Tod mit Wiedergeburt
Das Schumacher College wird »ausgewildert«
July 15, 2024
Ein gesellschaftliches, demokratisches Miteinander ist nicht nur ein System äußerer Institutionen, gesetzlicher Regelungen und Übereinkünfte. Es hat, wenn es widerstandsfähig ist, auch ein inneres Zentrum, eine Seele. Gibt es innere Haltungen, Fähigkeiten, Kompetenzen, seelische Eigenschaften, die eine demokratische Kultur von innen her stärken, beleben und erneuern? Wir haben fünf Menschen, die sich mit der Erneuerung unserer Demokratie befassen, gefragt:
Ein gesellschaftliches, demokratisches Miteinander ist nicht nur ein System äußerer Institutionen, gesetzlicher Regelungen und Übereinkünfte. Es hat, wenn es widerstandsfähig ist, auch ein inneres Zentrum, eine Seele. Gibt es innere Haltungen, Fähigkeiten, Kompetenzen, seelische Eigenschaften, die eine demokratische Kultur von innen her stärken, beleben und erneuern? Wir haben fünf Menschen, die sich mit der Erneuerung unserer Demokratie befassen, gefragt:
Die Essenz oder Seele der Demokratie ist das Gespräch. Wie steht es um das Gespräch in unserer Demokratie? Reden wir überhaupt noch miteinander, über Filterblasen, politische Lager und soziale Gräben hinweg? Wer beteiligt sich an diesem Gespräch? Wer moderiert es? Wer hat Zugang zu welchen Diskursräumen? Wer ist darin willkommen und wer nicht?
2023 sagten laut einer Allensbach-Umfrage mit 44 % erstmals eine Mehrheit der Befragten, man müsse vorsichtig sein, in Deutschland frei seine Meinung zu sagen. Demgegenüber waren nur 40 % der Ansicht, sich noch frei äußern zu können. Dieses Verhältnis war bei den Anhängern aller Parteien ähnlich, außer bei denen der Grünen, von denen 75% sich in ihrer Meinungsäußerung als frei empfanden. Bedeutet dies, dass wir eine de facto »Hegemonie« grüner Positionen haben, welche – bewusst oder unbewusst – den Diskursraum für alle anderen Positionen einengt?
Klarer denn je sehen wir heute, dass wir unsere Demokratie verlieren könnten, wenn wir sie nicht weiterentwickeln und vertiefen. Metamoderne und integrale Politik postulieren, dass stetige Weiterentwicklung nötig ist, um die Essenz zu bewahren.
Welche Dysfunktionalitäten sind Ergebnis »blinder Flecken« unseres politischen Betriebssystems? Wie ersetzen wir die vom Parteienwettbewerb generierten Reflexe des politischen Schlagabtauschs (Schuld ist immer die Gegenseite) und der Selbstprofilierung durch echtes Zuhören, Lauschen auf unseren gemeinsamen Purpose und kollektive Intelligenz? Wie lernen wir, Zwischentöne, Ambivalenzen und Grautöne auszuhalten und neugierig zu erforschen, statt vorschnell zu be- und verurteilen? Berührbarkeit, Verletzlichkeit, Menschlichkeit?
Dazu braucht es ausreichend sichere Räume, in denen Spannungen nicht wegmoderiert, sondern willkommen geheißen werden – als Hinweise auf vergessene Perspektiven und Bedürfnisse. So kann mehr Tiefe und daraus mehr Kohärenz entstehen.
Stell dir vor, du bist nicht du, sondern nur ein Arm. Genauer gesagt: dein eigener Arm, vielleicht dein rechter. Allerdings weißt du das nicht. Du bist ganz identifiziert mit deinem Arm-Ego. In diesem Bewusstsein lebst du so vor dich hin. Manchmal fühlst du dich etwas einsam, irgendwie abgeschnitten von allem. Aber diese Gefühle schiebst du schnell wieder weg. Wahrscheinlich würdest du so weitermachen, wenn nicht plötzlich zunehmende Schwierigkeiten aufträten: Ständig kommt dir jemand in die Quere, entgleiten dir Gegenstände, rempeln dich andere Arme an – alles scheint sich gegen dich verschworen zu haben. Die Welt steht Kopf! Das ist in etwa der Zustand, in dem wir uns befinden. Die Demokratie ist in eine Krise geraten. Oder sind es vielleicht wir selbst, die in der Klemme stecken und endlich aufwachen müssen, um demokratiefähig zu werden?
Demokratiefähigkeit hat damit zu tun, in welchem Bewusstsein wir uns selbst und die Welt, der wir angehören, wahrnehmen: Wir sind nicht nur ein Arm, sondern Teil eines größeren Organismus – der Erde. Wir sind mit anderen verbunden, müssen uns auf andere beziehen, uns als zusammengehörig erkennen. Die Erde ist kein Feindesland, das es zu erobern und niederzureißen gilt, sondern der Körper, den wir gemeinsam bewohnen. Und die anderen sind nicht unsere Feinde, sondern nur andere Teile desselben Organismus.
Viele vermeintliche Trennungen sind nicht zutreffend. Die oft angenommene Spaltung zwischen Leib und Seele, Mensch und Natur, Ich und Du ist bei Licht betrachtet nicht existent. So ist auch die Demokratie keine bloß äußere Realität, sondern ein Phänomen, das in Wechselwirkung mit dem Inneren des Einzelnen steht.
Demokratie, also die gleichberechtigte Teilhabe aller, erwächst aus einer »inneren Demokratie«: dass man die eigene innere Vielfalt bejaht und erkennt, wie viele »fremde« Prägungen und Anteile in einem wohnen. Die Bejahung des eigenen »Einsseins in Verschiedenheit« führt zur Bejahung von Anderen und Anderem. Wichtig ist, ein Verhältnis zum eigenen Gewissen zu kultivieren. Wenn dieses sensibel und unabhängig genug ist, mahnt es beständig die Achtung vor der Heiligkeit und Unantastbarkeit des Lebens an. Das ist das tiefste Gebot einer umfassenden Demokratie: dass alles Leben als Teil eines Ganzen Anspruch auf Anerkennung und Schutz hat.
So ist Demokratie die Arbeit an der Schaffung von Frieden: dass man sich selbst innerlich auf Frieden mit allen und allem ausrichtet und den Anderen entfeindet und anerkennt. Es gilt das Ghandi-Wort: »Es gibt keinen Weg zum Frieden, der Frieden selbst ist der Weg.« Die Seele ist eine Art inneres Feld, das die Kraft hat, äußere Felder zu bauen. Innerer Frieden baut am äußeren Frieden.
Gesunde Demokratien erfordern ein grundlegendes kulturelles Entwicklungsniveau, das die für selbstverwaltete Bürgerinnen und Bürger notwendigen »Seelenqualitäten« vermitteln kann. Die wichtigsten Seelenqualitäten für die Demokratie sind liberale Werte wie Redefreiheit, Gewissensfreiheit und wirtschaftliche Freiheit. Diese liberalen Werte entstehen in der kulturellen Struktur, die als Moderne bekannt ist. Nachhaltige Formen der Demokratie bedürfen demnach eines Fundaments der modernen Kultur.
Die Kultur der Moderne beruht ihrerseits auf den früheren Errungenschaften der zugrunde liegenden Formen der traditionellen Kultur. Wo es der traditionellen Kultur gelungen ist, die zivilisatorischen Werte Ehrlichkeit, Anstand und Fairness zu schaffen, kann sich die moderne Kultur entfalten. Aber ohne die Voraussetzung gesunder traditioneller Werte erliegen die Versuche, liberale Demokratien zu schaffen, oft der Korruption.
Der Aufbau einer besseren Form der Demokratie erfordert eine weitere kulturelle Evolution. Doch wie alle Formen der Evolution wächst auch die kulturelle Evolution aus sich selbst heraus und baut immer auf dem auf, was vorher war. Das bedeutet, dass wir, um weiter zu wachsen, die modernen und traditionellen Werte, die das Fundament unserer Zivilisation bilden, stärken und aufwerten müssen. Gut gemeinte progressive Werte können zu Rückschritten führen, wenn sie die bereits bestehenden Werte, auf denen sie beruhen, untergraben. Der Grad unserer Transzendenz hängt letztlich von der Reichweite unserer Integration ab.
Wenn Demokratie die uneingeschränkte Beteiligung des Volkes an der Gestaltung der Zukunft des Gemeinwesens ist, dann bedeutet die seelische Dimension, dass jeder Einzelne radikal in einem Geburtsprozess steht. Denn zugleich mit der Gemeinschaft gemeinsamer Interessen – dem öffentlichen Raum – gibt es auch immer ein privates, einzigartig definiertes Selbst in jedem Einzelnen, der dazu beiträgt. Jeder hat seine eigene bio-psycho-soziale-spirituelle Geschichte, die eine Schnittstelle zur Welt schafft, die niemand sonst teilen oder verstehen kann. Jeder ist ein Ich, das ein Wir gestaltet.
Daraus ergibt sich, dass jeder die Zukunft anders sieht und wahrnimmt: Wir haben unterschiedliche Erwartungen an uns selbst und andere. Während die Demokratie sich um Konsens und Gleichheit bemüht, besteht ihre eigentliche Aufgabe darin, mit Statusunterschieden und widersprüchlichen Überzeugungen zu leben und dennoch eine Zukunft zu gestalten, auf die wir uns alle freuen können. Daher bedeutet ein seelischer Blick, sowohl die »richtigen Menschen« als auch die »falschen Menschen« als einzigartige Funken zu betrachten – eine Energie, die unzählige Liebesbeziehungen im Prozess eines lebenswerten Lebens entfacht.