Eine regenerative Wirtschaft

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

November 2, 2021

Featuring:
Dana Meadows
John Fullerton
Lewis Preston
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Issue:
Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
Der Markt
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Von der Wall Street zur Weisheit lebender Systeme

Vom Investmentbanker zum Vordenker einer regenerativen Wirtschaft – diesen Weg ging John Fullerton, der heute untersucht, wie wir unser wirtschaftliches Handeln an den Prozessen lebender Systeme ausrichten können. Wir sprachen mit ihm über die Wendepunkte, die ihn auf diesen Weg brachten, und die Möglichkeiten eines regenerativen Paradigmas. 

evolve: Sie waren fast zwanzig Jahre lang Direktor bei JPMorgan, einer der größten Investmentbanken, und haben dann die -Finanzwelt verlassen. Was hat Sie an der Finanzwelt gereizt und was hat Sie dazu bewogen, sie zu verlassen? 

John Fullerton: Ich bin nicht in erster Linie ins Bankgeschäft eingestiegen, um Geld zu verdienen. 1982 ging ich zu JPMorgan, weil ich etwas über das globale Finanzsystem lernen wollte. Der damalige CEO der Bank war Lewis Preston, der später Präsident der Weltbank wurde. Das war also der richtige Weg für mich: das Finanzwesen erlernen und die Welt retten. Aber dann wurde ich unweigerlich von einem Strom mitgerissen. Ich wurde von der Welle einer grundsätzlich neuen Form von Finanzgeschäften, den Derivaten, erfasst. Wir waren die jungen Wilden, wir übernahmen die Kapitalmärkte, weil wir wussten, wie man Computer bedient; das hatten wir unseren Chefs voraus. So einfach war das. Wenn man sich nicht mit Tabellenkalkulationen auskannte, konnte man dieses Geschäft nicht machen. Für die leitenden Banker war es eine Art Alchemie; sie konnten es nicht verstehen. Wir verstanden es, Geld aus dem Nichts zu verdienen, weil es all diese Ineffizienzen auf den globalen Kapitalmärkten gab, die man gewinnbringend und zum Vorteil vieler nutzen konnte. Das galt auch für uns als Zwischenhändler. Ich hatte also eine tolle Zeit, aber schon bald ging es nur noch ums Gewinnen. Das System wurde krank und ich merkte immer mehr, dass damit etwas nicht stimmte.

2001 verließ ich schließlich die Wall Street. Zuvor hatte ich mich jahrelang ruhelos gefühlt. Heute würde ich sagen, dass meine Seele zu mir gesprochen hat. Zunächst äußerte sich das darin, dass ich nach anderen Jobs suchte und immer häufiger in andere Abteilungen wechselte. Ich verspürte eine Unruhe, die so weit ging, dass ich mir ein paar Monate freinahm und infrage stellte, was ich tat. 

Eine Welt bricht zusammen

e: Wohin führte Sie dieser Prozess der Reflexion?

JF: Nachdem ich JPMorgan verlassen hatte, nahm ich erst einmal eine Auszeit über den Sommer. Dann, an meinem ersten Tag zurück in Manhattan, hatte ich ein Treffen mit einem Mann vereinbart, der ein Schulprojekt in freier Trägerschaft leitete, in das ich investieren wollte. Das Treffen war am 11. September 2001 um 9.30 Uhr in Lower Manhattan angesetzt. Gegen 9.10 Uhr schlug das erste Flugzeug in das World Trade Center ein.

Da befand ich mich gerade in der U-Bahn. Sie hielt an der City Hall-Station an, die Türen öffneten sich und blieben geöffnet. Dann kam ein Mann zu uns ins U-Bahn-Abteil und rief: »Gerade ist ein Flugzeug in das Trade Center geflogen.« Zuerst dachte ich, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Ich beschloss, den Rest des Weges zu Fuß zu gehen und stieg die Treppe hinauf. In dem Moment, als ich die Straße erreichte, hatte das zweite Flugzeug gerade den zweiten Tower getroffen und ich sah den Feuerball. Ich versuchte, das Geschehene zu begreifen und schaute ungläubig auf die Türme. Meine unmittelbare Reaktion war, dass etwas in der Welt vor sich geht, das wir noch nicht einmal ansatzweise verstehen. In den folgenden Tagen empfand ich nicht so sehr Wut auf die Täter, mich beschäftigte eher die Frage, was die eigentliche Botschaft war. Ich nahm das Ereignis als ein Zeichen dafür wahr, dass in der Welt etwas gewaltig schiefläuft und sich ändern muss. Und das hatte mit dem globalen Kapitalismus zu tun. Eine ähnliche Reaktion hatte ich einige Jahre später, als die Finanzkrise ausbrach. Für mich war das der Pflock ins Herz der Finanzinstitution. Nie wieder würde die Gesellschaft der Finanzwelt vertrauen – noch sollte sie es tun. 

Mit dieser Erfahrung vom 11. September begann meine Neuorientierung. Ich habe mehrere Jahre lang intensiv nachgedacht und las zahlreiche Bücher – vorher war ich weder ein großer Leser noch wissenschaftlich interessiert gewesen. Es war kein organisiertes Bildungsprogramm, sondern eine sehr persönliche intensive Suche. Erstmals fühlte ich mich zu Philosophie und Spiritualität hingezogen. Bald empfahl mir jemand »Die Grenzen des Wachstums«, den Bericht des Club of Rome von Dana Meadows. Für mich als Finanzfachmann brachte die Frage »Ist exponentielles Wachstum auf einem endlichen Planeten möglich?« meine ganze Weltsicht zum Einsturz.

Die Frage »Ist exponentielles Wachstum auf einem endlichen Planeten möglich?« brachte meine ganze Weltsicht zum Einsturz. 

e: Diese Frage wird im Finanzwesen nicht gestellt?

JF: Das ist eine unhinterfragte Annahme. Der Zinseszins ist das Fundament, auf dem das gesamte Finanzwesen aufgebaut ist. Das Finanzwesen konzentriert sich nur auf interne Renditen. »Intern« bedeutet, dass alles auf das eigene Projekt reduziert und alles andere externalisiert wird, wie z. B. die Auswirkungen auf die Umwelt. Die Exponentialfunktion ist es, die das Finanzwesen so mächtig macht. Wenn wir als Kultur unser Finanzkapital kollektiv einsetzen, um exponentielle Zinseszinsen zu erwirtschaften, die der Treibstoff des Wirtschaftssystems sind, ist der ökologische Kollaps unweigerlich garantiert. Das gilt auch für den sozialen und politischen Zusammenbruch, den wir heute erleben.

Die Weisheit lebender Systeme

e: Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

JF: Meine Vision beruht auf dem sehr realen, aber derzeit noch nicht erkannten Potenzial lebender Systeme. Ich nenne dies das regenerative Potenzial. Wenn wir lernen, unser Wirtschaften an den Mustern und Prinzipien lebender Systeme auszurichten, eröffnet dies die Möglichkeit, dieses unendliche Potenzial anzuzapfen, ein regeneratives Potenzial, das wir noch nicht sehen können, weil wir es nicht manifestiert haben. Dennoch sehe ich dieses Potenzial immer wieder in meiner Arbeit, sowohl in meinen Lernerfahrungen als auch bei meinen Investitionen. Ich weiß, dass es real existiert. Die Frage ist nur, wie schnell und in welchem Umfang sich dieses Potenzial entfalten kann, um den sehr realen Zusammenbruch, der bereits im Gange ist, abzumildern.

e: Wo sehen Sie dieses Potenzial konkret?

JF: Es beginnt mit der Landwirtschaft, die eigentlich die Grundlage jeder modernen Wirtschaft ist. Leider erkennen wir das nicht, denn wir messen die Wirtschaftszweige nach ihren Einnahmen und nicht nach ihrem grundlegenden Wert. Ich habe zum ersten Mal durch Allan Savory und seine Arbeit im Bereich der ganzheitlichen Beweidung von der regenerativen Landwirtschaft erfahren. Er ist ein kontroverser Mann, ein weißer Simbabwer, der in den Guerillakriegen gegen Ian Smith gekämpft hat. Aber seine wahre Leidenschaft gilt dem Busch, wie er es nennt, dem riesigen afrikanischen Grasland. Als junger Erwachsener sah er, dass die Flächen verödeten, also beobachtete er, was dort geschah. Er bekam einen Einblick in das Leben der großen Pflanzenfresser, die sich in riesigen Herden über die Ebenen bewegten. Der Effekt war, dass sie intensiv grasten, ihren Kot und Urin hinterließen und beim Fressen mit ihren Hufen den Boden aufwirbelten. Dann zogen sie auf der Suche nach frischem Gras weiter. Durch diesen Prozess düngen sie das Grasland. Diese Graslandschaften, die nach den Ozeanen die zweitgrößten Kohlenstoffspeicher sind, vergleichbar nur mit den Wäldern, können nur dann gesund sein, wenn es eine symbiotische Beziehung zwischen großen Pflanzenfressern und dem Gras gibt. In unserem industriellen Fleischerzeugungssystem und sogar in vielen unserer Nationalparks haben wir diese symbiotische Beziehung zerstört. Wenn man alle Rinder vom Land entfernt, wie wir es in vielen Nationalparks getan haben, kommt es zur Wüstenbildung, weil diese symbiotische Beziehung nicht mehr besteht. 

Allan und ich gründeten ein Unternehmen namens Grasslands, das Land erwarb und es dann auf dieses ganzheitlich orientierte, regenerative Paradigma umstellte. Durch diese ganzheitliche Bewirtschaftungsmethode, die sich an den Grundsätzen lebender Systeme orientiert, konnten wir die Gesundheit großer Landschaftsteile schnell verbessern. Dieser regenerative Ansatz ist auch rentabler und widerstandsfähiger. Bei der ganzheitlichen Bewirtschaftung braucht man zwar mehr Rinder pro Hektar für diese dichten Herden, aber dann lässt man das Gebiet zwischendurch ruhen. Land und Boden sind gesünder, halten mehr Wasser zurück und binden mehr Kohlenstoff. 

Ich hatte dann die einfache Idee, diesen Ansatz auf das lebende System, das wir Wirtschaft nennen, auszuweiten. Für mich ist Wirtschaft ein lebendes System, das wiederum aus lebenden Systemen (Menschen mit ihren Technologien) besteht, die vollständig in die lebenden Systeme von Bioregionen und der Erde selbst eingebettet sind. Wenn man das akzeptiert, ergibt sich der Rest von selbst, denn wir wissen eine Menge über lebende Systeme. Aber es gibt nur sehr wenige Wirtschaftswissenschaftler, die etwas darüber wissen, weil sie nicht Biologie, sondern Mathematik studiert haben. 

Die Menschheit ist ein integraler Bestandteil eines verbundenen Lebensnetzes, in dem es keine wirkliche Trennung zwischen »uns« und »es« gibt. 

Regenerative Prinzipien

e: Was wären die Grundsätze einer regenerativen Wirtschaft?

JF: Es gibt keinen »richtigen« Weg, um die immense Komplexität, die die Genialität lebender Systeme ausmacht, auf eine einfache Liste von Grundsätzen zu reduzieren. Dennoch müssen wir das versuchen, um es kommunizieren zu können. Unter diesem Vorbehalt haben wir acht Prinzipien der regenerativen Vitalität identifiziert, die für eine regenerative Wirtschaft grundlegend sind.

Der erste Grundsatz ist das Konzept der richtigen Beziehung, denn die Menschheit ist ein integraler Bestandteil eines verbundenen Lebensnetzes, in dem es keine wirkliche Trennung zwischen »uns« und »es« gibt. Wir sind alle miteinander verbunden; wenn ein Teil dieses Netzes beschädigt wird, wirkt sich dies auch auf alle anderen Teile aus. Wenn die Beziehungen zusammenbrechen, ist systemische Gesundheit unmöglich. 

Wir müssen auch den Wohlstand ganzheitlich betrachten, denn wahrer Wohlstand ist nicht nur Geld auf der Bank. Er muss im Sinne des Wohlbefindens des Ganzen definiert und verwaltet werden, das durch einen breit geteilten Wohlstand über alle Arten von Reichtum oder Kapital, einschließlich des sozialen (beziehungsorientierten), kulturellen, lebendigen und erfahrungsbezogenen Kapitals erreicht wird – neben dem materiellen und finanziellen. 

Eine regenerative Wirtschaft ist innovativ, anpassungsfähig und reaktionsschnell. In einer Welt, in der der Wandel allgegenwärtig ist und sich beschleunigt, sind kontinuierliches Lernen und Qualitäten wie Innovation und Anpassungsfähigkeit entscheidend. Eine solche regenerative Wirtschaft basiert auch auf einer ermächtigten Teilhabe. Das bedeutet, dass alle Teile in einer Weise zu dem größeren Ganzen in Beziehung stehen müssen, die sie nicht nur befähigt, für ihre eigenen Bedürfnisse zu sorgen, sondern sie auch in die Lage versetzt, ihren einzigartigen Beitrag zur Gesundheit und zum Wohlbefinden des größeren Ganzen, in das sie eingebettet sind, zu leisten. Mit anderen Worten: Jenseits aller moralischen Überzeugungen gibt es eine wissenschaftlich begründete systemische Notwendigkeit, Ungleichheit, Rassismus, Vorurteile und Ungerechtigkeit zum Wohle des Ganzen zu überwinden. 

Lebendige Systeme erwachsen an einem spezifischen Ort. Jedes regenerative Paradigma muss deshalb die Gemeinschaft und den Ort wertschätzen. Jede Gemeinschaft besteht aus einem Mosaik von Völkern, Traditionen, Überzeugungen und Institutionen, die durch die langfristigen Einflüsse der Geografie, der menschlichen Geschichte, der Kultur, der lokalen Umwelt und der sich verändernden menschlichen Bedürfnisse einzigartig geformt sind. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache fördert eine regenerative Wirtschaft gesunde und widerstandsfähige Gemeinschaften und Regionen, von denen jede in einzigartiger Weise durch die Essenz ihrer individuellen Geschichte und ihres Ortes geprägt ist. 

Wir müssen auch verstehen, dass Kreativität und Fülle synergetisch an den »Rändern« von Systemen gedeihen, wo die Vielfalt am größten ist und die Bindungen, die das vorherrschende Muster aufrechterhalten, am schwächsten sind. Darüber hinaus sind alle lebenden Systeme auf einen stabilen Kreislauf angewiesen. So wie die Gesundheit des Menschen von einer stabilen Zirkulation von Sauerstoff, Nährstoffen usw. abhängt, so hängt auch die wirtschaftliche Gesundheit von einer stabilen Zirkulation nicht nur materieller Ressourcen (wie in der Kreislaufwirtschaft), sondern auch vom Fluss von Geld, Informationen sowie Waren und Dienstleistungen ab, um den Austausch zu fördern, Giftstoffe auszuspülen und jede Zelle auf jeder Ebene unserer menschlichen Netzwerke zu nähren.

Regenerative Systeme streben nach Gleichgewicht. Wie Yoga-Praktizierende seit jeher gelehrt haben, ist das Gleichgewicht für die Gesundheit des Systems unerlässlich. Wie ein Einradfahrer befinden sich regenerative Systeme immer in diesem heiklen Tanz auf der Suche nach dem Gleichgewicht. Eine regenerative Wirtschaft strebt nach einem Gleichgewicht zwischen Effizienz und Widerstandsfähigkeit, Zusammenarbeit und Wettbewerb, Vielfalt und Kohärenz sowie nach einer Struktur aus kleinen, mittleren und großen Organisationen, die im Rahmen einer gesunden Hierarchie zusammenarbeiten. In ihrer Gesamtheit betrachtet, stehen diese Muster und Grundsätze der (kurzfristigen) Ausbeutungsideologie, die der modernen Finanzlogik zugrunde liegt, direkt entgegen.

Wie ein Einradfahrer befinden sich regenerative Systeme immer in diesem heiklen Tanz auf der Suche nach dem Gleichgewicht. 

e: Welches Ziel verfolgen Sie mit dem regenerativen Wirtschaftsdenken?

JF: Den Kapitalismus neu zu überdenken wurde zu meinem Lebensziel, und manche nennen diesen Weg von JPMorgan zur regenerativen Wirtschaft einen mutigen Schritt. Aber ich halte mich selbst überhaupt nicht für mutig, denn ich bin bei JPMorgan mit zahlreichen Aktienoptionen ausgestiegen. Verglichen mit Leuten, die wirklich mutig sind, war das ziemlich einfach. Aber dann habe ich erfahren, dass die Wurzel des Wortes courageus (Englisch für mutig) im französischen coeur liegt, was Herz bedeutet. In diesem Sinne bin ich mutig, weil ich auf dieser ganzen Reise immer meinem Herzen, meiner Intuition gefolgt bin. Und Intuition ist eine der Energien, die unsere Kultur mehr zu schätzen lernen muss. Ich trage also meinen Teil dazu bei, denke ich.  

Das Gespräch führte Elizabeth Debold.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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