Wo wir Ehrfurcht erfahren

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 30, 2024

Featuring:
Dr. Dimitris Xygalatas
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Issue:
Ausgabe 42/2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Wege zu Sinn und Verbundenheit

Dimitris Xygalatas hat in wissenschaftlicher Recherche und Feldforschung die Kraft der Rituale untersucht und herausgefunden, dass Rituale als Quelle von Verbundenheit und Sinnfindung gerade heute besonders wichtig sind.

evolve: In unserer postmodernen Gesellschaft zeigt sich gerade ein neues Interesse an Ritualen, auch an der Suche nach Sinn. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

Dimitris Xygalatas: Rituale sind so erfolgreiche Sozialtechniken, weil sie in der Lage sind, verschiedene psychologische Mechanismen gleichzeitig zu aktivieren. So vermitteln sie beispielsweise ein Gefühl von Stabilität, einen Sinn für Tradition. Und wenn wir wissen, dass wir dieselbe Praxis ausüben wie andere Mitglieder unserer Gruppe – und das manchmal schon seit Generationen –, vermittelt uns das ein Gefühl von Gemeinschaft.

Gleichzeitig geben uns Rituale aufgrund ihres stark strukturierten Charakters ein Gefühl der Kontrolle. Unser Gehirn ist auf Struktur ausgelegt, es ist im Grunde genommen ein Vorhersageinstrument. Unser Gehirn muss Vorhersagen machen. Ein einfaches Beispiel dafür ist die Sprachverarbeitung. Bevor ich meinen Satz beende, haben Sie eine bestimmte Erwartung, wie mein nächstes Wort lauten wird. Das ist eine sehr effiziente kognitive Architektur, weil wir Vorwissen nutzen können, um zukünftige Ereignisse vorherzusagen. Das heißt umgekehrt auch, dass ich beim Erleben von Unsicherheit, wenn ich also keine Vorhersagen treffen kann, Angst spüre. Die Architektur unseres Gehirns veranlasst uns dazu, nach Mustern zu suchen. Wenn wir Menschen unter Laborbedingungen Stress aussetzen, werden ihre Verhaltensweisen ritualisierter. Und wenn wir dann die physiologischen Reaktionen der Menschen messen, wenn sie Rituale durchführen, stellen wir fest, dass sich ihre Angst verringert. Indem die Rituale uns so etwas wie Regelmäßigkeit und Kontinuität bieten, schaffen sie also ein Gefühl der Kontrolle.

Die Kombination dieser Effekte hilft uns, Ängste zu bewältigen, und gibt uns das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das größer ist als wir selbst.

Der Bereich des Heiligen

e: Was sind für Sie die wichtigsten Merkmale eines Rituals?

DX: Ein Merkmal von Ritualen ist, dass ihr kausaler Zusammenhang undurchsichtig ist. Wenn wir Menschen fragen, warum sie Rituale durchführen, antworten sie meistens: »Ich weiß es nicht, wir machen sie einfach.« Entweder gibt es keinen erklärten Zweck, oder wenn es einen Zweck gibt, dann gibt es keine Verbindung zwischen den Handlungen, die wir ausführen, und dem erwarteten Ergebnis. Wenn ich einen Regentanz aufführe, gibt es keine kausale Verbindung zwischen meinem Tanz und dem Wasser, das vom Himmel fällt.

»Die Architektur unseres Gehirns veranlasst uns dazu, nach Mustern zu suchen.«

Ein weiteres Merkmal von Ritualen, das sie von Gewohnheiten oder Routinen unterscheidet, besteht darin, dass Rituale den Bereich des Heiligen markieren. Das wird offensichtlich, wenn Rituale unterbrochen werden. Manchmal verwenden wir den Begriff »Ritual« sehr großzügig und sagen zum Beispiel: »Ich tanke immer an einer bestimmten Tankstelle. Das ist zu meiner Gewohnheit, meinem ­Ritual geworden.« Aber sollten Sie einmal zu dieser Tankstelle fahren und feststellen, dass sie gerade geschlossen ist, wird Sie das nicht weiter aufregen. Wenn dagegen unsere tieferen Rituale unterbrochen werden, empfinden wir das als störend und moralisch verwerflich. Menschen nehmen Rituale grundsätzlich anders wahr als gewöhnliche Handlungen, da sie den Bereich des Alltäglichen vom Bereich des Heiligen abgrenzen.

Im Westen missbrauchen wir den Begriff Ritual oft. Manchmal sagen wir, meine Kaffeepause ist mein Ritual oder Zähneputzen ist mein Ritual. Ich habe viele Menschen auf der ganzen Welt gebeten, Rituale aufzuzählen, die für sie wichtig sind, und niemand – außer in der westlichen Welt – hat jemals den Kaffee oder das Zähneputzen erwähnt.

e: In der Geschichte der westlichen Kultur hat es in den letzten 200 Jahren eine Distanzierung vom Ritual gegeben. Und in unserer postmodernen Kultur sind das Ritual und auch die Beziehung zum Heiligen nur noch in einer ironischen Bedeutung erlaubt.

DX: Ja, aber unter den Menschen sind die Rituale lebendig. Zu Beginn meiner Feldforschung kehrte ich in mein Heimatland zurück und führte ethnografische Studien in ländlichen griechischen Gebieten durch. Es besteht eine Spannung zwischen der Art und Weise, wie sich Theologen und Priester eine Gottesanbetung durch die Menschen wünschen, und der Art und Weise, wie die Menschen ihre Gottesverehrung tatsächlich zum Ausdruck bringen wollen. Selbst als die Kirche versucht hat, sich von einer übermäßigen Ritualisierung zu distanzieren, haben sich die Menschen dagegen gewehrt. Sie tragen all diese Überzeugungen in sich, die die Kirche als heidnisch bezeichnen würde. Aber die Menschen glauben weiter an sie, und schließlich gab die Kirche auf. So war es in Griechenland auch mit dem Glauben an den sogenannten »bösen Blick« (was bedeutet, dass jemand mit negativen Gedanken oder neidischem Blick anderen Unheil bringen kann). Die Kirche akzeptierte dieses Phänomen schließlich in ihrer Theologie, bestand aber zugleich darauf, dass man den Folgen des bösen Blicks nur mit einem Ritual in der Kirche begegnen kann. Aber in Wirklichkeit heilt sie jeder zuhause mit seinen eigenen Ritualen.

Vor allem der Protestantismus hat versucht, dieser ausgeprägten Ritualisierung ein Ende zu setzen. Die Phänomene, die wir heute beobachten, wie etwa die New-Age-Spiritualität, treten vor allem in protestantischen Kontexten auf. Sie sind genau genommen eine Reaktion auf diesen Trend und ein Versuch, den Sinn für das Heilige zurückzugewinnen. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel finden die intensivsten ekstatischen religiösen Rituale in Ablegern der protestantischen Kirche wie den evangelikalen Kirchen statt. Sie sind eine vorhersehbare Reaktion auf den Versuch, die Kirche von Ritualen zu befreien.

Geteilte Gefühle

e: Rituale scheinen eine Funktion in unserer Sinnfindung zu erfüllen, die wir in einer eher rationalistischen Beziehung zu unserer Umwelt nicht finden. Denn was Sie mit dem Protestantismus beschreiben, gilt für unsere westliche, aufgeklärte Kultur im Allgemeinen.

DX: Die Aufklärung hat bei allem Wunderbaren, das sie mit sich brachte, auch grundlegende Aspekte der menschlichen Existenz übersehen, nämlich die Bedeutung von Tradition, Familie und Gemeinschaft. Unsere sozialen Unterstützungsnetze sind ein wesentlicher Weg, um Sinn zu finden. Unser Selbstwertgefühl basiert auf dem Gefühl, wer wir als Mitglied einer Gruppe sind. Rituale sind sehr gut geeignet, dieses Selbstverständnis als kollektives Wesen zu schaffen und zu stärken.

Dies geschieht unter anderem durch phänotypischen Abgleich. Wir beobachten Hinweise darauf, mit wem wir (seelen-)verwandt sind. Viele Studien zeigen, dass wir Menschen, die uns ähnlicher sind, besser behandeln – mit allen negativen Folgen. Wir fühlen uns mit Menschen, die zu unserer Gruppe gehören, stärker verbunden. Durch die Teilnahme an Ritualen erhalten wir all diese verstärkenden Hinweise: Wir kleiden uns ähnlich, wir bewegen uns ähnlich, wir singen die gleichen Gesänge, wir benutzen die gleichen Worte, wir durchleben die gleichen emotionalen Erfahrungen. Das ist einer der grundlegenden Wege, auf denen wir phänotypische Übereinstimmung herstellen.

Ein anderer Weg ist das Teilen von Gefühlen. Wenn wir gemeinsam ein traumatisches Erlebnis durchmachen, weil wir zum Beispiel gemeinsam in den Krieg zogen oder einen schrecklichen Unfall überlebt haben, fühlen wir eine Verbundenheit, die schwer zu beschreiben ist. Das verbindet uns für den Rest unseres Lebens. Viele traditionelle Rituale, die mit einem hohen Erregungszustand verbunden sind, wie Initiationszeremonien, scheinen besonders darauf ausgerichtet zu sein, Menschen zusammenzubringen, damit sie sich auf hochemotionale Verhaltensweisen einlassen. Auf diese Weise schaffen sie ein Gefühl der Seelenverwandtschaft.

e: Rituale sind also eine uralte menschliche Technik, um Vertrautheit zu schaffen. In einer globalisierten Gesellschaft machen viele Menschen die Erfahrung, dass sie die traditionelle Verwurzelung in einer Kultur, einschließlich der Rituale, verlieren und einer undefinierten, technologie­orientierten globalen Realität ausgesetzt sind. Wie funktioniert Ritualisierung in diesem neuen Umfeld? Sehen Sie neue Formen der Ritualisierung, die Antworten auf dieses globale Lebensgefühl geben?

DX: Eines der besten Beispiele war die Covid-Pandemie, als die Menschen ihrer Rituale beraubt wurden, was ein Dilemma darstellte. Die Hauptfunktionen von Ritualen bestehen darin, unsere Ängste zu lindern und ein Gefühl der sozialen Verbundenheit zu vermitteln. Während der Pandemie verstärkten sich die Angstgefühle der Menschen, und gleichzeitig verloren sie die Möglichkeit, in Verbindung mit anderen zu sein. Genau in diesem Moment wurde ihnen eines der grundlegenden menschlichen Mittel zur Linderung von Ängsten und zur Schaffung eines Gefühls der Verbundenheit entzogen: das Ritual. Unmittelbar nach Ausbruch der Pandemie haben die Menschen neue Formen von Ritualen entwickelt oder neue Wege gefunden, alte Rituale zu pflegen. Es gab Drive-in-Geburtstagsfeiern oder Abschlussfeiern zum Ende der Ausbildung in Form von Avatar-Inszenierungen und virtuellen Treffen. Oder Menschen setzten sich über die Regeln hinweg und riskierten Geldstrafen, ihre eigene Gesundheit und möglicherweise ihr Leben, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Rein rational betrachtet, ist das unvernünftig. Aber wir sind Menschen und keine Roboter. Diese Erfahrungen sind für uns von großer Bedeutung. Die Pandemie war ein klarer Beweis dafür, aber sie ist auch Ausdruck eines allgemeineren Phänomens.

»Im Westen missbrauchen wir den Begriff Ritual oft.«

Im Westen erleben wir eine Zunahme neuer Formen der Spiritualität. Vieles davon ist aus dem Fernen Osten entlehnt, wie Meditation oder Yoga. Selbst wenn wir neue Rituale schaffen, versuchen wir, sie in einer alten Tradition zu verankern. Es gibt aber auch ganz neue Formen, wie das Burning-Man-Festival, Musikkonzerte oder Menschen, die sich zu Reenactments, also zu Inszenierungen konkreter geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Form, treffen. Als ich in Dänemark lebte, gab es dort Leute, die sich als Wikinger verkleideten, eine Woche lang zelteten und umfassende kollektive Rituale durchführten, bei denen alte Schlachten nachgestellt wurden.

Transzendente Momente

e: Das neue Umfeld, in dem wir leben, könnte man als globalisiertes soziales Medienumfeld bezeichnen, das einen großen Teil der Beziehungsfelder ausmacht, mit denen wir verbunden sind. Das soziale Gefüge unserer Beziehungen wandelt sich in dieser neuen Realität der sozialen Medien. Hat dies auch Auswirkungen darauf, wie wir Rituale schaffen?

DX: Ja, das wird eine der größten Herausforderungen und eine potenzielle Bedrohung für unsere Sinnfindung sein. Wir sehen das bereits bei den jungen Generationen, deren Angstpegel in die Höhe schießt.

Rituale sind in einer Online-Umgebung nur sehr schwer nachzubilden, da sie größtenteils auf der Grundlage verkörperter kollektiver Interaktionen funktionieren. Es wird zwar ein Punkt kommen, an dem die Technologien uns das besser ermöglichen, aber nichts wird das Gefühl der Ehrfurcht ersetzen, das man bekommt, wenn man vor einem gigantischen Wasserfall steht.

Wenn ich an transzendente Erfahrungen in meinem Leben denke, erinnere ich mich an das erste Mal, als ich einen anderen Primaten in freier Wildbahn sah. Auge in Auge mit einem anderen Affen zu stehen, war für mich ein transzendenter Moment. Diese Erfahrungen sind durch virtuelle Technologien nur sehr schwer zu erreichen. Dasselbe gilt für das Singen in einem Stadion mit 30.000 Menschen bei einem Konzert oder in einer Megakirche.

e: Seit frühester Zeit ist unsere Beziehung zur Natur eine Quelle für Rituale. Hängt die Wiederbelebung von Ritualen mit der ökologischen Krise zusammen, in der wir uns befinden?

»Selbst wenn wir neue Rituale schaffen, versuchen wir, sie in einer alten Tradition zu verankern.«

DX: Unser Verhältnis zur Natur ist derzeit eine große Herausforderung. Die Menschen haben sich aus vielen Gründen von der Natur abgekoppelt. Aber einer dieser Gründe ist, dass wir mehr und mehr die Fähigkeit verlieren, das Heilige der Natur zu erfahren. In den letzten 15 Jahren habe ich Feldforschung auf der Insel Mauritius betrieben. In der Mitte dieser Insel befindet sich ein heiliger See. In der Legende, die man sich darüber erzählt, wie er heilig wurde, heißt es, dass dieser See mit dem Ganges verbunden und deshalb heilig war. In den 70er-Jahren flogen mauritische Lokalpolitiker nach Indien, nahmen eine Flasche Wasser aus dem Ganges mit, brachten sie zurück, veranstalteten eine große öffentliche Zeremonie und gossen das Ganges-Wasser in den See. Durch diese Zeremonie verstärkten sie dieses Gefühl des Heiligen. Im Ozean um Mauritius sind so gut wie alle Fischbestände erschöpft, überall herrscht Überfischung. Aber in diesem heiligen See gibt es riesige Fischvorkommen. Die Menschen dort respektieren die nötigen Regeln, weil der See als heilig gilt. Und ich frage mich immer wieder, wie wir diesen Sinn für das Heilige nutzen können, um die Natur wieder zu sakralisieren und die Menschen dazu zu bringen, ihre Beziehung zu unserer Lebensumwelt zu verändern.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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