber, wie das bewusste Gehirn funktioniert. Wenn man die ganze Mathematik, die diesen Forschungen zugrunde liegt, weglässt, kommen wir zu der Erkenntnis: Was wir als den Arm erleben, ist eine kontrollierte Online-Halluzination. Das Gehirn träumt sozusagen die Welt. Wenn wir im Wachbewusstsein sind, wird dieser Traum durch die Sinnesorgane eingeschränkt. Das ist eine dauernd stattfindende Halluzination, die im Wachbewusstsein ganz gut mit der Welt übereinstimmt, zumindest halbwegs funktioniert. Wir sind aber eigentlich nur im Kontakt mit dem Ergebnis einer generativen Imagination, die an die Wirklichkeit prallt und versucht, die Eindrücke von den Sinnesorganen möglichst gut vorwegzunehmen.

Volker Sommer, ein deutscher Primatologe und Evolutionstheoretiker, war als junger Mann bei den Jesus People. In einer öffentlichen Diskussion, die ich moderiert habe, sagte er vor langer Zeit, er könne dieses religiöse Gefühl nach Bedarf herstellen. Er weiß, dass das alles Unsinn ist, aber er kann in eine Kirche gehen und das Gefühl von religiöser Inbrunst und Glauben in sich erzeugen und sich daran erfreuen. Das könne man machen, ohne daran zu glauben.

e: Sie nehmen hier aber auch eine Setzung vor, nämlich dass das alles Unsinn ist und dass die Wirklichkeit etwas anderes ist. Vielleicht ist aber unser Verständnis von Rationalität zu eng gesetzt, dass sie diesen imaginativen Raum nicht rational mitdenkt. Der Arm ist ja nicht Unsinn. Ich kann natürlich sagen, der Arm besteht aus Zellen, Molekülen usw. und das ist die Wirklichkeit. Aber der Punkt ist, dass die Wirklichkeit, wie wir ihr begegnen können, und die Wirklichkeit, in der wir leben können, keine molekulare Wirklichkeit ist, sondern eine gesellschaftliche und kulturelle Wirklichkeit. Die Gesellschaft, die Wirklichkeiten schafft, ist imaginativ. Aber vielleicht ist das Imaginative eine Form von Wirklichkeit. Das ist das Wunderbare an dem deutschen Wort Wirklichkeit, weil es nicht objektbezogen, sondern wirkungsbezogen ist. Damit können wir Wirklichkeit erweiterter denken. Das ist dann nicht unbedingt ein irrationaler Zugang zur Wirklichkeit, sondern ein erweiterter Rationalismus, der Imagination mitdenken kann. Nicht als Humbug, sondern als etwas, das immer Teil unserer Weltwahrnehmung ist. Denn wenn wir ehrlich sind, können wir ohne das gar keine Weltwahrnehmung haben.

Karen Müller, ROTER MÄNNERKOPF (MASKE), 2011

TM: Ich würde lieber von Modellen sprechen, die wir erzeugen. Natürlich sind die Modelle selbst auch wirklich, sie haben ja auch eine kausale Wirksamkeit, wie man sieht. Wenn jemand das Heilige imaginiert, kommt er früher aus dem Krankenhaus und die Wunden heilen schneller. Das ist wirklich genau in dem Sinn, dass es auch kausal wirkt. Die Frage ist, inwieweit man die Wirklichkeit nachhaltig, also in einem positiven Sinne, verändern kann durch eine solche Form von Imagination.

e: Man kann die Frage auch umgekehrt stellen: Wo fängt die Wirklichkeit an? Um mit dem Wort Wirklichkeit zu spielen: Wenn etwas wirkt, ist das schon Teil der Wirklichkeit? Ich weiß, dass man hier schnell auf schiefe Denkwege kommt, aber es ist interessant, die Wirklichkeit von ihrer Wirksamkeit her zu denken. Den Rationalitätsbegriff imaginativ zu erweitern, ist etwas anderes als Irrationalismus. Und es ist auch kein Zynismus. Mir ist klar, dass es eine imaginative Wirklichkeit ist, aber existenziell im Vollzug ist es mir so wichtig wie der Pflasterstein auf der Straße.

TM: Ich werde morgen ein langes Gespräch mit Wissenschaftlern führen, die in
Kathmandu an der Rangjung Yeshe Universität mit tibetischen Buddhisten darüber reden, wie man das Bodhisattva-Ideal in die künstliche Intelligenz einprogrammieren kann, damit sie sich ethisch verhält, indem sie sich selbst dem Bodhisattva-Ideal unterwirft. Das Bodhisattva-Ideal ist auch eine Imagination, die größtmögliche Imagination, könnte man sagen: Mitgefühl für alle empfindungsfähigen Wesen, die es jemals geben wird, zu kultivieren. Und genau wie Sie würden die Buddhisten natürlich auch sagen, dass sich Menschen dadurch zum Guten verändern. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um ein mentales Modell handelt.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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