Offenheit für andere Weisen des Menschseins
Susanne Cook-Greuter ist eine der Vordenkerinnen der Entwicklungspsychologie, insbesondere der Erforschung höherer Stufen menschlicher Entfaltung. In ihrer Arbeit formuliert sie zunehmend auch Kritik am westlichen Blick auf die Weiterentwicklung des Menschen. Wie können, ja, müssen wir heute unser Verständnis des Menschseins erweitern? Und was bedeutet das für unseren Weg durch diese stürmischen Zeiten?
evolve: Als prominente Forscherin auf dem Gebiet der menschlichen Entwicklung waren Sie an dem Projekt »Inner Development Goals« (IDGs) beteiligt, in dem die Qualitäten und Fähigkeiten aufgezeigt werden, die Erwachsene ausbilden müssen, um in dieser Zeit des Umbruchs und des Übergangs zu leben. Welche Fähigkeiten der menschlichen Entwicklung halten Sie in dieser Zeit für besonders wichtig?
Susanne Cook-Greuter: Bei dieser Frage haben sich meine eigenen Forschungen und Überlegungen seit den Treffen in Schweden mit der Ekskäret-Stiftung zur Formulierung der IDGs weiterentwickelt. Ich beendete meine Einführung dort mit der Aussage, dass wir uns alle mehr auf Mut, ein offenes Herz, einen offenen Geist und eine offene Hand konzentrieren müssen – Großzügigkeit, die aus einem Gefühl der Fülle kommt. Und auch eine »offene Tür«, was Toleranz bedeutet, eine Offenheit gegenüber allen Unterschieden zwischen den Menschen. Diese Fähigkeiten können auf allen Entwicklungsebenen eingeführt und kultiviert werden; sie sind nicht entwicklungsabhängig und daher besonders nützlich, wenn wir an die heutige Zeit denken. Wir alle brauchen Mut, wir alle müssen toleranter sein als je zuvor – tolerant gegenüber anderen Meinungen und anderen Reaktionen auf die Unsicherheit, in der wir uns befinden.
Und wir müssen uns fragen: Was können andere, die nicht Teil der westlichen Weltanschauung sind, zu einer neuen Sicht auf die Veränderungen, die heute notwendig sind, beitragen? Bei den IDGs haben wir noch nicht den Blick über die westlichen Werte hinaus gerichtet.
Ich gehöre zum Beispiel der Integral African Community an, wo wir eine Reihe von Dialogen über das Konzept des Selbst führen. In Ubuntu, einer in afrikanischen Kulturen weithin akzeptierten Auffassung, ist man nicht für sich allein eine Person, sondern nur in Beziehung zu anderen. Es gibt nicht das Gefühl eines individuellen Selbst, das Dinge anhäufen muss. Im Grunde gibt es eher ein Gefühl des Teilens und des Zusammenseins bei allem, was man tut. Man hat genug, man braucht nicht immer mehr zu haben. Wir wissen, dass es auf der Welt genug Nahrung für alle gibt. Aber so, wie unsere Sozial- und Wirtschaftssysteme aufgebaut sind, kommen die Lebensmittel nicht bei denen an, die sie brauchen, und ein großer Teil wird verschwendet. Vielleicht bringt diese Zeit des Übergangs mehr Menschen dazu, wieder zu erkennen, was wirklich wichtig ist.
Wir brauchen einander
e: Und nach dem, was Sie gesagt haben, ist heute besonders die Beziehungsfähigkeit wichtig.
SCG: Ja. Nicht nur auf den sogenannten »höheren«, postkonventionellen Ebenen der menschlichen Entwicklung müssen wir erkennen, dass wir zusammengehören und miteinander verbunden sind. Es ist die Rückkehr zu dieser tiefen Erkenntnis: Ja, ich brauche dich. Du brauchst mich; wir alle brauchen einander, um diese schwierigen Zeiten zu überstehen. Wir können alle großzügiger sein. Wir wissen aus anderen Kulturen, aus »armen« Ländern, dass die Großzügigkeit dort wahrscheinlich genauso ausgeprägt ist wie im Westen oder vielleicht sogar noch ausgeprägter als hier. Es gilt das Ethos, mit unseren Nachbarn zu teilen, was wir haben.
e: In den Vereinigten Staaten wurde viel darüber geforscht, dass die Armen eher bereit sind, den Bedürftigen zu helfen. Wie können wir erreichen, dass wir, die wir privilegiert sind, großzügiger und toleranter sind – mit offenem Geist, offenem Herzen, offener Hand? Oder ist dies ein natürliches Muster unseres Menschseins, das sich zeigen wird, wenn wir diese Krisen gemeinsam bewältigen?
¬ ES IST DIE RÜCKKEHR ZU DIESER TIEFEN ERKENNTNIS: JA, ICH BRAUCHE DICH. ¬
SCG: Das wirft die Frage auf: Sind wir als Menschen von Natur aus gut? Ich hoffe, dass wir grundsätzlich dazu neigen, füreinander zu sorgen, großzügig zu sein und zu teilen, was wir haben. Aber ich weiß es nicht. Wir können nur hoffen und uns von ganzem Herzen bemühen, auch nur einen kleinen Unterschied in unserem Umfeld zu machen, indem wir über die Entfernungen hinweg im Familien-, Nachbarschafts- und Freundeskreis miteinander sprechen und uns gegenseitig ermutigen und unterstützen, über die Grenzen hinweg diese Werte zu vertreten.
e: Die westliche Kultur konditioniert uns darauf, uns als getrennte, autonome Persönlichkeiten wahrzunehmen. Unsere Entwicklungsmodelle basieren darauf. Wie könnte der Übergang zu einem stärker integrierten, verbundenen Selbst erfolgen?
SCG: In indigenen Kulturen ist diese Weisheit in die Lebenspraxis eingebettet. Die Kinder lernen sie kennen, die Rituale helfen ihnen, zu dieser Erkenntnis zu gelangen, die Praktiken des Teilens von Nahrung, Liedern und Tanz sind davon erfüllt. Wir können aus dieser Perspektive lernen und sogar unser Bildungssystem ändern, damit es wieder kreativer wird. Heute geht es in der Erziehung nur noch darum: Wie kannst du zum Konsum beitragen, wenn du erwachsen bist?
Kunst und Musik verbinden uns. Überall auf der Welt kommt man einander näher, wenn Menschen zusammen singen. Es hebt die Stimmung, erfüllt uns mit einem Wohlgefühl. Das Gleiche gilt für den Tanz, es gibt keine Kultur, die nicht tanzt. Daher müssen wir das Spiel und die Kreativität wieder in den Lehrplan aufnehmen, damit sie ihre Magie der Verbindung und Freude entfalten können. Wenn man Kinder nur darauf programmiert, etwas zu leisten und Wissen zu erlangen, das sie wiederholen können, was für Menschen erziehen wir dann? Man kann sie kontrollieren, sie befolgen Regeln und werden abhängig.
Von anderen Kulturen lernen
e: Wir vernachlässigen die menschliche Vorstellungskraft, die vielleicht der menschlichste Aspekt von uns ist.
¬ ICH MACHE MIR SORGEN, DASS DIE TECHNOLOGIE UNSERE MENSCHLICHKEIT ÜBERHOLT HAT. ¬
SCG: Die westliche Weltanschauung und die konsumorientierten, kommerziellen Werte haben sich über die ganze Welt verbreitet. Sogar die englische Sprache wurde zu einem kolonisierenden Faktor. Wir im Westen haben eine sehr eigentümliche Art entwickelt, die Realität zu beschreiben, die sich auch in unserer Sprache zeigt. Sie ist auf Objekte bezogen, eines nach dem anderen, und hat eine lineare Struktur. Es gibt auch andere Möglichkeiten, diese Sprache zu verwenden, wenn Sie an Shakespeare oder die Poesie denken, da haben wir faszinierende, schöne Möglichkeiten, Erfahrungen anzusprechen. Aber im Allgemeinen vereinfacht die englische Sprache die Dinge.
Auf diese Weise gehen uns wichtige Aspekte der menschlichen Erfahrung verloren. Wir können von anderen Kulturen lernen, indem wir uns intensiv mit ihnen auseinandersetzen. Wir müssen ihre Ideen und was ihnen wichtig ist verstehen lernen. Ich finde es immer noch faszinierend, wie viele Menschen im Westen Afrika als die Dritte Welt, den dunklen Kontinent betrachten. Das ist einfach so tief eingeprägt. Wir sind uns nicht bewusst, welche Schätze in anderen nicht-westlichen Kulturen verborgen sind.
Im Allgemeinen lehren uns die indigenen Völker, dass wir ein Teil der Welt sind und nicht getrennt. Wir sind von der Erde abhängig. Es gibt nicht diese Vorstellung, dass wir getrennt und jenseits dieser Verbindung existieren – eine Sichtweise, die für mich eine große Gefahr ist. Wir glauben wirklich, dass wir überlegen sind und alles mit technologischen Fortschritten lösen können.
Auf dem westlichen Weg der Entwicklung können wir schließlich auf höheren Stufen zu der Erkenntnis gelangen, dass wir voneinander abhängig und immer miteinander verbunden sind. Aber die indigenen Kulturen zeigen uns, dass dieses umfassendere Verständnis nicht von unserem Entwicklungsstand abhängt.
e: Unsere westlichen Entwicklungsmodelle beruhen weitgehend auf Sprache und kognitiver Komplexität.
SCG: Ja, und ich hoffe, dass die Theorie der Ich-Entwicklung ein wenig offener ist und auch andere Aspekte berücksichtigt. Denn es kann sein, dass jemand in einem Test zur vertikalen Entwicklung gut abschneidet und fabelhaft denken kann, ihm aber etwas Grundlegendes fehlt. Es fehlt eine grundlegende menschliche Einfachheit, es fehlt die Verbundenheit, sich eins zu fühlen und mit anderen zusammen sein zu können, die nicht so komplex denken können. Wir spüren, wenn jemand kognitiv sehr versiert, aber als Mensch nicht besonders entwickelt ist. Er lebt nicht das, was er so gewandt mit Worten beschreiben kann. Die Art und Weise, wie wir über Dinge denken können, hat nicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was wir als Mensch sind.
Einfach sein können
e: Was fehlt Ihrer Meinung nach?
SCG: Das Selbstbewusstsein, das Bewusstsein für die eigene Konditionierung durch westliche Vorannahmen und die eigene Privilegierung der eigenen Sichtweise. Verbundenheit zu verstehen, ist viel umfassender als nur die Fähigkeit, über komplexe Dinge auf komplexe Weise nachzudenken. Können wir erkennen, auf welche Weise wir über die Dinge denken? Denn unsere Schlussfolgerungen können eine Falle sein, die uns von der tatsächlichen, unmittelbaren Erfahrung entfernt.
e: Ja, es kann auch ein Weg sein, um Überlegenheit, Spaltung oder Untätigkeit zu rechtfertigen.
SCG: Wäre es nicht auch ein Zeichen für einen reifen Erwachsenen, dass er seine Energien aus den früheren Stadien nutzen kann, um angemessen auf das zu reagieren, was im Moment notwendig ist? Manchmal brauchen wir kein kompliziertes Gespräch mit jemandem zu führen, wenn wir etwas im Laden kaufen. Können wir mit der Person, die uns die Briefmarke verkauft, in Beziehung treten, ohne unsere komplexe Sprache zu benutzen, einfach direkt als Mensch? Und können wir uns auf die Energien in den frühen Stadien einlassen? Gelegentlich muss man in der Lage sein, das auszudrücken, was wir als strenge Liebe bezeichnen könnten. Man muss in der Lage sein, sich mit jemandem auf diese konsequente Art zu verbinden. Dazu gehört auch, dass man sich von Abwehrmechanismen und Rechtfertigungen befreien kann, um aus einem tiefen Impuls heraus zu handeln, aus dem, was in einem Augenblick von innen kommt, und vielleicht sogar sein Leben zu riskieren. Das wird manchmal als richtiges Handeln für das Gemeinwohl bezeichnet. Wir neigen dazu, Impulse als niedere oder »primitivere« Aspekte des Selbst zu betrachten. Der Impuls ist an sich nichts Schlechtes. Aber oft stecken wir die Menschen in eine Schublade und geben vor zu wissen, warum sie etwas tun.
¬ WIR SIND UNS NICHT BEWUSST, WELCHE SCHÄTZE IN ANDEREN NICHT-WESTLICHEN KULTUREN VERBORGEN SIND. ¬
e: Wird die Fähigkeit, auf die Energien früherer Teile des Selbst zuzugreifen, in einem Entwicklungsmodell berücksichtigt?
SCG: In der Ich-Entwicklung lehren wir, dass die Integration wichtiger ist als das Erreichen einer bestimmten Stufe. Man kann auf der Stufe, auf der man sich befindet, integriert und zuhause sein, das heißt, man kann die neuen Fähigkeiten nutzen, die zu dieser Stufe gehören, hat aber einige der Energien der früheren Stufen integriert. Und ich denke, die integrale Theorie hat recht, wenn sie sagt, dass man auf einer integralen Stufe sein muss, um seine eigene Entwicklung voll zu erfassen und dann auch das Mitgefühl für andere zu haben, egal auf welcher Stufe sie sich befinden. Aber das ist nur ein Ideal. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass unsere Entwicklungstheorien immer Idealvorstellungen und Abstraktionen sind, denn kein Mensch passt in all diese Kategorien und Merkmale, die bestimmten Stufen zugeschrieben werden. Es gibt viel mehr Vielfalt und verschiedene Aspekte, die sich auf unser Sein auswirken, als nur die Art, wie wir denken können, und welche Entwicklungsperspektive wir einnehmen können.
Kreative Bildung
e: Wie können wir Entwicklungsräume oder Mikrokulturen schaffen, in denen einige der Fähigkeiten, von denen Sie sprechen, gedeihen können?
SCG: Das hängt mit der Frage zusammen, wie wir die Bildung anders gestalten können, wie wir Erwachsene und vor allem die Kinder ganz praktisch auf die Werte ausrichten können, die wir gerade erwähnt haben. Das ist eine Aufgabe für diese Art von Forschung, an der ich gerade in zwei Projekten beteiligt bin: dem Forschungsprojekt »Harvard Flourishing« und »Growth that matters«.
Wir müssen fragen: Was bedeutet es, sich als Mensch zu entfalten? Ich habe das Gefühl, dass die indigenen Stimmen in dieser Forschung nicht ausreichend vertreten sind. Sie hat immer noch den Beigeschmack unserer westlichen Vorstellungen von Bildung und Menschsein. Wie sieht ein Menschenbild aus, das nicht nach dem Höchsten, Schnellsten oder Klügsten sucht, das wir erreichen können, sondern danach, wie wir uns entfalten können? Wie können wir zufrieden sein? Wie können wir herausfinden, was gut genug ist? Wie viel brauchen wir wirklich? Diese Fragen führen uns zu einer anderen Sichtweise auf die Realität und auf uns als Menschen.
e: Sie haben einige Male vom Nichtwissen gesprochen. Warum ist Nichtwissen aus Ihrer Sicht ein wichtiger Aspekt für unsere weitere Entwicklung?
SCG: Es geht um Offenheit, denn wir wissen nicht, was passieren wird. Wir wissen nicht, wie die Technologie uns als Menschen verändern wird. Was passieren wird, wenn technische Geräte implantiert werden und die Gene schon vor der Geburt, in der Gebärmutter, verändert werden. Das westliche Denken hat sich mit dem Ziel des endlosen Wachstums und den technischen Lösungen für alle Probleme über die ganze Welt ausgebreitet. Wir reisen sogar zu anderen Planeten, um die Ressourcen auszubeuten. Wir haben unsere eigenen Ressourcen auf der Erde erschöpft, jetzt wollen wir neue Ressourcen auf anderen Planeten nutzen.
Dieses Denken ist zerstörerisch und basiert auf der Trennung des Menschen von der Natur. Es ist beängstigend, weil diese Art des Denkens am Ende die Oberhand gewinnen könnte. In dieser Denkweise können wir jedes unserer Probleme durch mehr Technologie lösen. Aber das ist meiner Meinung nach eine falsche Annahme in unserem Denken, eine Fehlannahme, die besagt, dass wir die Kontrolle haben, wo wir doch stattdessen in Verbundenheit existieren.
e: Was gibt Ihnen angesichts dieser Situation Hoffnung?
SCG: Dass wir erkennen, wie sehr wir »gezähmt« wurden, wie wir sozialisiert und programmiert sind, das Leben auf eine bestimmte Weise zu betrachten. Diese Denkweisen haben uns dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Als Menschen haben wir aber auch die Fähigkeit, uns neu anzupassen. Und wenn wir uns unserer Denkfallen bewusst werden, können wir offener dafür werden, neue Lebensweisen zu entdecken.