Initiation

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Essay
Published On:

April 30, 2024

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Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Rituale des Erwachsenwerdens in einer Zeit des Wandels

Initiationsrituale haben in indigenen Kulturen den Heran­wachsenden dabei geholfen, die Schwelle ins Erwachsensein zu überschreiten. Stehen wir heute als Kultur an einer ähnlichen Schwelle zwischen Unreife und verantwortlichem Menschsein?

Vor einiger Zeit sah ich ein YouTube-Video auf dem Slice-Kanal, der Dokumentarfilme über indigene Völker aus allen Teilen der Welt zeigt. In dem Video über ein sambisches Stammesdorf ging es um ein Initiationsritual für Jungen, die zu Männern werden. Die Vorbereitungen nahmen mehrere Wochen in Anspruch, und die Familien der Jungen scheuten keine Mühen, um ein Festessen für das ganze Dorf, neue Kleidung für die jungen Männer und andere Ausgaben bezahlen zu können. Einige der wertvollen Kühe wurden verkauft. Tiere wurden geschlachtet. Die Makishi, böse Geister, kommen ins Dorf, um den Jungen nachzujagen. Außerhalb des Dorfes, im Dschungel, wird ein heiliger Ort, die Mukanda, errichtet, wo die Männer den Jungen die heiligen Bräuche ihres Volkes nahebringen, damit sie die Makishi davon abhalten können, Schaden anzurichten. Am Ende des wochenlangen Prozesses erhalten die neuen Männer (einige gerade einmal sieben Jahre alt) westliche Kleidung und werden triumphierend auf den Schultern der älteren Männer getragen, um das Ereignis mit dem ganzen Dorf zu feiern.

Dieses Ritual des Erwachsenwerdens folgt einem klassischen Muster. Meredith Little und Stephen ­Foster, Pioniere des zeitgenössischen Rituals, bezeichnen den Bogen eines solchen Prozesses als Trennung, Tritt über die Schwelle und Verkörperung. Die sambischen Jungen trennen sich von ihren Müttern und der Welt der Kindheit, überschreiten die Schwelle zur geheimen und heiligen Welt der Männer und kehren dann in die Gemeinschaft zurück, um ihren Platz als junge Männer einzunehmen.

In einem Interview, das Marietta Schürholz für den Film »Ritual« mit Meredith Little geführt hat, erklärt diese den Zweck des zeitgenössischen Initiationsrituals mit dem Erkennen, »was es in unserer Kultur bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein«. Die Schwelle, die überschritten wird, ist die, dass der Junge zum Mann, das Mädchens zur Frau wird. Das sambische Ritual ist nichts anderes, es verkörpert tatsächlich das, was Erwachsenwerden bedeutet: Man lässt die Kindheit hinter sich und tritt ins Erwachsenenalter ein.

»Wenn man mit der eigenen Existenz konfrontiert wird, kann das Außergewöhnliche geschehen.«

Aber welches Alter? Und um wessen Vorstellung von Mann oder Frau geht es? In dieser Zeit des großen Wandels besteht kein Konsens mehr darüber, was ein Mann oder eine Frau ist oder welche heilige Weisheit weitergegeben werden sollte. Und das verstärkt die Sehnsucht nach Orientierung – und macht es schwerer, sie zu finden. Vielleicht sind die chaotischen Krisen, in denen wir uns befinden, Zeichen eines Übergangs, eines Erwachsenwerdens nicht nur für die Jugend, sondern für die Menschheit insgesamt. Zu verstehen, wie solche rituellen Prozesse ablaufen, könnte dann eine gewisse Orientierung bieten, um mit dem größeren Prozess, in dem sich die Menschheit befindet, umzugehen.

Rituale als Reaktion auf Krisen

Meredith Little wurde Ritualbegleiterin, weil sie erkannte, dass sich so viele junge Menschen in einem Gefühl der Verlorenheit bewegten und zutiefst verunsichert waren. Sie wussten nicht, wie sie dem Leben begegnen und den Schritt ins Erwachsensein gehen sollten. Das war in den 1970er-Jahren, als Meredith Little mit Stephen Foster bei einer Suizidpräventions-Hotline für junge Menschen arbeitete. Meredith und Stephen »stellten fest, dass viele der Leute, die unsere Hotline anriefen, nicht wirklich physisch sterben wollten. Aber sie wussten nicht, wie sie die schwierigen Zeiten, in denen sie sich befanden, überwinden sollten. Und wir erkannten, dass nicht nur junge Menschen, sondern wir alle diese traditionellen Möglichkeiten brauchen, um Menschen bei der Bewältigung von Lebensübergängen zu unterstützen, aber insbesondere junge Menschen, die vernachlässigt wurden.« Die Probleme von Jugendlichen mit Suizidalität, Depressionen und Drogenmissbrauch haben sich in den darauffolgenden Jahrzehnten sogar noch verschlimmert.

Meredith Little beschäftigte sich daraufhin gemeinsam mit ihrer Stiefmutter, einer Anthropologin, ausführlich mit Ritualen und begann gemeinsam mit Foster, »ein Grundgerüst zu entwickeln, das die Menschen mit ihrem eigenen Gebet, ihrer eigenen Bedeutung und ihren eigenen Werten erfüllen konnten, um den Übergang, in dem sie sich befanden, in einer bedeutungsvollen Weise zu erfahren«. Die wesentlichen dienlichen Elemente, die sie dafür entdeckten, waren einfach: »Zeit für sich allein, keine Nahrung, keine Gesellschaft, kein künstlicher Schutz«. Das Erleben des Risikos, »das Gefühl, dass sie sterben könnten«, war dabei wesentlich. Wenn sie allein in der Wildnis waren – fastend, vier Tage und Nächte lang – geschah etwas Gewaltiges mit den jungen Menschen, von denen sich viele bereits in einer existenziellen Krise befanden. Meredith Little sagt: »Je öfter wir das machten, desto mehr Leute kamen und fragten uns: ›Was habt ihr da gemacht, mein Sohn oder meine Tochter hat sich verändert.‹ Oder die Bewährungshelferin kam und sagte: ›Was ist mit diesen jungen Leuten passiert?‹« Denn sie waren nicht mehr unruhig oder deprimiert, sondern strahlend und klar. »Wir wussten nicht, was passiert war«, sagt Little. »Alles, was wir wussten, war, dass es einen innewohnenden, sehr alten Raum gibt, der betreten wird, wenn wir die Zeremonie abhalten. Die Menschen betreten ihn und etwas passiert.« Durch das Risiko katalysiert das Geheimnis.

Aus diesen Erfahrungen beschrieben Little und Foster drei Phasen dieses Prozesses: Trennung, Tritt über die Schwelle und Verkörperung. Mit anderen Worten: sich von der Vergangenheit trennen, so dass es keinen Weg zurück gibt, ganz allein ins Unbekannte gehen, das Neue verkörpern und es der eigenen Gemeinschaft anbieten. »Die Zeremonie hat ihr Eigenleben, das ich nicht verstehe«, sagt sie. Diesem Prozess wohnt ein existenzieller Kern inne. Wenn man mit der eigenen Existenz konfrontiert wird, kann das Außergewöhnliche geschehen. Tiefere und oft zutiefst persönliche Muster in der Natur und im Beziehungsfeld kommen zum Vorschein. Eine symbolische Realität wird erkennbar und ihre Bedeutung klar.

Gefahr und Initiation

Wenn ich die sambischen Jungen sehe, die vor Angst davonlaufen, während die bösen Makishi hinter ihnen herjagen, wird mir bewusst, dass ich die Welt, in der diese Jungen leben, nicht begreifen kann. Ich sehe keine bösen Geister, sondern nur Männer, die grauenerregende Masken tragen und von Kopf bis Fuß in helle Tücher gehüllt sind. Ist es auch das, was die Jungen sehen? Ich ­glaube nicht. Ihre Realität spielt sich innerhalb der Geschichte ab, die ich sehe. Was ich als Spiel betrachte, ist die gemeinsame Welt, in der sie leben. Aufgrund meines »buchstabengetreuen« Denkens bin ich blind und taub für die geistige Welt, die sich ihnen in diesem rituellen Raum eröffnet.

Viele indigene Rituale an der Schwelle zum Erwachsenwerden bringen die jungen Menschen, die initiiert werden, in echte Gefahr oder stellen sie vor oft schmerzhafte Prüfungen. Die Jungen von Pentecost, ­Vanuatu, werden aufgefordert, kopfüber mit an Lianen festgebundenen Knöcheln von einem dreißig Meter hohen Holzturm zu springen, um den Übergang zum Erwachsensein zu vollziehen. Damit demonstrieren sie ihre Männlichkeit und sichern eine gute Yamswurzel-Ernte. Sie fangen bereits im Alter von sieben oder acht Jahren, nach ihrer Beschneidung, mit dem Springen an, und starten zunächst von einem niedrigeren Teil des Turms, um sich mit zunehmendem Alter nach oben zu arbeiten. Die Weisheit offenbart sich normalerweise erst, nachdem der Einzuweihende Prüfungen bestanden hat, die mit Schmerzen oder Gefahren verbunden sind. Ein Diné-­Ältester in Nordamerika erklärt, dass junge Männer am Eingang einer Schwitzhütte zunächst schmerzhaft mit Yucca-Streifen ausgepeitscht werden, wonach ihnen dann von bösen Männern, Schwächlingen, starken Männern und schließlich, was am wichtigsten ist, von spirituellen Männern erzählt wird. Und am Ende der Diné-Zeremonie für die jungen Mädchen, bei der die junge Frau Mais gemahlen hat, drei Tage lang gerannt ist und eine Nacht in ihrem Tipi getanzt hat, wird ihr gesagt, dass sie in diesem Moment die ganze Kraft des Schöpfungsgeistes »Wandelnde Frau« erhalten hat und Segen spenden kann.

»Wenn man an diesen existenziellen Rand geführt wird, kann eine größere Verbundenheit entstehen.«

Die Gefahr – oder die Tatsache, dass man so weit an den existenziellen Rand gedrängt wird, dass man um sein Leben fürchtet – scheint die Macht zu haben, Muster und Kräfte zu offenbaren, die uns eine tiefe Bedeutung vermitteln und uns auf eine neue Ebene des Lebensverständnisses führen. Dies kann eine physische oder psychische Gefahr sein. Und wenn dies in der freien Natur geschieht, scheint die Natur zu reagieren. Ein Wissenschaftler erzählte mir von dieser Erfahrung während einer Visionssuche: Als er auf dem Erdboden unter dem freien Sternenhimmel schlief, spürte er das lebendige Ein- und Ausatmen der Erde ganz unmittelbar selbst. Das veranlasste ihn dazu, ein von wissenschaftlichem Denken geprägtes Leben, das auf der Überzeugung beruhte, dass die Materie unbeweglich und tot sei, zu überdenken. Dieses Potenzial, das durch das existenzielle Risiko zugänglich wird, ist vielleicht der Grund dafür, dass in so vielen Traditionen extreme spirituelle Praktiken zu finden sind. Die tibetisch-buddhistischen Mönche, die jahrelang in Höhlen meditieren und die ganze Nacht in einer Kiste sitzen, damit sie nicht zusammensacken, löschen nicht nur ihre egoistischen Wünsche aus, sondern entdecken auch die Verbundenheit und die Kommunikation mit dem Land, den Tieren und dem Kosmos, die sie umgeben. Wenn man an diesen existenziellen Rand geführt wird, dabei präsent bleibt und durch die Angst hindurchgeht, kann eine größere Verbundenheit entstehen, die die Weisheit offenbart, die man für den nächsten Schritt braucht. Auf geheimnisvolle Weise fügen sich widersprüchliche Erfahrungen in ein verstehbares größeres Muster ein. Man fühlt sich von etwas Heiligem und Wahrem berührt.

Das Erwachsenwerden der Menschheit

In den Ritualen des Erwachsenwerdens bringt die Gefahr die geheimnisvolle Bewegung hervor, die uns das Wissen für den Eintritt in das Erwachsensein eröffnet. Momentan steht die Menschheit als Ganzes in der Gefahr, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören – die Luft, das Wasser und die Lebewesen, die wir zum Überleben brauchen. Als Spezies sind wir wie Heranwachsende, die nicht begreifen, dass das Auto – in dem sie selbst sitzen – nicht von einer auf die andere Sekunde angehalten werden kann, wenn sie zu schnell fahren. Wir haben den Begriff »Pubertät« für die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein geprägt, weil der Mensch lange braucht, um die Fähigkeiten und das Wissen zu entwickeln, um ein moderner oder postmoderner Erwachsener zu werden – was auch immer das sein mag. Die Menschheit als Ganzes bewegt sich in dem Raum vor dem Erwachsensein und ignoriert die Gefahren ihrer eigenen Rücksichtslosigkeit. Sie sind zu groß, zu unermesslich, um sie wahrzunehmen – und sieh nur, wie schnell wir fahren können!

Dieser epochale Moment ist ein Scheideweg zwischen einem anhaltenden Zusammenbruch und einem gewissen Durchbruch. Wenn dieser Moment aber ein Übergang oder ein Erwachsenwerden ist oder sein könnte, was könnte das bedeuten, wenn wir bedenken, was wir über den rituellen Prozess des Erwachsenwerdens wissen? Die Bedrohung für alles, was wir lieben, ist allgegenwärtig. Kann diese Gefahr ein Katalysator für die Öffnung zu der Weisheit sein, die wir – individuell und kollektiv – benötigen? Wir müssten uns kollektiv von der Trennung zur Schwelle bewegen. Das bedeutet, sich von einer kindlichen Vergangenheit zu trennen und die Schwelle in einen unbekannten Prozess zu überschreiten, in dem wir unseren Platz in einer neuen Ordnung des Lebens finden. Die Menschheit hat jedoch bisher nicht die Entschlossenheit gezeigt, dass wir als Spezies Verantwortung übernehmen ­wollen – dass wir uns von der Vergangenheit verabschieden wollen. Als Ganzes sind wir dazu noch nicht bereit.

»Können wir unsere Sensibilität für das Leben, das uns umgibt, kultivieren?«

Aber was ist mit uns, mit dir und mir? Ein Wandel in der Menschheit muss irgendwo beginnen, bei einigen von uns. Können einige von uns die Schwelle überschreiten und die Weisheit zurückbringen, welche die Zukunft eröffnet? ­Meredith Little sieht ihre Rituale zum Erwachsenwerden als Heilung der Spaltung zwischen Natur und Mensch. Die menschliche Natur ist nicht von der Natur getrennt. Wir müssen nicht darüber nachdenken, was es bedeutet, in der kommenden Kultur Frauen und Männer zu sein. Können wir vielmehr darauf vertrauen, dass sich dies durch unsere bewusste Wiedervereinigung mit der Ganzheit des Lebendigen offenbaren wird?

Zunächst müssen wir uns von den Gewohnheiten trennen, die unsere Wahrnehmung einengen. Können wir unsere Sensibilität für das Leben, das uns umgibt, kultivieren, indem wir nach den Hinweisen und Symbolen suchen, die uns den sanften Raum der Heiligkeit öffnen? Wenn wir innehalten, wenn wir uns erlauben zu sehen, was mit den Landschaften der Erde geschieht, die wir lieben, und wenn wir auf unsere eigene authentische Antwort hören, bringt uns das zurück in diese ursprüngliche Verbundenheit. Damit finden wir auch in eine fast überwältigende Freude an der Schönheit des Lebens und in die Trauer über seine Zerstörung. Dann könnte es möglich sein, die Schwelle zu etwas radikal Unbekanntem zu überschreiten. Was auch immer das ist, es würde verändern, was es heute heißt, Mensch zu sein, und eine neue Dimension des Heiligen offenbaren.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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