Irrfahrten des Bewusstseins

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In der Regel umrunde ich mindestens einmal in der Woche den Lousberg, das ist Aachens Hausberg, an den meine Wohnung grenzt. Obwohl der Weg, den ich einschlage, jedes Mal derselbe ist, ist der Ort doch immer wieder anders, was einerseits vom Wetter, der Tageszeit und den Jahreszeiten, andererseits aber auch von meiner Stimmung und den stattfindenden Begegnungen abhängt. Wie also könnte man die innere Mechanik beschreiben, die bei einem solchen Gang in Bewegung gesetzt wird? Was geschieht innerlich und äußerlich bei einem Spaziergang, der auf den ersten Blick immer gleich ausfällt?

Ich greife aus den vielen Wahrnehmungen, die dabei möglich sind, ein fiktives Beispiel heraus. Mir begegnen zwei junge Frauen. Sie tragen ein rotes und ein gelbes Kleid. Sie sind in ein Gespräch vertieft. Ich nehme sie wahr. Sie nehmen mich nicht war. Was geschieht nach dieser Begegnung? Beispiel 1: Ich belasse es bei dem kurzen Eindruck und wende mich anderen Ereignissen zu: ­Eine Wolke verdunkelt die Sonne. Kühe grasen auf der Weide. Ein Radfahrer fährt im Gegenwind den Berg herauf. In der Ferne die Geräusche der Auto­bahn. Die Maisfelder rauschen im Wind. Hier bin ich ganz bei den mich umgebenden Dingen, verbinde mich mit dem mich umgebenden Panorama und bin eine Art Empfangsorgan der mich umgebenden Welt.

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In der Regel umrunde ich mindestens einmal in der Woche den Lousberg, das ist Aachens Hausberg, an den meine Wohnung grenzt. Obwohl der Weg, den ich einschlage, jedes Mal derselbe ist, ist der Ort doch immer wieder anders, was einerseits vom Wetter, der Tageszeit und den Jahreszeiten, andererseits aber auch von meiner Stimmung und den stattfindenden Begegnungen abhängt. Wie also könnte man die innere Mechanik beschreiben, die bei einem solchen Gang in Bewegung gesetzt wird? Was geschieht innerlich und äußerlich bei einem Spaziergang, der auf den ersten Blick immer gleich ausfällt?

Ich greife aus den vielen Wahrnehmungen, die dabei möglich sind, ein fiktives Beispiel heraus. Mir begegnen zwei junge Frauen. Sie tragen ein rotes und ein gelbes Kleid. Sie sind in ein Gespräch vertieft. Ich nehme sie wahr. Sie nehmen mich nicht war. Was geschieht nach dieser Begegnung? Beispiel 1: Ich belasse es bei dem kurzen Eindruck und wende mich anderen Ereignissen zu: ­Eine Wolke verdunkelt die Sonne. Kühe grasen auf der Weide. Ein Radfahrer fährt im Gegenwind den Berg herauf. In der Ferne die Geräusche der Auto­bahn. Die Maisfelder rauschen im Wind. Hier bin ich ganz bei den mich umgebenden Dingen, verbinde mich mit dem mich umgebenden Panorama und bin eine Art Empfangsorgan der mich umgebenden Welt.

Möglich ist es aber auch, dass ich diese Ereignisse und Wesenheiten nur flüchtig oder gar nicht wahrnehme, da ich mich in der eigenen Vorstellungs- und Gedankenwelt befinde: »Ich muss noch diesen evolve-Artikel schreiben! Was interessiert mich gerade besonders und was könnte interessant für die Leser*innen sein?« Nun erscheint die Außenwelt nur beiläufig und wird allenfalls unbewusst wahrgenommen bis zu dem Zeitpunkt, an dem wieder etwas die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Es gibt die Redensart, der zufolge man sich ›in seiner Gedankenwelt verliert‹, was die Situation eines unbewussten Abgleitens der Gedanken gut beschreibt und besagt, dass viele dieser inneren Abläufe nicht intentional, sondern unbewusst ablaufen.

»In der Kunst wird die unsichtbare Welt in uns zur Form.«

So wäre es beispielsweise möglich, dass ich mich unbewusst weiter mit der Begegnung mit den beiden Frauen beschäftige, wobei ich mich dann wie gesagt in einem rein assoziativen, quasi vorbewussten Raum bewege. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass ich mich vollbewusst auf diese Begegnung konzentriere, wobei ich zum einen weiß, dass ich es bin, der sie wahrgenommen hat und gleichzeitig auch weiß, dass ich es bin, der diese Begegnung zum Gegenstand des Nach-denkens macht.

Ein solches Nachdenken wiederum kann ästhetischer (die Farbe der Kleider, die Figur und die Körperhaltung der Frauen, der Klang ihrer Stimmen) oder psychologischer Natur sein (etwa: Warum haben die beiden mich nicht angeschaut? Warum gefällt mir das Rot nicht?), sie kann aber auch Erinnerungen auslösen, die mich dann wiederum in ein anderes Zeitkontinuum versetzen.

James Joyce hat diesen Bewusstseinsstrom mit seinem Wechselspiel von äußerer Wahrnehmung und innerer Verarbeitung in Assoziationsketten, Erinnerungen, Reflexionen, Emotionen und Wünschen in seinem 1000-seitigen Roman Ulysses in einzigartiger Weise nachvollzogen. Mehr als uns in der Regel bewusst ist, verarbeiten wir permanent auf diese Weise äußere Eindrücke innerlich auf diese gedankliche und emotionale Weise.

Ich glaube nun, dass diese unsichtbaren Prozesse Teil von jenem Stoff sind, der in der Kunst zum sichtbaren Ausdruck werden möchte. Denn diese stellt auf eine besondere Weise jene unsichtbare Welt ins Licht. Während im Alltag die intrinsischen Vorgänge und Prozesse mehr oder weniger unbewusst an uns vorbeigleiten, folgt die Kunst ihren Spuren, denkt sie weiter und setzt sie ins Bild. Die unsichtbare Welt in uns wird so zur Form gewordenen sichtbaren Welt außerhalb von uns. Es ist also nie ganz Abbild, was die Kunst oder die Künste produzieren. Es ist immer auch eine von uns in Ausschnitten wahrgenommene, durch uns hindurchgegangene und von uns durchgearbeitete Wahrnehmung. So hat die Kunst einerseits immer auch eine ›sachliche‹ Seite, wie sie in gleichem Maße aber auch ein ›Psychogramm‹ der darstellenden Künstler*innen ist.

Viele von ihnen haben die heilsame Kraft und Wirkung dieses Reproduktionsprozesses beschrieben und betont, dass es insbesondere die Vergegenwärtigung der ansonsten unbewusst ablaufenden intrinsischen Prozesse ist, die diese heilsame Wirkung in uns entfalten kann. Sie kann dadurch entstehen, dass wir das Unbewusste hervorholen und es im Lichte des Tages betrachten.

Author:
Dr. Wolfgang Zumdick
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