Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
February 2, 2021
Der Neurowissenschaftler und weltbekannte Hirnforscher Thomas Metzinger plädiert für eine »säkulare Spiritualität«. Als jemand, der selbst meditiert, spricht er sich dafür aus, ein religiöses und mystisches Verständnis der Spiritualität durch einen naturwissenschaftlichen Zugang zu ersetzen. Aber geht damit nicht auch etwas Essenzielles verloren?
In den letzten Jahren sind einige Bücher auf den Markt gekommen, die nicht nur die beeindruckenden Ergebnisse der modernen Neurowissenschaften vorgestellt haben, sondern diese auch im Zusammenhang mit religiösen und spirituellen Erfahrungen diskutierten. Zwei Beispiele sind etwa das Buch »Der gedachte Gott« des amerikanischen Psychiaters Andrew Newberg und »Der Ego-Tunnel« des deutschen Philosophen Thomas Metzinger. Beide sind keine pauschalen Kampfansagen gegen Spiritualität, sondern sie versuchen durchaus, Erkenntnisse der Hirnforschung mit Erfahrungen zusammenzubringen, die man z. B. unter dem Einfluss halluzinogener Drogen oder während der Meditation machen kann. Gemeinsam ist beiden Autoren dennoch ein Blick auf spirituelle Erfahrungen, die ohne metaphysische Vorannahmen auskommen. Die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung zeigt ihrer Meinung nach deutlich, wie sehr unser Hirn Wirklichkeit miterzeugt und daher keine Annahmen von einer direkt zugänglichen »geistigen« oder »göttlichen Welt« außerhalb von uns mehr zulässt. Newberg hat ein »Orientierungsfeld« im Scheitellappen unseres Gehirns ausgemacht, das die Koordinaten von rechts und links, vorne und hinten, oben und unten erzeugt sowie die Beurteilungsfähigkeit für Winkel und Entfernungen: also einen regulierenden Rahmen, durch den wir die Welt sehen und der uns ein Gefühl für ein klar abgegrenztes »Selbst« gibt. Die deutliche Unterscheidung zwischen unserem Ich und dem Bereich des Nicht-Ich wird also neurologisch immer wieder aufgebaut und zwar so »transparent«, dass wir es gar nicht bemerken. Daher sehen wir nie die wirkliche Wirklichkeit, sondern immer nur ein Bild von ihr. Wir sind – so Metzinger – nie in »direktem Kontakt mit der Gegenwart, weil die neuronale Informationsverarbeitung an sich bereits Zeit verbraucht«.
Wirklichkeit als »Selbst-Modell«
Der Philosoph nennt dies den »Ego-Tunnel« oder das »Selbst-Modell«, das in der Evolution zu Überlebenszwecken von unserem Gehirn hervorgebracht wurde. Mittels zahlloser Filter wurde aus Millionen von Sinnesdaten ein kohärentes und für uns stimmiges Modell von »Welt« geschaffen, eine »Informationswolke« im Ozean der neuronalen Mikroereignisse, die immer nur eine vermittelte Wirklichkeit abbildet und nie eine durch unsere Denkkategorien ungetrübte Welt. Unser »Selbst« nimmt also nur immer eine von vielen möglichen Realitäten wahr, kann also keinen direkten Zugang zu einem »letzten Urgrund« oder einer »absoluten Wirklichkeit« haben, von der religiöse Menschen oft sprechen.
Thomas Metzinger hat selbst in seiner Jugend einige außerkörperliche Erfahrungen gemacht, die ihn mit Faszination, aber auch mit Angst und Panik erfüllt haben. Er fürchtete sich davor, immer wieder die Orientierung in der gewohnten Realität zu verlieren, was ihn wohl dazu brachte, Vorgänge in unserem Hirn genau zu erforschen, die so etwas möglich machen. Aufgrund von zahlreichen Experimenten glaubt Metzinger heute, dass man außerkörperliche Erfahrungen künstlich stimulieren kann. Sie sind für ihn nichts Paranormales, sondern geschehen als »Desintegration des Selbst-Modells«, wenn die Koordination sensomotorischer Informationen ausfällt, die das »Selbst« mit dem Körper und dessen Gleichgewichtssinn verbindet. Er hat dazu Versuche angestellt, die z. B. zeigen, dass man einen »Avatar« von sich selbst erzeugen kann, indem man die Versuchsperson von hinten abfilmt und ihr dieses Bild in einem auf dem Kopf getragenen Display zeigt. Der Kandidat sieht sich selbst dann zwei Meter vor sich als virtuelles Bild im Raum stehen. Wird er am Rücken gestreichelt, empfindet er das Gleiche auch bei dem künstlich erzeugten Phantom vor ihm, ja er fühlt sich sogar zu diesem hingezogen und möchte – obwohl es nur eine dreidimensionale Illusion ist – in ihn »hineinschlüpfen«.
Metzinger glaubt, dass Menschen auch in der Vergangenheit solche Erfahrungen hatten, etwa Schamanen und Mystiker, die diese aber als reale Flug- oder Schwebezustände einer »Seele« deuteten, die sich tatsächlich vom Körper lösen konnte. Solche Vorstellungen eines zweiten »feinstofflichen Körpers« finden sich in vielen Kulturen der Welt. Für Metzinger bestehen diese subtilen Körper nicht aus »Engelsstoff« oder »Astralmaterie«, sondern sind reine Informationsfelder im menschlichen Gehirn, die natürlich auch keine vom Körper unabhängige Existenz haben können. Seltsamerweise geht der Philosoph nicht auf die wissenschaftlich erforschten Nahtoderfahrungen ein, bei denen viele betroffene Personen auch oft das Gefühl haben, aus ihrem Körper herauszutreten oder über ihm zu schweben.
Für Metzinger wären solche Erfahrungen sicherlich auch Produkte des Gehirns ohne einen realen Hinweis auf echte außerkörperliche Erlebnisse. Das menschliche Gehirn, so der Forscher, habe sich im Laufe der Evolution langsam zu einem extrem schöpferischen Organ entwickelt und dabei – etwa in Form von Mythologie und Religion – auch zum Teil durchaus nützliche Illusionen geschaffen. Neben besseren Formen des Denkens und Wahrnehmens seien auch »nützliche falsche Überzeugungen, positive Illusionen und komplette Wahnsysteme aufgetaucht, die sich möglicherweise deshalb erhalten haben, weil sie letztendlich dazu geführt haben, dass der Fortpflanzungserfolg der betreffenden Wesen anstieg, dass sie also mehr Gene erfolgreich an die nächste Generation kopieren konnten.«
»Säkulare Spiritualität«
Thomas Metzinger betont immer wieder, dass er nichts gegen eine selbstreflektierte Spiritualität habe, die »intellektuell redlich« sei, wohl aber gegen kritiklos übernommene religiöse Dogmen. Es zeichnet ihn als Forscher mit einem weiten Spektrum aus, dass er intensiv meditiert und auch nicht vor Experimenten mit halluzinogenen Drogen zurückscheut. Er will ein offener »philosophischer Psychonaut« sein, der an allen Ebenen des Bewusstseins interessiert ist und in der Erforschung dieses weiten Spektrums eine gute Basis für eine zeitgemäße »säkulare« Spiritualität sieht. Metzinger hat die Erfahrung gemacht, dass etwa die Meditation die Struktur unseres Alltagsbewusstseins verändern und zu Entgrenzungserfahrungen führen kann, die die herkömmliche Subjekt-Objekt-Trennung aufheben. In solchen Zuständen kann eine enorme Steigerung von Empathie- und Achtsamkeitskräften geschehen, weil wir auf einmal feinste Nuancen wahrnehmen, die uns vorher entgangen sind. Ähnliches kann bei der Einnahme von psychedelischen Drogen wie LSD, Psilocybin und Ayahuasca passieren, deren kontrollierten Konsum Metzinger befürwortet, da sie nicht süchtig machen und Tiefenerkenntnisse jenseits des Alltagsbewusstseins ermöglichen. Für den Neuro-Philosophen sind solche Erfahrungen wertvoll, weil sie unsere Empathie gegenüber allem Lebendigen steigern, auch z. B. gegenüber der nichtmenschlichen Welt, was ein Kapitel über »Tierethik« im Buch »Der Ego-Tunnel« veranschaulicht. Leidensverminderung als Folge von gesteigerter Achtsamkeit rangiert für Metzinger an oberster Stelle seiner spirituellen Tugenden: »Die Art, wie wir seit Jahrhunderten Tiere behandeln, ist eindeutig unhaltbar.«
WAS WÄRE, WENN WIR DIE MYTHOLOGISCHEN UND RELIGIÖSEN TEXTE DER WELTKULTUREN AUCH ALS »PARTITUREN« VON ALL-EINHEITSERFAHRUNGEN LESEN WÜRDEN?
Aber auch in der Schule sollten Meditationsübungen eingesetzt werden, um die durch die Medien (»Aufmerksamkeitsräuber«) abgestumpften Schüler für sich selbst und andere zu sensibilisieren. Gemeinsam mit seiner Frau, der Filmemacherin Anja Krug-Metzinger, hat der Philosoph den Dokumentarfilm »Das stille Leuchten« konzipiert, in dem gezeigt wird, wie Achtsamkeitsübungen in Sportvereinen und Schulen zu mehr Selbstbeherrschung, Einfühlung und Friedfertigkeit führen können. Einen kalten, herzlosen »Materialisten« wird man Metzinger also kaum nennen können, da er sich durchaus Gedanken darüber macht, wie die durch die Neurowissenschaften dekonstruierten alten Glaubensinhalte durch eine neue »Bewusstseinskultur« ersetzt werden können.
Metzinger begründet seine tiefe Skepsis gegenüber unsichtbaren Entitäten wie »Gott« oder »Geist« mithilfe von aufklärerischen Motiven. Er fordert mehr »geistige Autonomie« und drückt damit ein Unbehagen gegenüber zu viel naiver Gläubigkeit aus, mit der viele religiös oder esoterisch gestimmte Menschen »Erleuchteten« oder spirituellen Dogmen folgen. Dies ist ein Gedanke, den man durchaus ernst nehmen kann. Wenn außerhalb von uns eine mächtige und übergeordnete kosmische Intelligenz existiert, kann es auch leicht zu hierarchisch-autoritären Strukturen kommen, in denen sich Menschen einer »höheren Führung« überlassen und damit ihren autonomen Verstand verlieren. Das soll u. a. eine »säkulare« und von allen metaphysischen Größen gereinigte Spiritualität verhindern.
Doch Metzinger ist wie gesagt kein engstirniger Rationalist ohne Gespür für Zwischentöne. Immer wieder zitiert er auch Passagen von Menschen, die Entgrenzungserfahrungen in einer keineswegs nüchternen, sondern poetisch-spirituellen Sprache beschrieben. So etwa den Schriftsteller Aldous Huxley, der bei einem Meskalin-Trip das erfuhr, was der Mystiker Meister Eckhart die »Istigkeit« der Dinge nannte: etwa das »innere Leuchten« von Blumen, ihr »reines Sein«, das Huxley als ein Bündel einzigartiger Besonderheiten beschrieb, worin »der göttliche Ursprung allen Daseins sichtbar wurde«. Metzinger zitiert solche Sprachformeln ganz ohne Ironie und schreibt, dass viele dieser Erlebnisse auch mit Gefühlen von »absoluter Ehrfurcht, Verehrung und Heiligkeit« verbunden waren. Er räumt ein, dass die Wissenschaft noch nicht genau sagen könne, welchen Wert dies für den Einzelnen und die Gesellschaft haben könnte.
Wahrnehmung der Unendlichkeit
Obwohl Metzinger und andere Neuro-Philosophen eine gewisse Sympathie für mystische und buddhistische Traditionen zeigen, bleiben sie hart in ihrer Verurteilung von allem, was mit »Religion« zu tun hat. Was bedeutet das für Menschen, denen eine »säkulare Spiritualität« nicht genügt und die weiterhin einen Wert in bestimmten Vorstellungen der Weltreligionen sehen? Sollten wir die oft poetische Sprache der Mythenerzähler und Gottessucher tatsächlich den neuen und oft hässlichen Bezeichnungen überlassen, die Metzinger für eine neue »säkulare Spiritualität« vorschlägt: »Bewusstseins-Technologie«, »Neuro-Didaktik«, »pharmakologische Neuro-Technologie«, »rationale Neuroanthropologie«? Müssen wir – wie der Philosoph vorschlägt – an »unserer Hardware herumbasteln«, um Formen von »Turbo-Meditation« zu entwickeln, die die der traditionellen Mystiker weit übertreffen werden? Man erschrickt zuweilen vor dem technischen Optimierungszwang, der bei Metzinger durchschimmert, und vor der entseelten Sprache, mit der er seine Visionen vorträgt, obwohl diesen ein humanistisches Engagement nicht abzusprechen ist. Aber können wir von jemandem eine andere Sprache erwarten, für den das Wort »Seele« nur ein veraltetes Konstrukt ist, das man besser durch einen Begriff wie »Informationsfeld« ersetzen sollte?
Am Ende bleibt die Frage übrig, ob die vehemente Allergie heutiger Neuro-Philosophen gegenüber allem »Metaphysischen« wirklich nötig ist, etwa auch Metzingers herablassende Feststellung, dass nach wie vor achtzig Prozent aller Menschen in »vorwissenschaftlichen Weltbildern« leben? Sollte man den circa fünf Milliarden Christen, Muslimen und Hindus, die noch an ein »Geistig-Göttliches« außerhalb unserer Hirnstrukturen glauben, Metzingers Theorien zwangsverordnen?
Ich denke, dass trotz aller aufklärerischen Impulse einer neurowissenschaftlich orientierten Philosophie hier mehr Respekt angebracht wäre sowie eventuell auch ein Umdenken in Bezug auf die »Gefahren« metaphysischer Inhalte. Denn mythische Bilder sowie Vorstellungen von »Göttern«, »Engeln«, »Naturgeistern« und »übersinnlichen Kräften« müssen nicht per se antiaufklärerisch sein und sich auch nicht unbedingt mit den Ergebnissen der aktuellen Hirnforschung widersprechen. Denn diese konzediert immerhin zweierlei: Erstens: Da wir immer nur in einem neurologisch aufgebauten »Selbst-Modell« leben und nie zur »Wirklichkeit da draußen« vordringen, müssen wir auch – als gute Agnostiker – offenlassen, was »wirklich da draußen« ist. Und zweitens: Die heutige Neurowissenschaft hält es immerhin für möglich, etwa über Meditation oder den Gebrauch psychoaktiver Substanzen, dieses »Selbst-Modell« zu durchbrechen und in Zustände von Entgrenzung zu gelangen, in denen gesteigerte Gefühle einer All-Verbundenheit mit dem Ganzen möglich werden.
Immerhin zitiert Metzinger zustimmend den englischen Dichter William Blake, der bereits 1793 schrieb: »Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, erschien dem Menschen alles, wie es ist: unendlich. Aber der Mensch hat sich selbst eingeschlossen, bis er die Dinge nur durch schmale Spalten seiner Höhle sieht.« Mit »Unendlichkeit« meint Blake hier nicht nur die unübersehbare Fülle der Sinnesdaten, die auf unser Gehirn einstürmen würde, wenn es nicht ein abgegrenztes »Selbst-Modell« erzeugen würde. In diesem Begriff schimmert auch die funkelnde Weite, Schönheit und Majestät durch, die jeder kennt, der schon einmal in den nächtlichen Sternenhimmel geschaut hat. Die Neurowissenschaften geben ja zu, dass wir die von Blake benannten »Spalten« während bestimmter Grenzerfahrungen ausdehnen können, um ein Gespür für dieses »Unendliche« zu erhaschen: ein Wissen darum, dass wir von einem Größeren und Geheimnisvolleren umgeben sind, als wir im Alltag ahnen. Ist dies nicht schon ein Stück Alltagsmetaphysik, die auch positive ethische Konsequenzen nach sich ziehen könnte? Würden wir alle Dinge »unendlich« sehen, könnten wir noch mehr von ihrem Reichtum und ihrer unausschöpfbaren Aura verzaubert werden, was es schwieriger machen würde, sie zu bloßen »Objekten« zu degradieren. Dann könnte ein »göttlicher Funke« nicht nur in jedem Menschen und Tier hervorschimmern, wie es die jüdischen Kabbalisten lehrten, sondern auch in Pflanzen und sogar Steinen. Und es wäre möglich, nach dem Vorschlag der Theologin Dorothee Sölle, sogar »Gott im Müll« wahrzunehmen, mitten unter den Erniedrigten am Rande der Gesellschaft, was ihnen ein Stück Würde zurückgeben könnte.
Auf diese Weise ließen sich scheinbar verbrauchte metaphysische Begriffe auch als Metaphern für gesteigerte Achtsamkeit, Einfühlung und Verbundenheit gegenüber dem allseits Belebten lesen, wodurch sie unverfänglicher und zeitgemäßer würden. So könnte man Metzingers »metaphysisches Disneyland« vor der rigiden Totalentsorgung retten und in eine sinnvolle Vermittlung mit modernen Erkenntnissen bringen. Statt die alten Mythen und »heiligen Texte« auf den Abfallhaufen der Geschichte zu werfen, hätte man sie im dreifachen Hegelschen Sinne »aufgehoben«: aufgelöst, bewahrt und in eine höhere Stufe der Entwicklung integriert, in der sie eine neue Funktion erhalten.