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evolve: In unserem Vorgespräch hast du einen Begriff verwendet, dem ich nachgehen möchte: die Innenseite der Demokratie. Was meinst du damit?
Hanno Burmester: Mit der Innenseite der Demokratie meine ich letztlich unsere demokratische Seele. Das ist der Raum, der darüber entscheidet, ob wir die demokratische Oberfläche als funktionales oder dysfunktionales, lebendiges oder erstarrtes System wahrnehmen. Diese Innenseite ist der eigentliche Entwicklungsraum der Demokratie. Hier kultivieren wir, ob wir Demokratie vor allem als äußerlichen, ritualisierten Prozess vollziehen, oder ob wir ihren Anspruch und ihr Potenzial im Alltag im Sinne des Wortes tatsächlich erleben. Der Hebel sind hier die Metakompetenzen, die wir fortentwickeln müssten, um die Potenziale der Demokratie heben zu können. Ein Beispiel: Wie gehen wir mit Vielfalt um? Ist sie im demokratischen Alltag und Prozess eine Bedrohung, die es zu kontrollieren und zu bändigen gilt? Oder schaffen wir es, sie als Quell neuer Beziehung und Ideen zu kultivieren? Oder unsere Kompetenz im Umgang mit Spannung und Konflikt. Verstehen wir Spannung als Anlass zur Polarisierung, zur Verhärtung und Abwendung von Andersdenkenden – oder entwickeln wir die Fähigkeit, Spannungen gemeinsam zu halten und ihr zwischenmenschliches und inhaltliches Potenzial zu erkunden? Dieser Innenraum bildet auch unsere spirituelle Haltung als Gesellschaft ab. Wie setzen wir uns als Gesellschaft ins Verhältnis zum Ganzen? Was ist der übergeordnete Zweck, den wir als Gesellschaft mittels der Demokratie erfüllen wollen? Was ist uns als demokratische Gesellschaft heilig?
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Als Berater für Politik und Unternehmen hat Hanno Burmester den Blick für die tieferen Dynamiken geschult, die wirkliche Veränderung unserer Systeme verhindern. Müssen wir noch tiefer in die Krise rutschen, noch mehr Ratlosigkeit erfahren, um endlich radikal Neues zu wagen?
evolve: In unserem Vorgespräch hast du einen Begriff verwendet, dem ich nachgehen möchte: die Innenseite der Demokratie. Was meinst du damit?
Hanno Burmester: Mit der Innenseite der Demokratie meine ich letztlich unsere demokratische Seele. Das ist der Raum, der darüber entscheidet, ob wir die demokratische Oberfläche als funktionales oder dysfunktionales, lebendiges oder erstarrtes System wahrnehmen. Diese Innenseite ist der eigentliche Entwicklungsraum der Demokratie. Hier kultivieren wir, ob wir Demokratie vor allem als äußerlichen, ritualisierten Prozess vollziehen, oder ob wir ihren Anspruch und ihr Potenzial im Alltag im Sinne des Wortes tatsächlich erleben. Der Hebel sind hier die Metakompetenzen, die wir fortentwickeln müssten, um die Potenziale der Demokratie heben zu können. Ein Beispiel: Wie gehen wir mit Vielfalt um? Ist sie im demokratischen Alltag und Prozess eine Bedrohung, die es zu kontrollieren und zu bändigen gilt? Oder schaffen wir es, sie als Quell neuer Beziehung und Ideen zu kultivieren? Oder unsere Kompetenz im Umgang mit Spannung und Konflikt. Verstehen wir Spannung als Anlass zur Polarisierung, zur Verhärtung und Abwendung von Andersdenkenden – oder entwickeln wir die Fähigkeit, Spannungen gemeinsam zu halten und ihr zwischenmenschliches und inhaltliches Potenzial zu erkunden? Dieser Innenraum bildet auch unsere spirituelle Haltung als Gesellschaft ab. Wie setzen wir uns als Gesellschaft ins Verhältnis zum Ganzen? Was ist der übergeordnete Zweck, den wir als Gesellschaft mittels der Demokratie erfüllen wollen? Was ist uns als demokratische Gesellschaft heilig?
Bezug zum Ganzen
e: Die Frage nach dem Ganzen hat ja mindestens zwei Dimensionen. Das Ganze des Gemeinwesens und das Ganze als Natur, als Kosmos. Demokratie wurde seit der Neuzeit auf dem Verständnis von individuellen Menschenrechten gebaut. Im Zentrum steht eine Verhandlung unserer Individualität und unserer Einzelinteressen. Das wird von Kritikern sowohl der Demokratie als auch der Moderne infrage gestellt, sei es jetzt von progressiver oder von konservativer Seite. Eine Variante des Ganzen ist das Völkische, das momentan ins Spiel kommt, und andererseits sind es metaphysische Werte, die in Russland, der Türkei, Indien, aber auch in den USA eine fundamentalistische Bindung an etwas Größeres, Spirituelles, Religiöses anbieten. Das hat eine große Zugkraft.
»Die Messgrößen des Kapitalismus vereinnahmen die Demokratie.«
HB: Tatsächlich, die großen Krisen unserer Zeit wurzeln in der übermäßigen Fixierung auf eine Form der materiellen individuellen Bedürfnisbefriedigung, die das seelische Wohlergehen des Einzelnen sowie das Wohlergehen des Gesamten außer Acht lässt. Schon richtig, die Stärkung von Individualrechten ist eine sehr wichtige Errungenschaft der Moderne und insbesondere der Demokratie. Aber das Kollektive ist dabei zu stark aus dem Blick geraten. Im Zuge dessen haben wir auch verlernt, uns in einen größeren Bezug zu setzen. Die Konsequenz sind ökologische Zerstörung und spirituelle Verarmung. Das drückt sich auch daran aus, dass wir die Demokratie fast einzig anhand des materiellen Wohlstands der Einzelnen bemessen, egal wie schlecht es der Gemeinschaft und allem anderen Leben auch gehen mag. Die Demokratie wird in Sonntagsreden gefeiert für die bürgerlichen Freiheitsrechte, aber im Alltag wird sie fast ausschließlich gemessen an der individuellen Kaufkraft. Letztlich vereinnahmen die Messgrößen des Kapitalismus so die Demokratie.
Nun könnte man sagen, das universalistische Menschenbild der westlichen Demokratien sei eine Form des Kollektiven. Tatsächlich steckt hier aber ein ambivalentes Erbe. Einerseits ist es auch für meinen Weltzugang zentral, jedem Menschen einen einzigartigen Wert zuzuschreiben. Andererseits hat der Universalismus etwas Übergriffiges. Bruno Latour hat es auf den Punkt gebracht, wenn er fragt: Was hat eigentlich ein Indigener, der im Amazonas lebt, mit mir als westlichem Subjekt zu tun? Wir stehen mit unterschiedlichen Grundannahmen in der Welt, auch mit Blick auf uns und unseren Platz im Ganzen. Anzunehmen, dieser Mensch funktioniere im Kern wie ich, habe meine Weltsicht, wolle – vielleicht ohne es selbst zu wissen – dazugehören zur freien, individualisierten Welt der Demokratie: Das ist übergriffig und vernichtet die Vielfalt, die Demokratien vorgeben schützen zu wollen. Hier ist die Demokratie in ihrem selbstverständlichen Expansionsanspruch äußerst problematisch und steht in spürbarer Erbfolge zum Kolonialismus.
e: Wo siehst du denn in dieser Situation die Zukunftsperspektive der Demokratie?
HB: Wir verhandeln gerade so viel auf einmal: Wirtschaftssystem, politisches System, Menschenbild, unser Verständnis von Natur. Deshalb halte ich es für verkürzt zu denken, es wäre mit der Stabilisierung der Demokratie getan. Die Demokratie ist doch kein Selbstzweck. Damit sie bestehen kann, muss sie uns ermöglichen, in eine langfristige Koexistenz mit anderem Leben zu treten. Und wir müssen Wohlstandsformen jenseits des Individuell-Materiellen wiederentdecken. Die Demokratie hat das Potenzial dazu, aber das gilt es jetzt zu heben. Anders gesagt: Die Demokratie hat bewahrenswerte Eigenschaften. Aber wir müssen sie vom heiligen Sockel holen und als verhandelbar begreifen, um sie neu mit Bedeutung füllen zu können. Mit der Verteidigung des Bestehenden ist es also nicht getan, das ist eher Teil der Krisen, die uns treiben.
»Was ist uns als demokratische Gesellschaft heilig?«
Räume der Entschleunigung
e: Die Universalität der Krise besteht darin, dass die Grundlagen unseres Selbstverständnisses in der Krise sind. Du hast das mit Latour so auf den Punkt gebracht: Was hat mein Weltverständnis mit dem Weltzugang eines Indigenen am Amazonas gemein? Und das in einer Welt, in der wir offensichtlich gemeinsam sind? Wir begegnen uns in unserer Fremdheit. Wir Westler wollen unser kosmologisches Weltverständnis als Grundlage nehmen, um alle einzubeziehen. Krisen sind aber auch eine Situation des kollektiven Nichtwissens, wo spirituelle Werte besonders zur Geltung kommen könnten. Die sind nötig, um in dem Ganzen etwas zu finden, damit wir dieses Leben in der Krise gemeinsam aushalten. In dem Vertrauen, dass sich daraus etwas Gemeinsames finden wird, wenn wir uns die Zeit und den Raum dafür geben.
HB: Heute streben alle zum Handeln. Im politischen Raum wird immer noch geglaubt, die Metakrise sei als mechanistisches Problem lösbar. Alles strebt nach der schnellen Antwort, wodurch die Krise immer weiter beschleunigt wird. Eigentlich brauchen wir Entschleunigung. Sie hat das Potenzial, Räume zu ermöglichen, in denen wir uns mit den grundlegenden Fragen unserer Zeit befassen können: Wofür wollen wir stehen als Gesellschaft? Was eint uns, bei aller Vielfalt? Welche Entwicklung ist uns zentral, neben der ökonomischen? Was ist unser Beitrag zum Wohlergehen des Ganzen? Das alles gilt es in Zeiten erodierender Lebensgrundlagen neu zu beantworten.
Im Kern geht es also darum, unser aktuelles Nichtwissen, unsere Ratlosigkeit in Aushandlung zu bringen. Ich halte das für den zentralen Ansatzpunkt, um den demokratischen Prozess neu zu beleben. Die Demokratie kann der Container sein für diesen wesentlichen Diskurs. Nur leider fehlt es dem politischen Raum aktuell an Grundverständnis, Kompetenz und Werkzeugen, um solche Dialoge zu ermöglichen.
e: Ist es nicht die Chance der Krise, dass sie uns zwingt, den Blick zu öffnen?
HB: Ja, und das ist maximal unbequem. Die Situation zwingt uns, die Grundannahmen unserer Existenz in den Blick zu nehmen, ebenso wie die Rahmenbedingungen unseres gesellschaftlichen Systems. Deswegen ist der Ausdruck »Krise der Demokratie« zu verkürzt. Eigentlich befinden wir uns in einer Krise unseres Daseins, unseres Selbstverständnisses, die sich im Symptom Demokratiekrise zeigt. Es ist ja nicht zufällig, dass wir unserer blinden Flecken in dem Moment gewahr werden, wo die Stabilität des Ökosystems erodiert. Wie groß ist eigentlich unser Bewegungsspielraum in dieser Krise? Ich glaube, er ist viel kleiner als wir denken. Wir agieren viel weniger, als wir meinen. Wir werden agiert. Das bricht mit unserer Hybris, die Welt zu kontrollieren und zu lenken. Und es richtet unseren Blick darauf, dass wir als Menschheit integraler Teil eines Ökosystems sind. Wir stehen nicht abseits, wie es die Moderne uns hat glauben lassen.
Noch nicht genug Krise
e: Das ist ja eine der Lebenslügen und ein Teil der Krise. Wir im Westen haben es in unsere DNA aufgenommen, dass unsere modernen Werte die Grundlage der Weltgesellschaft sind und dass unser Denken auch Grundlage für das Finden von Lösungen ist. Es entstehen aber in verschiedenen kulturellen Räumen wie China, Indien, Afrika, Südamerika viele Ansätze, die Welt aus ihrer eigenen Tradition heraus neu zu denken. Vielleicht ist es auch eine Frage von spiritueller Resilienz, das wahrzunehmen, ohne eine Antwort zu haben.
HB: Die Verlangsamung ist die Voraussetzung für genau diese Öffnung. In Teilen der Gesellschaft passiert das auch schon. Ein Beispiel: Es gibt einen zunehmenden Diskurs rund um das Thema Degrowth. Gibt es jenseits der kapitalistischen Knappheitslogik nicht einen Überfluss zu entdecken, den uns die Erde und die Kraft unserer Hände zur Verfügung stellen? Wasser, Bildung, Nahrung – all das steht eigentlich allen ausreichend zur Verfügung, sofern wir es der Marktlogik der künstlichen Verknappung entziehen. Selbiges gilt potenziell für Boden und Wohnraum. Nur der lokale Überfluss, der aus Verbindung miteinander und der unmittelbaren Umwelt entsteht, wird uns den Ausbeutungsdynamiken der globalen Lieferketten entziehen. Es geht letztlich um die Neuverhandlung der Grundprinzipien unserer Systeme, um Menschen zu ermöglichen, sich im demokratischen Prozess auf eine andere Art ins Verhältnis setzen zu können zu sich, zu ihren Nächsten, zum Boden, zu anderem Leben. Da können wir von anderen Kulturen massiv lernen, weil uns das eigene Wissen, wie das gehen kann, abhanden gekommen ist.
e: Die Verlangsamung hat auch damit zu tun, die technische Weltsicht, in der wir ein erfolgreiches System der Mächtigkeit und der Selbstoptimierung entwickelt haben, hinter uns zu lassen. Wir können nicht außerhalb dieses Systems wahrnehmen. Spiritualität bedeutet auch, diese Selbsthypnose zu durchschauen.
HB: Das hieße im Umkehrschluss, dass wir noch nicht genug Krise haben, denn unsere momentane Antwort lautet: Wir haben ein System, das wir verteidigen wollen. Und mit Blick auf die Ökosystemkrise streben wir nach noch mehr Kontrolle, nach noch stärkerer Unterwerfung anderen Lebens. Diese Dynamik gilt es letztlich zu drehen. Wieviel Krise braucht es, dass wir bereit sind, das, was uns am offenen Blick hindert, in den Blick zu nehmen, um nach bestem Wissen und Gewissen neu zu verhandeln, wie ein klügeres System aussehen kann? Ich finde diese Debatte grundlegend wichtig, um für unsere Nachkommen Spuren zu legen für eine andere Wirklichkeit.
Die Bereitschaft für solche grundsätzlichen Veränderungen wächst. Aber es wird keinen schnellen Übergang in eine neue Stabilität geben. Ich glaube zunehmend, dass wir uns inmitten einer System-Desintegration befinden, die viele Jahrzehnte anhalten wird. Und die erneute Integration wird wiederum Jahrzehnte dauern. Wir sind Teilstück eines historischen Prozesses, der sehr interessant ist, aber oft eben auch sehr verstörend.
Inseln der Resilienz
e: Lass mich eine historische Parallele einbringen, die auf den ersten Blick sehr weit hergeholt ist, die ich aber interessant finde. Es gab ja eine ähnliche Periode unserer westlichen Kultur im Zusammenbruch des Hellenismus im spätrömischen Reich, was ein umfassender Wertezusammenbruch war. In dieser Zeit ist etwas historisch Interessantes entstanden. In diesen chaotischen Wogen haben sich klösterliche Inseln gebildet, die ihrem Selbstverständnis nach Kultur und dem Heiligen eine Arche geben wollten und Schutzräume aufbauten, die dieses Desaster durchstehen konnten. Und man kann zumindest die Behauptung aufstellen, dass solche Räume die Geburtsstätte eines Neuanfangs Jahrhunderte später waren. Es gab diese Rückzugsgebiete, wo die Kultur sich radikal transformiert hat, vom späthellenistischen zum frühchristlichen Seinsverständnis. Es wurden also Räume aufgebaut, die die Keime eines neuen Gemeinsamen in sich gebildet haben. Und die Frage ist, ob wir daraus lernen können.
»Im politischen Raum wird immer noch geglaubt, die Metakrise sei als mechanistisches Problem lösbar.«
HB: Ich mag das Bild der Inseln. Ich war gerade in der Gemeinschaft Tempelhof und finde den Ort sehr beeindruckend. Man spürt die Resilienz, die dort lebendig ist. In der Verbundenheit miteinander und mit dem Boden, auf dem man steht, ist da ein Kreislauf entstanden, der hochgradig anpassungsfähig ist. Dort ist Überfluss, der nicht viel Geld der Einzelnen benötigt. In solchen Modellen liegt eine Chance für uns als Gesamtgesellschaft, weshalb ich den wachsenden Fokus auf die Themen Landbau und Regionalisierung von Wirtschaftskreisläufen für richtig halte. Aus meiner Sicht gilt es jetzt, drei Säulen unserer Gesellschaft zu stärken: die natürlichen Lebensgrundlagen, Familien und Gemeinschaft, und Kultur und Handwerk. Das sind die Elemente, die über unsere gesellschaftliche Krisenresilienz entscheiden.
Ich habe Demut vor diesem großen Prozess. Wir gestalten einen Teilausschnitt einer historischen Übergangsphase mit. Wir können jetzt einen Beitrag zu einem System leisten, dem nicht die totale Selbstüberschätzung zugrunde liegt.
Author:
Dr. Thomas Steininger
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