Editorial 43/2024

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Editorial
Published On:

July 15, 2024

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Ausgabe 43 / 2024
|
July 2024
Spirituelle Resilienz
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Bei der Arbeit an dieser Ausgabe ist mir bewusst geworden, dass der Titel unserer ersten evolve Ausgabe lautete »Das neue Interesse an Politik«. Das war Anfang 2014, vor fast genau 10 Jahren. Gerade war Nelson Mandela gestorben, der vielen immer noch als ein Symbol für eine verbindende, versöhnende Politik gilt, Barak Obama war mitten in seiner Präsidentschaft. Die AfD, die sich gerade als europakritische Partei gegründet hatte, zog 2014 bei der Europawahl mit sieben Prozent zum ersten Mal in ein überregionales Parlament ein.

Wie sehr hat sich die Zeit seitdem verändert! Wir sind in einem Wahljahr, erleben einen Rechtsruck in Europa, eine große Unzufriedenheit mit den politischen Entscheidungsträgern, ein wachsendes Misstrauen gegenüber den Leitmedien, in den USA könnte erneut Donald Trump Präsident werden. Unsere Demokratie steht unter Druck. Und viele Menschen blicken mit wenig Hoffnung in die Zukunft, von Aufbruch ist kaum etwas zu spüren.

In dieser Situation zeigte sich in unseren Redaktionsgesprächen die Frage, welche Bewusstseinshaltungen und inneren Fähigkeiten wir in einer solchen unsicheren und bedrohlichen Zeit entwickeln und einbringen können. Mit unserem Titel »Spirituelle Resilienz und die Krise der Demokratie« verbinden wir hier zwei Bereiche, die scheinbar nicht so ganz zusammengehören. Aber wir denken: eben doch. Und vielleicht liegt eine Ursache unserer gesellschaftlichen Krisen auch darin, dass die inneren, seelischen, geistigen Dimensionen unseres Menschseins nicht ausreichend Berücksichtigung finden im politischen Raum.

Damals, vor 10 Jahren, schrieb ich in meinem Editorial: »Seit einiger Zeit können wir beobachten, wie sich in der Mitte der Gesellschaft neue Bewegungen bilden, rund um Ideen wie dem Grundeinkommen, der direkten Demokratie oder Gemeinwohlökonomie. Hier beginnen Menschen dem Wandel, den sie sich wünschen, gemeinsam eine Stimme zu geben und diese Ideen auch konkret umzusetzen. Und es gibt auch innovative Denkansätze, die die Entwick­lung unserer Gesellschaft in einem größe­ren Kontext betrachten.« Viele der Akteure und Bewegungen von damals sind durch einen Reifungsprozess gegangen. Heute gibt es viele erfahrene Aktivisten und Vordenkerinnen, die unser gesellschaftliches Miteinander von innen transformieren wollen und können. Sie haben in jahrelangem Einsatz einige der Bewusstseinsqualitäten entwickelt und erprobt, die wir in dieser Zeit brauchen – welche das sind, wollen wir in dieser Ausgabe erforschen. Die Dringlichkeit der Krisen ruft nach dieser gereiften Erfahrung – denn die Herausforderungen sind deutlich größer geworden, aber die Kompetenz auch. Mit dieser Ausgabe wollen wir die Weiterdenkerinnen und Gestaltenden einer Entfaltung der demokratischen Kultur in den Dialog bringen und gleichzeitig Anregungen geben, wie wir alle daran mitwirken können.

In ihrem Leitartikel zeigen Thomas Steininger und Elizabeth Debold, dass unser Vertrauen in die politischen Institutionen brüchig geworden ist. Sie fragen, worauf wir als Menschen wirklich vertrauen können, um einen gemeinsamen tragenden Grund zu finden.

Jascha Rohr, der Formen des partizipativen Gestaltens erforscht und auch bei den Bürgerräten des Bundestages beteiligt ist, sieht die Zeit für ein Update der Demokratie gekommen. In unserem Interview wird auch sein eigener Weg der letzten Jahre als Demokratieaktivist deutlich – und damit auch die Herausforderungen und Möglichkeiten, in denen wir heute stehen. Eine ebenso unermüdliche Gestalterin der demokratischen Kultur ist Claudine Nierth, Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie. Ihr Schwerpunkt hat sich verlagert von neuen politischen Strukturen hin zur Gestaltung unserer politischen Kultur und entsprechenden Kulturkompetenzen. Sie sagt: »Demokratie muss erlebt werden.«

Hanno Burmester hat Politiker beraten und denkt darüber nach, wie wir der Innenseite der Demokratie mehr Gewicht geben können. Hier forscht auch Matthias Riegel, der als Kommunikationsdramaturg die Wahlkämpfe der Grünen begleitet hat. Die innere Entwicklung ist für den metamodernen Denker Tomas Björkman ein Schlüssel zur Weiterentwicklung der Demokratie. Mit dem Projekt »Inner Development Goals« gibt er dafür Impulse.

Aber vielleicht müssen wir dafür unsere grundlegenden Sichtweisen über die Welt und uns selbst viel radikaler hinterfragen. Diese Einsicht kommt in unseren Interviews immer wieder zu Wort. Die poetische Systemdenkerin Nora Bateson weist auf unsere Blindheit für unser zutiefst verwobenes Leben hin. Und Dougald Hine, Autor des Buches »At Work in the Ruins«, sieht einen Schlüssel in der Hinwendung zum konkreten Ort unseres Lebens und den dort lebenden Menschen. Er sagt: »Demokratie beginnt dann, wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen.«

Unsere künstlerische Idee für diese Ausgabe war schnell gefunden: Menschen, die sich gemeinsam bewegen – auch eine Definition von Demokratie. Aber es dauerte lange, bis wir ein Tanztheater fanden, das passte und mit dem wir zusammenarbeiten konnten. Die Entdeckung von Nicole Beutler Projects, einem der wichtigsten niederländischen Tanztheater, war ein Glücksfall. Wir freuen uns, diese Ausgabe mit Fotos einiger Stücke von Nicole Beutler gestalten zu können, die meist von ihrer Schwester Anja Beutler aufgenommen wurden. Das Ensemble arbeitet gerade am dritten Teil einer Trilogie mit dem Titel »Rituals of Transformation«.  

Vielleicht befinden wir uns ja gerade in einem großen Ritual, einem Prozess der Transformation. Wie wir daran mitwirken können, diesen Prozess gemeinsam verstehen können, gemeinsame Räume des Nichtwissens teilen, aber auch Zuversicht und Zukunftsvisionen finden, spirituelle Resilienz stärken – das ist unser Anliegen mit dieser Ausgabe.

Wir sind gespannt, wie diese Fragen in den evolve Salons weiterbewegt werden. Im Herbst bieten wir auch einige Dialogabende im Rahmen von evolve Live mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern aus dieser Ausgabe an. Es würde uns freuen, euch dort zu sehen. Und von euch zu hören, was diese Ausgabe in euch bewegt hat.

 

Herzlichst

Mike Kauschke

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Bei der Arbeit an dieser Ausgabe ist mir bewusst geworden, dass der Titel unserer ersten evolve Ausgabe lautete »Das neue Interesse an Politik«. Das war Anfang 2014, vor fast genau 10 Jahren. Gerade war Nelson Mandela gestorben, der vielen immer noch als ein Symbol für eine verbindende, versöhnende Politik gilt, Barak Obama war mitten in seiner Präsidentschaft. Die AfD, die sich gerade als europakritische Partei gegründet hatte, zog 2014 bei der Europawahl mit sieben Prozent zum ersten Mal in ein überregionales Parlament ein.

Wie sehr hat sich die Zeit seitdem verändert! Wir sind in einem Wahljahr, erleben einen Rechtsruck in Europa, eine große Unzufriedenheit mit den politischen Entscheidungsträgern, ein wachsendes Misstrauen gegenüber den Leitmedien, in den USA könnte erneut Donald Trump Präsident werden. Unsere Demokratie steht unter Druck. Und viele Menschen blicken mit wenig Hoffnung in die Zukunft, von Aufbruch ist kaum etwas zu spüren.

In dieser Situation zeigte sich in unseren Redaktionsgesprächen die Frage, welche Bewusstseinshaltungen und inneren Fähigkeiten wir in einer solchen unsicheren und bedrohlichen Zeit entwickeln und einbringen können. Mit unserem Titel »Spirituelle Resilienz und die Krise der Demokratie« verbinden wir hier zwei Bereiche, die scheinbar nicht so ganz zusammengehören. Aber wir denken: eben doch. Und vielleicht liegt eine Ursache unserer gesellschaftlichen Krisen auch darin, dass die inneren, seelischen, geistigen Dimensionen unseres Menschseins nicht ausreichend Berücksichtigung finden im politischen Raum.

Damals, vor 10 Jahren, schrieb ich in meinem Editorial: »Seit einiger Zeit können wir beobachten, wie sich in der Mitte der Gesellschaft neue Bewegungen bilden, rund um Ideen wie dem Grundeinkommen, der direkten Demokratie oder Gemeinwohlökonomie. Hier beginnen Menschen dem Wandel, den sie sich wünschen, gemeinsam eine Stimme zu geben und diese Ideen auch konkret umzusetzen. Und es gibt auch innovative Denkansätze, die die Entwick­lung unserer Gesellschaft in einem größe­ren Kontext betrachten.« Viele der Akteure und Bewegungen von damals sind durch einen Reifungsprozess gegangen. Heute gibt es viele erfahrene Aktivisten und Vordenkerinnen, die unser gesellschaftliches Miteinander von innen transformieren wollen und können. Sie haben in jahrelangem Einsatz einige der Bewusstseinsqualitäten entwickelt und erprobt, die wir in dieser Zeit brauchen – welche das sind, wollen wir in dieser Ausgabe erforschen. Die Dringlichkeit der Krisen ruft nach dieser gereiften Erfahrung – denn die Herausforderungen sind deutlich größer geworden, aber die Kompetenz auch. Mit dieser Ausgabe wollen wir die Weiterdenkerinnen und Gestaltenden einer Entfaltung der demokratischen Kultur in den Dialog bringen und gleichzeitig Anregungen geben, wie wir alle daran mitwirken können.

In ihrem Leitartikel zeigen Thomas Steininger und Elizabeth Debold, dass unser Vertrauen in die politischen Institutionen brüchig geworden ist. Sie fragen, worauf wir als Menschen wirklich vertrauen können, um einen gemeinsamen tragenden Grund zu finden.

Jascha Rohr, der Formen des partizipativen Gestaltens erforscht und auch bei den Bürgerräten des Bundestages beteiligt ist, sieht die Zeit für ein Update der Demokratie gekommen. In unserem Interview wird auch sein eigener Weg der letzten Jahre als Demokratieaktivist deutlich – und damit auch die Herausforderungen und Möglichkeiten, in denen wir heute stehen. Eine ebenso unermüdliche Gestalterin der demokratischen Kultur ist Claudine Nierth, Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie. Ihr Schwerpunkt hat sich verlagert von neuen politischen Strukturen hin zur Gestaltung unserer politischen Kultur und entsprechenden Kulturkompetenzen. Sie sagt: »Demokratie muss erlebt werden.«

Hanno Burmester hat Politiker beraten und denkt darüber nach, wie wir der Innenseite der Demokratie mehr Gewicht geben können. Hier forscht auch Matthias Riegel, der als Kommunikationsdramaturg die Wahlkämpfe der Grünen begleitet hat. Die innere Entwicklung ist für den metamodernen Denker Tomas Björkman ein Schlüssel zur Weiterentwicklung der Demokratie. Mit dem Projekt »Inner Development Goals« gibt er dafür Impulse.

Aber vielleicht müssen wir dafür unsere grundlegenden Sichtweisen über die Welt und uns selbst viel radikaler hinterfragen. Diese Einsicht kommt in unseren Interviews immer wieder zu Wort. Die poetische Systemdenkerin Nora Bateson weist auf unsere Blindheit für unser zutiefst verwobenes Leben hin. Und Dougald Hine, Autor des Buches »At Work in the Ruins«, sieht einen Schlüssel in der Hinwendung zum konkreten Ort unseres Lebens und den dort lebenden Menschen. Er sagt: »Demokratie beginnt dann, wenn wir gemeinsam am Tisch sitzen.«

Unsere künstlerische Idee für diese Ausgabe war schnell gefunden: Menschen, die sich gemeinsam bewegen – auch eine Definition von Demokratie. Aber es dauerte lange, bis wir ein Tanztheater fanden, das passte und mit dem wir zusammenarbeiten konnten. Die Entdeckung von Nicole Beutler Projects, einem der wichtigsten niederländischen Tanztheater, war ein Glücksfall. Wir freuen uns, diese Ausgabe mit Fotos einiger Stücke von Nicole Beutler gestalten zu können, die meist von ihrer Schwester Anja Beutler aufgenommen wurden. Das Ensemble arbeitet gerade am dritten Teil einer Trilogie mit dem Titel »Rituals of Transformation«.  

Vielleicht befinden wir uns ja gerade in einem großen Ritual, einem Prozess der Transformation. Wie wir daran mitwirken können, diesen Prozess gemeinsam verstehen können, gemeinsame Räume des Nichtwissens teilen, aber auch Zuversicht und Zukunftsvisionen finden, spirituelle Resilienz stärken – das ist unser Anliegen mit dieser Ausgabe.

Wir sind gespannt, wie diese Fragen in den evolve Salons weiterbewegt werden. Im Herbst bieten wir auch einige Dialogabende im Rahmen von evolve Live mit Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern aus dieser Ausgabe an. Es würde uns freuen, euch dort zu sehen. Und von euch zu hören, was diese Ausgabe in euch bewegt hat.

 

Herzlichst

Mike Kauschke

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Mike Kauschke
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