Unsere Seele nähren

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 30, 2024

Featuring:
Sobonfu Somé
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Issue:
Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Im Gewebe der Gemeinschaft

Sobonfu Somé war eine Botschafterin afrikanischer Spiritualität und gab ihr Wissen um die Kraft der Rituale in zahlreichen Workshops weiter. Sie stammte aus Burkina Faso, wo sie 2017 starb. Marietta Schürholz hatte die Gelegenheit, von ihr zu lernen und interviewte sie für ihren Film »Ritual«. Das folgende Gespräch ist ein Auszug aus diesem Interview und lässt ein tiefes Verständnis für das Wesen ritueller Prozesse und deren Bedeutung spürbar werden.

Marietta Schürholz: Wie würdest du die Bedeutung von Ritualen beschreiben?

Sobonfu Somé: Ein Ritual ist eine innere Handlung, in der wir das Geistige anrufen, um uns zu führen. Das Ritual ist Nahrung für unsere Seele, so wie das Essen Nahrung für unseren Körper ist. Indigene Völker nutzen Rituale, um sich selbst, ihre Seele und das Herz anderer Menschen zu nähren. Es scheint, dass wir im Westen heute die Verbindung mit dieser Form der Nahrung, nach der sich unsere Seele sehnt, verloren haben. Wir brauchen Rituale, um wieder Lebendigkeit und Begeisterung in den Menschen zu entfachen. Wir brauchen Rituale, um die toten Bäume in unserer Seele und in unseren Gemeinschaften wieder zum Sprießen zu bringen.

MS: Du sagst, bei einem Ritual wird das Geistige angerufen, um uns zu führen. Was ist dieses Geistige?

SoSo: Das Geistige ist ein Licht, das für jedes Wesen leuchtet und ihm dabei hilft, seinen Lebenssinn zu erfüllen. Es ist in uns und außerhalb von uns. Es ist der Geist, der dich lebendig macht. Diese Lebendigkeit lässt dich mit Menschen in Verbindung treten. Es ist auch der Geist des Ortes, dem du begegnest, wenn du einen Spaziergang in der Natur machst und dich auf einmal viel lebendiger fühlst. Dann bist du eins mit dem Geist der Landschaft. Das Geistige existiert nicht irgendwo da draußen, sondern wir können ihm in unserem täglichen Leben begegnen.

Gemeinschaften beleben

MS: Wie können Rituale den Geist einer Gemeinschaft beleben?

SoSo: Der Sinn eines Rituals ist es, Menschen dabei zu helfen, Dinge loszulassen, die ihnen oder der Gemeinschaft nicht mehr dienen. Es geht darum, Menschen zu befähigen, ihr bestes Selbst zu leben, so dass sie ihrer Gemeinschaft etwas zurückgeben können. In diesem Sinne sind Rituale für jede Gemeinschaft, jede Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Wir müssen erkennen, dass Rituale notwendig sind, um unsere Beziehungen zu beleben und zu fokussieren.

In der Tradition der Dagar zum Beispiel wird zur Lösung des Problems eines Paares in seinem Namen das Ritual des Aschekreises von der Gemeinschaft durchgeführt. Denn das Paar ist nur die Stimme eines unbewussten Problems, das in der Gemeinschaft liegt. Indem man dem Paar hilft, das Problem zu heilen, dessen Stimme es zu sein scheint, kann die Gemeinschaft als Kollektiv dieses Problem bewältigen.

»Das Leben selbst sagt uns, wie ein Ritual durchgeführt werden muss.«

Wenn das Paar den Aschekreis betritt, wird es von der Gemeinschaft unterstützt. Es wird über die Krise sprechen, die es gerade durchmacht, und jeder im Kreis ist sowohl Zeuge als auch mitverantwortlich. Wenn das, was das Paar sagt, bei einem Zuhörer etwas auslöst, gibt er nicht nur von außen sein Feedback. Er tritt in den Kreis ein, denn er ist Teil der Lösung, genauso wie er Teil des Problems ist. Das Paar bringt seine Gabe in die Gemeinschaft ein, und wenn die Gemeinschaft es dabei nicht unterstützt, dann wird es auch der Gemeinschaft entgehen.

MS: Wie können wir eine Gemeinschaft schaffen, die Raum bietet, in dem Menschen sich öffnen können?

SoSo: Es ist wichtig, nach Möglichkeiten zu suchen, gesunde Beziehungen zu schaffen, in denen Menschen aufrichtig und ehrlich sein können – in denen du wirklich erfährst, dass du ein unschätzbarer Teil auch meines Lebens bist. Damit verändern wir etwas: Aus einem konkurrierenden Spiel, in dem jemand gewinnen will, und daher jemand anders verlieren muss, wird ein kreatives Spiel, in dem alle gewinnen. Wir verwandeln das Spiel, indem wir erkennen, dass wir uns selbst helfen, wenn wir unsere Energie anderen Menschen zur Verfügung stellen. Denn je besser es ihnen geht, desto besser geht es auch uns. Viele von uns sind körperlich, geistig und seelisch krank, nicht weil körperlich etwas nicht stimmt, sondern weil unsere Beziehungen nicht gesund sind.

Stell dir vor, du lebst an einem Ort, an dem es keine so genannten »persönlichen Angelegenheiten« gibt. Was persönlich ist, ist auch kollektiv. Als Individuum in einer Gemeinschaft bist du Teil eines vielschichtig gewebten Teppichs, und in diesem Gewebe ist es wichtig, dass jeder Faden in Ordnung ist. Denn ist er das nicht, wird das Gewebe zerfallen. Wenn wir erkennen, dass selbst Menschen, die uns fremd erscheinen, wertvolle Seelen und Ressourcen für uns sind, wird sich unser Blick aufeinander verändern.

Wir können beginnen, unsere Fähigkeiten, Energie und Zeit in die Wiederherstellung einer Gemeinschaft zu investieren, in der wir auf Vertrauen, Liebe und Ehrlichkeit bauen können. Wir im Westen sind oft nicht in der Lage, uns wirklich zu zeigen, doch wenn wir das tun, hilft es allen, bei sich selbst anzukommen. Noch sind wir alle wie kleine Kinder, die darauf warten, dass Gott oder eine andere Macht auftaucht und alles wieder in Ordnung bringt. Doch was wäre, wenn wir selbst das füreinander tun, so dass der Wahnsinn, in dem wir leben, zu einem sicheren Hafen wird, und wir den wahren Geist erkennen können, den jeder von uns in sich trägt?

Geburt der Rituale

MS: Müssen traditionelle Rituale verändert werden, wenn man sie aus der Kultur herausnimmt, der sie ursprünglich dienten? Ist es notwendig sie anzupassen, damit sie den heutigen Bedürfnissen entsprechen?

SoSo: Rituale werden immer aus dem Land selbst geboren. Das Land bestimmt, welche Art von Ritual für das Wohl der Menschen dort notwendig ist. Wenn es an einem anderen Ort praktiziert wird, dürfen die Schwingungen, die dort herrschen, nicht ignoriert werden. Das Land muss berücksichtigt werden, sonst würde man lediglich eine Handlung durchführen, die für die Menschen dort keinerlei Nutzen hätte.

MS: Woher kommt die Befugnis, ein Ritual zu ändern?

SoSo: Das Leben selbst sagt uns, wie ein Ritual durchgeführt werden muss. Die Gemeinschaft ist ein Teil davon, und das Land und die Geister, die uns umgeben, werden uns sagen, was mit dem Ritual zu geschehen hat. Einige Rituale werden auf natürliche Weise sterben, weil es keinen Bedarf mehr dafür gibt. Die Seele der Menschen wird neue Energien suchen, die sie braucht, um zu wachsen, um gesund und das Beste zu sein, was sie sein kann. Sei es in der traditionellen indigenen Kultur oder in einer Kirche, es wird eine Kraft geben, die von der Natur, vom Geist, von den Menschen ausgeht, die uns sagt: Dieses Ritual hat seine Kraft verloren. Und ihr müssen wir zuhören. Wir als Kollektiv sind dafür verantwortlich, dass die Rituale, die wir durchführen, immer noch stimmig sind und die Gemeinschaft sich damit verbinden kann.

Ein lebendiges Wesen

MS: Das klingt, als ob ein Ritual eine eigene Entität wäre?

SoSo: Ja, ein Ritual ist ein lebendiges Wesen. Es gibt uns vor, was in ihm zu geschehen hat, damit die Energie frei werden kann, die das Ritual braucht. Egal ob es sich um einen Konflikt, ein Trauerritual, eine Feier oder eine Hochzeit handelt, dahinter steht immer ein energetisches Wesen, durch welches das Ereignis lebendig wird, und das darauf eingeht, was wir im Leben brauchen.

MS: Was können wir tun, um unsere Wahrnehmung dafür zu öffnen, ein Ritual zu empfangen?

SoSo: Es gibt einen Bedarf an Ritualen. Viele Menschen suchen nach etwas, ohne zu wissen, was es ist. Dann konsumieren wir, wir gehen einkaufen und bringen den ganzen Schrott nach Hause, nur um festzustellen: Es ist nicht das, was ich gesucht habe. Es stillt nicht den Durst meiner Seele, die nach etwas sucht, das ihr hilft, sich zu entfalten. Daher braucht es eine Bewusstheit, die uns dorthin führen kann. Die nächste Frage ist: Wohin gehst du, wenn dir bewusst geworden ist, was du brauchst? Dann suchst du nach gesunden Gemeinschaften oder Menschen, die dir die Art von Ritual bieten, die du brauchst.

»Ein Ritual ist ein lebendiges Wesen.«

Wichtig ist auch, auf die Erde zu hören. Sie selbst wird dich zu einem Spaziergang auffordern und in einen rituellen Tanz verwickeln. Oft denken wir, wir gehen spazieren, weil das gut für unseren Körper ist. Doch wir stehen im energetischen Gewebe der Natur und der Erde. Es gibt ein Ritual, das bereits da ist, bereit, dir entgegenzukommen, bereit, sich um deine Bedürfnisse zu kümmern, die du noch nicht einmal bewusst formuliert haben musst. Du gehst also hinaus und wirst von der Natur umhüllt, und wenn du von diesem Ritual zurückkommst, fühlst du dich energetisiert und inspiriert. Vielleicht denkst du, das sei dein Verdienst, doch in Wirklichkeit waren es das Land und die Natur, die dir dieses Ritual geschenkt haben.

Natürlich fragen wir uns, welche Rituale wir schaffen können, um den Bedürfnissen der Menschen zu entsprechen. Die Menschen sehnen sich danach, initiiert zu werden. Wir haben erkannt, dass an den Lebensübergängen Rituale durchlaufen werden müssen. Geschieht das nicht, kann etwas in unserer Seele im täglichen Leben nicht mehr adäquat reagieren. Dann wollen wir nicht erwachsen werden, wollen für den Rest unseres Lebens Kinder bleiben. Wir fallen aus der Gnade, weil es keine Rituale gibt, die uns dabei unterstützen, den Schritt in die nächste Lebensphase zu tun, die uns ermutigen, die Pflichten der Altersspanne anzunehmen, in die wir neu eintreten.

Struktur der Initiation

MS: Was wäre die Matrix eines Initiationsritual?

SoSo: Der erste Aspekt ist die Sehnsucht nach der Ini­tiation, die sich bei den Menschen oft als Suche artikuliert, als ein Bedürfnis, etwas zu finden, was sie in sich selbst nicht sehen. Bei manchen Menschen äußert sich das in einer bestimmten Art von Wahnsinn in ihrem Leben.

Der zweite Aspekt ist das Bedürfnis nach einer Gemeinschaft, einer Gruppe Ältester, die die Absicht hat, den Einzelnen über seine Komfortzone hinaus an einen Ort zu bringen, an dem das aufbrechen kann, was in ihm geöffnet werden muss, damit er seine alte Haut abstreifen kann.

Der dritte Aspekt ist die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft. Keine Initiation kann wirklich abgeschlossen werden, wenn der Initiant nicht angemessen begrüßt wird. Viele Menschen haben eine unvollendete Initiation durchlaufen, weil sie alleine durch diesen Prozess gegangen sind. Sie stehen dann mit offenen Armen da, bereit, dass die Welt sie willkommen heißt, aber niemand bemerkt, dass sie etwas Transformierendes durchlaufen haben. Das Geschenk verwandelt sich in Angst und Enttäuschung, die Menschen senken ihre Arme und werden depressiv. Wenn wir einen Menschen nach einer Initiation wieder willkommen heißen, laden wir das Geschenk mit ein, das dem Menschen durch diesen Prozess zuteilwurde. So kann es mit dem Rest der Gemeinschaft geteilt werden.

MS: Unsere Kultur hat uns weder das kreative Hören auf die Natur noch das Wesen von Ritualen nahegebracht. Wie können wir uns authentisch mit einem Ritual verbinden?

SoSo: Das ist ganz einfach. Wir müssen erkennen, dass wir nicht allein in der Welt sind. Es bedurfte einer besonderen Energie, um uns hierher zu bringen, und unsere Ankunft wurde vom Land selbst gesegnet. Es war das Gebet unserer Vorfahren, das uns hierherbrachte. Und auch die Menschen, die wir Eltern nennen, haben für unsere Ankunft gebetet. Es gibt eine Gemeinschaft von geistigen Wesen, die ständig mit uns ist und auf die nicht nur wir uns verlassen, sondern die sich auch auf uns verlassen.

Wenn wir beten, sprechen wir nicht nur mit uns, wir sprechen nicht nur mit einem Gott, von dem wir glauben, dass er im Himmel ist und darauf wartet, von uns zu hören. Alles um uns herum ist lebendig, durchdrungen von der Gemeinschaft der geistigen Wesen, die mit uns sind. Wenn du mit ihnen sprichst, dann tu es mit Begeisterung, so wie du mit deinem besten Freund sprechen würdest. Erkläre dein Anliegen und sie werden dir zuhören und mit der gleichen Begeisterung und Aufmerksamkeit antworten.

»Das Ritual ist Nahrung für unsere Seele, so wie das Essen Nahrung für unseren Körper ist.«

MS: Wie könnte die tägliche Praxis lebendiger ­Rituale aussehen?

SoSo: Es gibt unterschiedliche individuelle Rituale für die Menschen im Westen. Doch es gibt eines, mit dem ich aufgewachsen bin und das wir jeden Tag durchgeführt haben. Es bestand darin, das Geistige zu bitten, dir neue Augen zu schenken, um dich selbst zu betrachten und sehen zu können, was du an diesem Körper und Geist heute wertschätzen kannst.

Ein anderes besteht darin, dem Geistigen Dinge darzubringen, denn wenn ich dem Geist etwas zurückgebe, werde ich von ihm auch empfangen. Das Geistige wird von uns bereichert, und wir werden von ihm bereichert. Es ist eine wechselseitige Beziehung. Wenn ich das Geistige um etwas bitte und eine positive Antwort erhalte, dann gebe ich etwas zurück.

Ein anderes Ritual wäre, morgens beim Aufwachen zu deiner Geistessenz zu sagen: »Diese Aufgabe gilt es heute zu erledigen.« Und nachdem du sie erledigt hast, verbindest du dich am Abend wieder und sagst: »Geistige Präsenz, ich habe dich um deine Hilfe gebeten, und ich bin dankbar dafür, wie du mich unterstützt hast.« Es ist wie bei einem Freund: Wenn du ihn rufst, damit er dir hilft, dann schickst du ihn danach nicht einfach wieder nach Hause. Du schenkst ihm deine Dankbarkeit, du bereitest ihm ein Fest.

Author:
Dr. Marietta Johanna Schürholz
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