Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 30, 2024
Sheikh Eşref Efendi und Bruder Thomas Hessler stehen in mystischen Traditionen, in denen Rituale dem Leben eine innere Ausrichtung und Zugehörigkeit geben. Wie erleben sie die Kraft der Rituale? Und was können sie uns über ihre Bedeutung in unserer Gegenwart sagen?
evolve: Es gibt heute ein neues Interesse an Ritualen bei jungen Menschen. Vielleicht haben gerade in dieser Übergangszeit, in der wir ja offensichtlich sind, auch Rituale eine bestimmte Bedeutung. Sie beide vertreten Traditionen, die auch sehr stark mit Ritualen arbeiten, mit den fünf Gebeten des Islam, dem Ramadan, den Sufi-Tänzen, dem Dhikr oder der Heiligen Messe, den Stundengebeten. Was ist Ihr Verständnis von der Bedeutung von Ritualen?
Sheikh Eşref Efendi: Ein Ritual ist eine Gebetsform. Im Ritual bemüht sich der gläubige Mensch, Gott näher zu kommen und auf seinem Weg zum Göttlichen immer bewusster zu werden. Es geht im Grunde um die Frage nach der Zugehörigkeit. Der gläubige Mensch spürt eine Leere in seinem Herz und sucht danach, wie er die Leere füllen kann.
Rituale sind ein Weg, in diese Zugehörigkeit zu finden. Es gibt viele Rituale auf dem Weg Gottes. Benediktiner, Franziskaner, Juden, Muslime, Buddhisten, Hindus, sie alle haben ihre eigenen Rituale. Sie alle suchen nach dieser letztendlichen Zugehörigkeit.
Wir suchen nach der Nähe Gottes. Je mehr wir zu ihm gelangen, desto mehr kommt ein Licht in unser Herz und wir werden erleuchtet. Rituale dienen dazu, dass wir erleuchtet werden durch mehr Bewusstsein.
Bruder Thomas Hessler: Ja, Rituale können Zugehörigkeit erfahrbar machen. Dadurch können wir ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass es die Nähe einer Wirklichkeit gibt, die wir Schöpfer, Gott, oder wie auch immer nennen. In unserem Bewusstsein nehmen wir diese Nähe oft nicht wahr, weil wir mit ganz vielen Dingen beschäftigt sind. Rituale wollen Präsenz und Gegenwärtigkeit ermöglichen.
Wir machen das auch über die religiösen Grenzen hinweg und feiern gemeinsam Rituale, wenn wir einen inter-monastischen Austausch haben. Der Dhikr ist zum Beispiel ein Ritual, das uns Christen nicht gleich nahe ist. Es hat eine sehr ekstatische Dimension, die in unserer mitteleuropäischen Tradition nicht so kultiviert wurde. Aber auch diese ekstatische Dimension ist eben eine Gotteserfahrung, ermöglicht eine Verbindung mit dem Göttlichen. Ganz ähnlich lassen sich die Buddhisten auf unser Herzensgebet ein. In der ostkirchlichen Tradition des Herzensgebets versuchen wir aus einer inneren Mitte heraus die Wirklichkeit Gottes, die wir mit dem Wort Jesus Christus bezeichnen, zu vergegenwärtigen. Es ist schön, dass es diese unterschiedlichen Rituale gibt. Aber alle wollen eigentlich die Erfahrung der Zugehörigkeit ermöglichen – und heute vor allem auch die Zugehörigkeit, dass wir uns als Menschheitsfamilie auf dieser Erde verbunden wissen.
Kultivierung des Bewusstseins
e: Wie schafft ein Ritual diese Zugehörigkeit?
ShE: Man will durch seine Rituale zeigen, wem man zugehörig sein möchte, und wem man zuhört. Wem man zuhört, zu dem bewegt man sich auch. Eigentlich ist jede Bewegungsart im Alltag ein Ritual für sich. Ein Ritual ist eine Bewegungsform: In wessen Namen bewegst du dich? Wen hast du in deinem Herzen?
BrT: Um die Kultivierung des Bewusstseins anzusprechen, möchte ich ein Ritual aus der Regel des Heiligen Benedikt erwähnen: ›Den Gästen, die in ein Kloster kommen, sollen die Hände gewaschen werden.‹ Hier geht es einerseits um Zugehörigkeit, denn wenn ich jemandem, der ins Haus kommt, die Hände wasche, dann nehme ich ihn auf und dann erfährt er/sie sich als zugehörig. Es ist eine Bewusstseinsverstärkung, in der die Kostbarkeit von Wasser spürbar wird. Wenn ich das spüren kann, dann werde ich mir dessen bewusst. Dieses Spürbewusstsein wird durch Rituale gestärkt. Deswegen müssen Rituale mit allen Sinnen erfahrbar sein, durchs Riechen, Schmecken, Tasten, Fühlen, Schauen.
»Im Ritual bemüht sich der gläubige Mensch, Gott näher zu kommen.« Sheikh Eşref Efendi
Etymologisch bedeutet Ritual eigentlich heiliger Gottesdienst oder heilige Feier. Für dieses Handwaschritual braucht es nicht viel, nur das Bewusstsein dafür, dass es ein sinnerfülltes Zeichen ist, wenn man es in aller Achtsamkeit ausführt. Das stärkt den Bewusstseinsprozess und die Zugehörigkeit, weil wir letztlich ja alle wechselseitig verbunden sind. Wir sind miteinander verbunden und ein Ritual hilft mir, mir dessen immer wieder bewusst zu werden.
e: Schafft ein Ritual nicht in sich selbst auch heilige Räume? Wenn ich bei euch im Kloster in eure Kirche eintrete, mich verneige und ein Kreuzzeichen mache, nehme ich eine symbolische Beziehung zu einem Raum auf. Aus einer gewissen Perspektive ist das einfach ein Raum, der mit Steinen und Ziegeln gebaut ist. Aber in der Art und Weise, wie ich rituell in diesen Raum eintrete, wird der Raum für mich zu etwas anderem. Ist das Ritual jene Tätigkeit, die Dinge in ihrer Symbolhaftigkeit dem Heiligen öffnet?
BrT: Ja, Räume schaffen ist für mich ein weiterer Schlüsselbegriff. Alle spirituellen Traditionen kennen zum Beispiel das Fasten als Ritual des Raumschaffens. Indem ich loslasse, mich frei mache, nicht anhafte, mich dem Göttlichen wieder ganz öffne, verändere ich meinen inneren Raum.
Auch echte Gottesdiensträume sind erfüllt von der spirituellen Tradition, zum Beispiel des Fastens. Wenn in einem Kloster nicht mehr gefastet wird, dann ist das spürbar. Da hat man irgendwie das Gefühl, da ist kein Raum mehr für Neues, für Unbekanntes. Fasten als Ritual führt in einen erweiterten Raum. Fasten öffnet die Wahrnehmung, dass ein heiliger Raum erfahrbar ist. Und den muss ich nicht herstellen, denn das Leben an sich ist heilig.
Die Herzenstüren öffnen
e: Sheikh Efendi, wenn ich an einen Dhikr denke, ist im Vordergrund die gemeinsame Kreisbewegung, der gemeinsame Atem und die gemeinsamen Worte. Der Islam ist eine Religion der Einheit, die alles auf das EINE ausrichtet. Die Bewegung des Dhikr nimmt mich mit in diese Kreisbewegung, in der die Vielheit unserer Eigenheit eingebracht wird in eine gemeinsame Zugehörigkeit zu dem EINEN. Ist das die Kraft des Rituals des Dhikr?
ShE: Es gibt ein Sprichwort, das wir immer rezitieren, bevor wir eine Meditation anfangen: »Unser Weg ist der Weg des Wortes Gottes, und der Segen Gottes ist auf der Zusammenkunft der gläubigen Menschen, die in seinem Namen zusammenkommen. Die Hand Gottes ruht auf ihnen, der Segen Gottes ist mit ihnen, der Segen, die Barmherzigkeit und die Führung Gottes leitet sie.«
Wenn man zusammen die heiligen Namen Gottes rezitiert, ist er mit uns. Er sagt: ›Ich sitze mit euch, ich stehe mit euch, ich lobpreise mich selbst mit euch.‹ Da ist das Licht Gottes.
Die Heiligkeit eines Raumes kommt daher, wem dieser Raum gewidmet ist. Sein Licht, seine Erleuchtung und Heiligkeit bekommt dieser Raum durch das Licht Gottes. Nur wenn man in einem Raum die Sonne einlässt, kommt das Licht hinein. Wenn wir zusammen Dhikr praktizieren, kommt eine göttliche Energie in diesen Raum hinein und auch in unsere Herzen. Die Schleier fallen, die Herzenstüren öffnen sich.
Dieses geheimnisvolle Herz ist der Landeplatz des Wortes Gottes. Wir öffnen das Fenster unseres Herzens für das Licht Allahs. Und nach und nach, je nachdem, wie sehr wir uns bemühen, kommt mehr Licht in unser Herz, so dass man über uns sagen könnte: ›Das muss ein Erleuchteter, ein Heiliger sein.‹
Wir sind gerade in der Schweiz in der Nähe der Einsiedelei von Bruder Klaus, Niklaus von Flüe. Ich besuche ihn oft, wenn ich in der Schweiz bin. Warum besuchen wir diesen Ort? Weil sich dort jemand befunden hat, der mit dem Leuchtlicht Gottes bekleidet war. Und das Licht Gottes verschwindet niemals. Dieses spirituelle Licht zieht die Menschen an, und manche finden sogar Heilung.
»Ein Ritual schafft in sich selbst heilige Räume.« Thomas Steininger
e: Bruder Thomas, euer Ort am Wolfgangsee ist mit dem heiligen Wolfgang verbunden, der vor ca. 1000 Jahren in der Nähe von euch eine Einsiedelei hatte. Bis zur Reformation war es einer der größten Pilgerorte Europas. Wenn ich euch besuche, bin ich mir dieser symbolischen Wirklichkeit bewusst, dass über Jahrhunderte Menschen in ihrem Bezug zum Heiligen im christlichen Verständnis hierher gepilgert sind, um ihre Zugehörigkeit rituell durch eine Pilgerschaft zu pflegen. So wird ein Ort zu einem rituellen Ort, weil er diese Kraft der Jahrhunderte in sich trägt, wie es Sheikh Efendi eben ausgeführt hat.
BrT: Ja, Sankt Wolfgang ist eine jungsteinzeitliche Kultstätte, die 5000 Jahre alt ist. Benediktiner haben sich immer dort niedergelassen, wo Menschen immer schon spirituell gelebt, praktiziert und Rituale vollzogen haben. Denn wir machen ja Rituale, die im Grunde vorchristlich sind, die in unsere Menschheitsgeschichte zurückreichen, wo die Erfahrung der Befreiung sinnfällig erfahrbar wird – das ist vielleicht ein dritter Aspekt von Ritual.
Es ist einerseits die Zugehörigkeit, andererseits schaffen Rituale den Raum, um mit dem Göttlichen verbunden zu sein. Und als Drittes – und das ist das Revolutionäre an Ritualen – erinnern sie uns immer daran, dass wir frei sind. Deswegen ist der Pilgerweg als Ritual so wichtig, damit wir uns unsere Bewegungsfreiheit nicht nur im Äußeren, sondern auch im Inneren als gedankliche Bewegungsfreiheit nie nehmen lassen.
Es ist eine der Grundfreiheiten der Menschen, dass sie frei sind, zu gehen, frei sind, nein zu sagen. Zu allem, was das Leben bedroht, auch zu unseren zerstörerischen gesellschaftlichen Strukturen, in denen Menschen ausgebeutet werden und Natur vernichtet wird, können wir nein sagen.
Zu unserer Freiheit gehört auch, sich zu versammeln. Deswegen finden Rituale in einer Gemeinschaft statt. Rituale kann ich auch alleine machen, aber sie werden wirkmächtiger, wenn sie die Freiheit, sich zu versammeln, ausdrücken.
Rituale bezwecken eigentlich, Menschen in ihrer Haltung der Freiheit zu stärken. Im Christlichen haben wir zum Beispiel bei den Übergangssituationen des Lebens Rituale: die Sakramente bei Geburt, Erstkommunion, Firmung, Weihe, Hochzeit, Bußrituale, Krankensalbung. Das sind Übergänge im Leben, wo der Mensch in eine große Verunsicherung kommt. In der christlichen Welt schwindet heute die Zugehörigkeit. Menschen lassen ihre Kinder nicht mehr taufen, sie können sich mit der Struktur von Kirche nicht mehr identifizieren. Aber viele kommen zu uns ins Kloster und sagen: »Wir wollen aber ein Ritual veranstalten, wir wollen eine Willkommensfeier, eine Segensfeier ansetzen, weil wir wissen, dass das wichtig ist.« Hier wird Zugehörigkeit sichtbar gemacht. Das sind immer große Familienfeste, da wird ein ganzes System sichtbar gemacht, wenn ein neues Mitglied dazukommt, um das Vertrauen zu stärken und den heiligen Raum bewusst zu halten. Dann spüren wir: Wir sind im Größeren getragen.
Danach sehnen sich die Menschen und Rituale können diese Stabilisierung geben und gleichzeitig unsere Freiheit verbürgen. ›Du bist frei für das Leben, für das Miteinander, für die Bewahrung der Schöpfung, für mehr Gerechtigkeit.‹ Rituale stärken dich in deiner Freiheit.
Auf dem Weg zum EINEN
e: Sheikh Efendi, eines der Rituale des Islam, die mich besonders ergreifen, ist die Tatsache, dass Milliarden von Menschen sich täglich fünfmal in Richtung Mekka im Gebet verneigen. Dieses riesige globale Mandala der Verbundenheit mit dem EINEN geht als gelebtes Gebetsmandala über die Erde. Darin liegt eine kraftvolle Symbolik der Einheit.
»Rituale erinnern uns immer daran, dass wir frei sind.« Br. Thomas Hessler
ShE: Ja, und solche Rituale stehen uns allen offen. Das Haus Gottes, die Kaaba, wurde von Abraham erbaut. Aber eigentlich gehört dieses Haus uns allen. Beim Ritual der Haddsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, die in der Umrundung der Kaaba gipfelt, sind alle in ein weißes Gewand gekleidet, das wir Leichentuch nennen. Symbolisch wird darin ausgedrückt, dass wir nur durch die Existenz Gottes leben. Wir bewegen uns um die Liebe Gottes, das gibt uns die Kraft des Lebens.
Dabei hat der König den gleichen Rang wie der Bettler. Jeder hat den gleichen Rang, Diener Gottes zu sein. Und das bringt uns in die Einheit. Wir werden alle geführt zu dem EINEN. Wenn wir das verstanden haben, gibt es Frieden.
BrT: In einem Krankenhaus in Oberösterreich haben wir einen Verabschiedungsraum für Christen, Moslems und Juden gestaltet. Das war eine große Herausforderung: Wie können wir einen Raum gestalten, wo jeder in seiner Tradition, in ihrem Ritual die Toten verabschiedet? In diesen Ritualraum haben wir auch eine Gebetsnische Richtung Mekka hineingesetzt mit einem schönen Paradiesteppich. Für die jüdische Tradition haben wir einen gelben Gebetsteppich gewebt, in dem das Tetragramm eingestickt ist, und für unsere christliche Tradition einen roten Auferstehungsteppich und darüber ein schlichtes Holzkreuz.
Das Schöne an diesem Ritualraum ist, dass er den Traditionen der einzelnen Religionen eine Zugehörigkeit geben kann. Das ist eine Herausforderung in der heutigen Zeit, dass es Unterschiedlichkeiten in den Ritualen gibt, aber dass wir voneinander und miteinander lernen können, diese Unterschiedlichkeit zu achten und vielleicht auch manches zu integrieren. Rituale sollten uns nicht trennen. Sie können natürlich identitätsstiftend sein. Aber als Menschheitsfamilie können wir auch Rituale entwickeln, die einheitsstiftend sind.
Für mich ist das Europakloster ein Ort der Einübung, um auch neue Rituale zu finden, die von alters her geprägt sind, die aber auch dieses Gemeinsame des Neuen zum Inhalt haben. Das wäre für mich ein Ausblick, dass Rituale Zugehörigkeit über die Grenzen der eigenen Identität hinweg schaffen können.