und andere Fabeln der Wissenschaft
Wissenschaftliche Objektivität sollte sicherstellen, dass Forscher die Wahrheit entdecken oder aufdecken. Wie können Wissenschaftler, deren Forschungsgegenstand der Mensch ist, und damit verbundene Wissenschaften einen objektiven Blick beanspruchen, wenn sie implizit auch sich selbst erforschen? In diesem Artikel untersucht unsere Redakteurin Elizabeth Debold, wie Forscher auf verschiedenen Gebieten durch die Annahmen über die grundlegende Natur von Männern und Frauen geblendet wurden. Und sie fragt: Was bedeutet dies für die Zukunft der Sozialwissenschaften?
Jedes Mal, wenn sich Fruchtfliegen über die Bananen auf dem Küchentisch hermachen, geht mir ein irritierender Gedanke durch den Kopf: ›Wo zum Teufel kommen die bloß her?‹. Dann erinnere ich mich oft auch an die Theorie der »spontanen Schöpfung« aus dem 17. Jahrhundert, wonach Lebewesen aus nicht-lebendiger Materie entstehen könnten – so könnten Mäuse aus dreckigen Lumpen und auf dem Scheunenboden liegengebliebenen Weizenkörnern entstehen. Oder Fruchtfliegen entstehen aus Bananen. Obwohl es so aussieht, als wären die Fruchtfliegen wirklich aus den Bananen entstanden, weiß ich doch, dass es in Wirklichkeit nicht so ist.
Obwohl unsere tägliche Erfahrung des Sonnenaufgangs und -untergangs dem kopernikanischen Kosmos zu widersprechen scheint, setzen die vom Mond aufgenommenen Fotos der Erde – umgeben von einem unendlichen Meer aus Schwärze – ihn wieder in diesen Bezug. Das Verstehen von uns selbst und des Universums, das uns die Wissenschaft im Laufe der vergangenen 500 Jahre gegeben hat, hat über unsere Annahmen, Sinneserfahrungen und tiefsten Sehnsüchte hinausgeführt. Die Gegenbewegung, in der einige Menschen heute eine flache Erde annehmen – und damit die erste wesentliche Entdeckung der Wissenschaftlichen Revolution anzweifeln – erscheint wie ein verzweifelter Versuch, an der Autorität unserer Augen und Ohren sowie der unmittelbaren, konkreten Fähigkeit, unser Leben und unsere Erfahrung zu verstehen, festzuhalten.
Tatsächlich besteht seit jeher eine Spannung zwischen der Wissenschaft als Bestätigung unserer sozialen und materiellen Realität und einer Wissenschaft, die eine Welt offenbart, die sowohl fremdartig als auch offen für neue Potenziale ist. Das trifft vor allem für die Gesellschaftswissenschaften zu. Nehmen wir als Beispiel die Phrenologie. Im 19. Jahrhundert entwickelte der österreichische Arzt Franz Joseph Gall mit seinem Kollegen Johann Spurzheim eine Methode, um verschiedene »Organe« des Gehirns zu diagnostizieren, die sich durch Beulen auf der Schädeldecke zeigten. Indem sie Schädel aus allen Winkeln vermaßen, »bewies« die wissenschaftliche Theorie der Phrenologie, dass gebildete weiße Männer den Frauen und den unteren Klassen überlegen waren. Zudem schlossen sie aus ihrer Forschung, dass die europäische »kaukasische Rasse« allen anderen Ethnien überlegen sei. Diese Ansichten der Forscher, die vorgeblich wissenschaftliche Erkenntnisse waren, lieferten eine biologische, natürliche Begründung für die Versklavung anderer Menschen und das Fehlen von Frauen in Politik, Wirtschaft und Geistesleben.
Obwohl die Phrenologie fallengelassen wurde – außer von einigen Medizinern unter den Nationalsozialisten –, war die Erforschung des menschlichen Körpers, von Kulturen und anderen Lebewesen immer wieder von einem Mangel an wissenschaftlicher Objektivität gekennzeichnet, auf der sie doch beruhen soll. Das zeigte sich bei Vergleichen zwischen weißer und brauner oder schwarzer Hautfarbe und den entsprechenden Völkern. Es zeigt sich auch in Studien über Männer und Frauen. Damit meine ich keine Studien aus dem 19. Jahrhundert, sondern aktuelle Forschungen. Wie kann uns die Wissenschaft versprechen, uns die Wahrheit zu enthüllen, wenn die Arbeit von Wissenschaftlern oft durch ihre eigenen unbewussten Vorannahmen vernebelt ist?
Das herrschende Narrativ
Auf dem Gebiet der Anthropologie und Archäologie wurde durch viele Forschungen der Beginn der menschlichen Kultur untersucht. Man wollte wissen, wie wir zu den Frauen und Männern wurden, die wir heute sind. In dieser Forschung gibt es ein »herrschendes Narrativ«, das Wissenschaftler für die Grundsituation halten, aus der sich die menschliche Kultur entwickelte. In allen Zeiten und an allen Orten seit dem Anbeginn der Geschichte verkörpern Männer und Frauen in dieser Erzählung gegenteilige evolutionäre Rollen. Frauen sind, wie es heißt, sexuell »scheu«. Das heißt, sie sind sehr wählerisch darin, mit wem sie eine sexuelle Beziehung eingehen. Sie versuchen den vorteilhaftesten Partner anzuziehen, um sich und ihre Kinder zu unterstützen. Frauen »investieren« mehr in die Kindererziehung, deshalb versprechen sie dem Partner das alleinige, exklusive Recht auf Sex mit ihnen, um Fremdgehen zu verhindern und Nahrung für die Nachkommen zu erhalten. Und Männer, so geht die Geschichte weiter, wollen ihren Samen weit verbreiten, um so viele Nachkommen wie möglich zu zeugen – und sie nähren nicht die Kinder eines anderen Mannes. Dieses Narrativ wird durch ein Nullsummenspiel zwischen heterosexuellen Männern und Frauen »erklärt«, das uns seit dem Anbeginn der Zeit in einer genetischen Konkurrenz gehalten hat.
WIE KÖNNEN WIR DER WISSENSCHAFT VERTRAUEN, WENN DIEJENIGEN, DIE SIE BETREIBEN, SO BLIND FÜR IHRE EIGENE VOREINGENOMMENHEIT SIND?
Etwa hundert Jahre lang schauten die Forscher in die Prähistorie zurück, um die moderne Gegenwart zu verstehen. Viele von ihnen haben nun begonnen, ihre eigenen Annahmen zu hinterfragen. In diesem Prozess sehen sie neue Ergebnisse, die dem allgemeingültigen Narrativ widersprechen. Einer nach dem anderen werden die Grundelemente des herrschenden Narrativs neu geschrieben. Weibliche »Scheuheit«? Unsere weiblichen Homo sapiens-Vorfahren und Frauen in Stämmen in Südamerika, Papua Neu-Guinea und Indien sind nicht »scheu« beim Sex. Sie haben mehrere Partner – damit wollen sie dafür sorgen, dass ein Kind gute Eigenschaften von verschiedenen Männern übernimmt. Weit entfernt von sexueller Passivität, um einen exklusiven Partner auszuwählen und anzuziehen, leben erwachsene Frauen mit Männern, die Väter ihrer Kinder sind, in polyamorischen Familiengruppen zusammen. Hinweise darauf gibt es seit dem 19. Jahrhundert, als Lewis Morgan bemerkte, dass die Irokesen in Familiengruppen lebten, die im Grunde polyamorisch waren. Der Anthropologe M. Kay Martin erklärt, dies sei ein so oft beobachtetes Phänomen gewesen, dass die Forscher des 19. Jahrhunderts es als »Gruppenehe« bezeichneten. Im Falle, dass dies nicht klar geworden ist: Wenn Frauen nicht länger die Femme fatale spielen müssen, gibt es auch keinen Grund für die Männer, sich auf die Brust zu klopfen und mit anderen Männern zu konkurrieren, um Sex mit Frauen zu haben. Auch die Idee, dass Männer jagten, um vor den Frauen anzugeben und sie dazu zu bringen, mit ihnen Sex zu haben, wurde widerlegt.
Das neue Narrativ erzählt von Kooperation. Der Erfolg unserer Spezies hat mit unserer Fähigkeit für Teamwork und Zusammenarbeit zu tun – was männliche, weibliche und intersexuelle Menschen dazu aufruft, Seite an Seite und auf Augenhöhe zusammenzuleben. Das zeigt sich eindringlich in neuen Fossilienfunden, in ethnografischer Erforschung noch existierender Jäger-und-Sammler-Stämme, in Studien über andere Primaten usw. In einer Studie aus dem Jahre 2015 haben Mark Dyble und seine Kollegen vom University College London festgestellt, dass sexuelle Gleichheit genauso wie Sprache, Kooperation und Paarbindung ein übersehener Aspekt unserer frühen Vergangenheit ist, welcher die Zukunft der Menschheit sicherte.
DIE WISSENSCHAFT LÄDT UNS EIN, UNSERE FÄHIGKEITEN ZU KOMPLEXEM DENKEN, VORSTELLUNGSKRAFT UND INTEGRATION WEITERZUENTWICKELN.
Wer ist das »scheue« Mädchen?
Die zutiefst viktorianische Vorstellung, dass Frauen und Männer eine extrem gegensätzliche Beziehung zur Sexualität aufweisen, oder die eher zeitgenössische Vorstellung, dass Frauen und Männer Antagonisten und nahezu unterschiedliche Spezies sind, haben es den Forschern sehr schwer gemacht, ihre Daten objektiv zu beurteilen oder zu interpretieren. 1986 schrieb die in Harvard ausgebildete Primatologin Sarah Blaffer Hrdy, dass diese »theoretische Formulierung über das grundlegende Wesen von Männchen und Weibchen … eine der merkwürdigeren Ungereimtheiten in der modernen Evolutionsbiologie ist« und stellt fest, dass dieser Ansatz »trotz sich häufender, offen zugänglicher Nachweise, die dem widersprechen, über drei Jahrzehnte lang, von 1948 bis vor Kurzem, fortbestanden hat.« Natürlich bezieht sie sich dabei auf die Annahme, dass »Männchen leidenschaftlich und sexuell wahllos sind, während sich Weibchen in der Sexualität und Paarung scheu verhalten.«
Warum?, fragt sie. Charles Darwin war ein Naturforscher des viktorianischen Zeitalters, der, so die Primatologin, die Männchen als die »Werber« und die Weibchen als die »Wählenden« betrachtete. Laut Hrdy wurde die empirische Forschung von Angus John Bateman über die Fruchtfliege aus dem Jahr 1948, in der er die Behauptung aufstellte, dass »eine wahllose Begierde bei den Männchen und eine wählerische Passivität bei den Weibchen« ein Geschlechtsunterschied sei, von dem »zu erwarten ist, dass er gesetzmäßig existiert«, zur Grundlage für Darwins viktorianische Einteilung in zurückhaltende Weibchen und promiskuitive Männchen jeder Spezies.
Und warum?, frage ich. Es gibt Fruchtfliegen wie die auf meinen Bananen einerseits und Menschen in unseren verschiedenen komplexen Kulturen andererseits. Wie kann man davon ausgehen, dass die Regeln, die für die Paarung (und Kinderstube) dieser winzigen Fliegen gelten, und die, die für Menschen von Bedeutung sind, im Grunde die gleichen wären?
»Wie kann es noch große Zweifel geben, dass eine gewisse Voreingenommenheit im Spiel war, wenn solche Verallgemeinerungen noch Jahrzehnte, nachdem entkräftende Beweise bekannt geworden sind, weiterbestehen?« so Hrdy weiter. »Wir waren prädisponiert dafür, uns die Männchen als leidenschaftlich und die Weibchen als »scheu« vorzustellen; die Männchen als polygyn und die Weibchen als monandrisch. Wie sonst hätte die [Fruchtfliege]-zu-Primat-Extrapolation so unangefochten Einzug in das moderne evolutionäre Denken halten können?« Eine gewisse Voreingenommenheit, sicherlich – sowohl auf Seiten der männlichen als auch der weiblichen Forscher. Aber warum? Solche Annahmen über Männer und Frauen sind das Fundament der westlichen Kultur mit ihrer geschlechterspezifischen Trennung von Arbeit und Familie. Sie bilden den Kern unserer Identitäten als Frauen und Männer. Tatsächlich merkt Hrdy an, dass solche Fragen in ihrer Forschung für sie erst denkbar wurden, als sie begann, die Macht- und Geschlechterdynamik in ihrem eigenen Leben zu hinterfragen. Sich dem Undenkbaren zu öffnen und Daten zu berücksichtigen, die einem Modell widersprechen, erfordert eine ausgeprägte Selbstreflexion von Seiten der Wissenschaftler.
Geblendet durch Hormone
Die subtilen Auswirkungen dieser tief verankerten Annahmen über Männer und Frauen finden sich auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen wieder. Die Hormonforschung ist ein gutes Beispiel dafür. Im Zirkelschluss untersuchen Biologen, die an diese Dichotomie zwischen Männern und Frauen glauben, Hormone mit der Grundannahme, dass sie nach zwei verschiedenen Hormonen zu suchen haben, die zwei grundsätzlich unterschiedliche Geschlechter definieren.
Ein bestimmtes Hormonpaar scheint die Idee zu untermauern, dass Männer sexuell offensiv sind und Frauen nicht: Testosteron und Oxytocin. Testosteron wird mit Aggression in Verbindung gebracht, Oxytocin mit Zuneigung. Einige, wie etwa John Gray, Autor des Klassikers »Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus«, argumentieren, dass diese beiden Hormone den grundlegenden Persönlichkeitsunterschieden zugrunde liegen, die dazu führen, dass Männer sich männlich und Frauen sich weiblich fühlen (wie er sagt). In dieser geschlechtsspezifischen Zuordnung der Hormone liegt eine hübsche Symmetrie, die unsere Erwartungen an Frauen als zurückhaltend und Männer als sexuell durchsetzungsfähig perfekt bedient.
DEN UNZULÄNGLICHKEITEN DER WISSENSCHAFT KANN DURCH DAS STÄNDIGE STREBEN NACH EINER BESSEREN WISSENSCHAFT BEGEGNET WERDEN.
Die Autorinnen von »Testosteron: An Unauthorized Biography«, die biomedizinische Forscherin Dr. Katrina Karkazis und die biomedizinische Ethikerin Dr. Rebecca M. Jordan-Young, argumentieren, dass »Testosteron entschieden kein ›männliches Sexualhormon‹ ist.« Es wird von Frauen produziert und ist für ihre Gesundheit notwendig. »Ein Jahrhundert lang«, so schreiben diese Autorinnen, »hat die Diskussion über Testosteron als ›männliches Hormon‹ diese Folklore in die Wissenschaft eingewoben und dazu geführt, dass angeblich objektive Aussagen die kulturellen Überzeugungen über die Beschaffenheit der Männlichkeit und die ›natürliche‹ Beziehung zwischen Frauen und Männern zu bestätigen scheinen.« Die Hormone, die im Zusammenhang mit Paarung und Fortpflanzung ausgeschüttet werden, sind bei Frauen und Männern die gleichen; sie unterscheiden sich in den Mustern und Mengen, die dabei wirksam sind.
Neues Forschen nach Wahrheit
Ich könnte auf ähnliche Voreingenommenheiten in der Hirnforschung (wo es keine männlichen und weiblichen Gehirne gibt) oder in der medizinischen Forschung hinweisen, aber es läuft alles auf dieselbe Frage hinaus: Wie können wir der Wissenschaft als Weg zur Wahrheit vertrauen, wenn diejenigen, die sie betreiben, so blind für ihre eigene Voreingenommenheit sind?
»Das ist die Wissenschaft, wie sie derzeit praktiziert wird: ineffizient, voreingenommen, frustrierend, voller Irrwege und Ablenkungsmanöver«, sagt Hrdy, »aber nichtsdestotrotz empfänglich für Kritik und Selbstkorrektur und daher besser als jedes der anderen, ungeniert ideologischen Programme, die derzeit vertreten werden.« Die neuen Entdeckungen, die Hrdy und andere Forscher jenseits des herrschenden Narrativs machen, führen uns in neues Terrain: Die Art und Weise, in der wir Frauen und Männer sein können, ist nicht in irgendeinem evolutionären Sediment fixiert, sondern lässt viel Raum für kreatives Spiel. Die Wissenschaft lädt uns ein, unsere Fähigkeiten zu komplexem Denken, Vorstellungskraft und Integration weiterzuentwickeln – sie führt uns über die konkrete Erfahrung unserer Sinne und die Gewohnheiten unseres Geistes hinaus in das Unbekannte und Undenkbare.
Den Unzulänglichkeiten der Wissenschaft kann durch das ständige Streben nach einer besseren Wissenschaft begegnet werden, die ein tieferes Selbstverständnis und Hinterfragen der eigenen Annahmen umfasst. Die einzige Antwort auf die Grenzen der Wissenschaft ist die Wissenschaft selbst – als offene, systematische und sich selbst hinterfragende Erforschung von uns selbst und unserer Welt. Das gilt für uns als Laien ebenso wie für die Wissenschaftler.