Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
January 31, 2019
Michael Schmidt-Salomon ist einer der prominentesten Religionskritiker im deutschsprachigen Raum, hält aber mystische Erfahrungen durchaus für relevant, um unsere Welt tiefer zu verstehen. Wie sieht ein Agnostiker die Zukunft der Religion und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität?
evolve: Das Wort Religion, wie wir es in dieser Ausgabe von evolve verwenden, hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits ist damit der religiöse Impuls gemeint, der hier fast deckungsgleich mit dem spirituellen Impuls ist, und andererseits sind hier Religionen als Institutionen gemeint. Sehen Sie als Agnostiker eine Zukunft für diesen religiösen Impuls und die religiösen Institutionen im Kontext einer offenen säkularen Gesellschaft?
Michael Schmidt-Salomon: Es ist wichtig, zwischen den tradierten Offenbarungsreligionen und dem, was man »Religiosität« nennen könnte, zu unterscheiden. Die traditionellen Religionen sind in Westeuropa eindeutig auf dem Rückzug, auch weltweit kann man einen starken Säkularisierungstrend feststellen. Selbst der Fundamentalismus ist eine Reaktion auf die Säkularisierung, denn letztlich handelt es sich dabei um den verzweifelten Versuch, Fundamente abzusichern, die längst ins Wanken geraten sind.
In Deutschland gibt es mittlerweile mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken oder Protestanten. Die meisten Menschen definieren sich und den Sinn ihres Lebens längst nicht mehr über traditionelle religiöse Konzepte. Ein Grund dafür ist, dass die Glaubensinhalte der Religionen kaum noch mit unserem Wissen über die Welt in Einklang gebracht werden können. Zudem gibt es soziale Gründe: Karl Marx sprach zu Recht davon, dass die Religion »der Seufzer der bedrängten Kreatur« sei. Durch die Verbesserung der sozialen Verhältnisse – die natürlich noch immer nicht ideal sind, aber sehr viel besser als in früheren Zeiten – ist das Leiden am Leben und an der Ungerechtigkeit der Welt zurückgegangen. Dadurch haben die klassischen Religionen an Bedeutung verloren – vor allem in Westeuropa.
In der wissenschaftlichen Sichtweise liegt eine Poesie, die alle Dimensionen sprengt.
e: Was bedeutet dies für den religiösen Impuls?
MSS: Aus dem Niedergang der Offenbarungsreligionen in den entwickelten Gesellschaften lässt sich keineswegs ableiten, dass es keine »Religiosität« mehr gebe. Tatsächlich ist uns der religiöse Impuls, der »Sinn und Geschmack für das Unendliche«, wie Friedrich Schleiermacher dies nannte, nicht abhandengekommen, er wurde durch den Niedergang der institutionellen Religionen sogar befördert. Denn die Wissenschaft, die zunehmend an die Stelle der Religion tritt, hat die Welt nicht bloß »entzaubert«, wie Max Weber meinte, sie hat ihr zugleich einen neuen Zauber verliehen. Warum? Weil die Wissenschaft uns den Blick auf die unendlichen Dimensionen eines Universums eröffnet hat, das sehr viel geheimnisvoller ist, als es sich sämtliche Religionsstifter haben vorstellen können.
Nehmen wir zum Beispiel den Staffellauf des Lebens, den die moderne Evolutionsbiologie aufgedeckt hat: Stellen wir uns vor, wie viele Organismen das kostbare Gut des Lebens transportiert haben von den Einzellern der Urzeit zu den ersten Fischen, Amphibien, Reptilien, Säugetieren, Primaten, Menschenaffen, bis es dann bei uns beiden ankam, die wir jetzt miteinander reden. Oder nehmen wir ein Beispiel aus der Physik: Die Atome, aus denen jeder von uns besteht, haben schon vor 13,8 Milliarden Jahren alle erdenklichen Formen von Materie hervorgebracht und werden nach unserem Tod wiederum alle erdenklichen Formen von Materie hervorbringen. Ich meine: In der wissenschaftlichen Sichtweise liegt eine Poesie, die alle Dimensionen sprengt. Sie beflügelt den Sinn und Geschmack für das Unendliche weit mehr als das, was uns die Religionen vorgegeben haben. Dies ist der reale Zauber des Kosmos.
e: Sie sagen also, dass alles, was wir brauchen, Wissenschaftlichkeit ist?
MSS: Wissenschaft allein ist selbstverständlich nicht ausreichend! Schließlich kann uns die empirische Forschung allenfalls sagen, was ist, sie kann uns nicht sagen, was sein soll. Dies ist das Aufgabengebiet der Philosophie. Es geht ja nicht nur darum, Wissen zu schaffen, sondern auch vernünftig mit diesem Wissen umzugehen. Dazu müssen wir die verschiedenen Mosaiksteine der Erkenntnis, die wir durch den wissenschaftlichen Forschungsprozess erhalten, in ein stimmiges Bild bringen, sodass sie mit unseren Bedürfnissen auf diesem kleinen blauen Planeten am Rande der Milchstraße übereinstimmen. Das ist keine wissenschaftliche, sondern eine philosophische Aufgabe, der wir uns stellen müssen.
Vor diesem Hintergrund sollten wir uns auch überlegen, ob wir Rationalität und Mystik oder Wissenschaftlichkeit und Spiritualität wirklich als Gegensatzpaare verstehen sollten, wie es so häufig getan wird. Meines Erachtens beruht diese Gegenüberstellung auf falschen Denkannahmen. Man meint, die wissenschaftliche Methode bestehe darin, Unterscheidungen vorzunehmen, während der Mystiker danach strebe, die geheimnisvolle Einheit hinter diesen Unterscheidungen zu erfahren. Doch dies ist historisch längst überholt! Tatsächlich hat gerade die Wissenschaft dazu beigetragen, die klassischen Unterscheidungen aufzuheben und den unauflösbaren Zusammenhang der Dinge sichtbar zu machen. Schauen Sie sich die alten Dualismen an, die unser Weltbild über so viele Jahrhunderte geprägt haben: Subjekt – Objekt, Körper – Geist, Natur – Kultur, Mensch – Tier, Mann – Frau. All diese Unterschiede sind im Zuge des wissenschaftlichen Forschungsprozesses mehr und mehr aufgelöst worden. Die Wissenschaft erklärt uns heute die unauflösliche Verbindung des Teils mit dem Ganzen, die der Mystiker in der Verschmelzung mit dem Kosmos erfährt.
e: Wenn wir die mythischen Geschichten einmal beiseite stellen, scheint auch in unserem Leben in der globalen Gesellschaft die Frage nach dem Wahren, Guten und Schönen, die Frage der Vereinzelung oder der Erfahrung des Unendlichen für einen offenen gesellschaftlichen Diskurs sehr relevant zu sein. Wie könnte ein Diskurs aussehen, der über den rein wissenschaftlichen Diskurs hinaus geht?
MSS: Zur Beantwortung dieser Frage sollten wir uns die historische Entwicklung anschauen. Klar ist, dass die Menschenrechte nicht von den Religionen erkämpft wurden, sondern gegen die Religionen erkämpft werden mussten. Früher gab es nur eine kleine Gruppe von Menschen, die religionskritisch eingestellt war – Menschen wie Thomas Paine, der das erste bedeutende Buch über die Menschenrechte geschrieben hat. Von Außenseitern wie Paine gingen die wesentlichen Impulse für die Entwicklung der modernen Gesellschaft aus. Die Führer der großen Religionen hingegen haben fast ausnahmslos versucht, fortschrittliche Entwicklungen aufzuhalten. Sie haben ganz gewiss nicht für Meinungs- und Kunstfreiheit, für die Rechte der Sklaven, der Homosexuellen oder der Frauen gekämpft, all diese Rechte mussten ihnen abgetrotzt werden. Mit anderen Worten: Das »Heilige« war ein Bremsklotz, kein Motor des gesellschaftlichen Fortschritts.
Religiöse und politische Ideologien haben stets die Gruppenebene gestärkt, was zur feindlichen Abgrenzung gegenüber »den Anderen« geführt hat. Wollen wir diese Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit überwinden, müssen wir die Ebene der Gruppe abschwächen und die Ebene des Individuums sowie die Ebene der EINEN Menschheit stärken. Auf politische Slogans heruntergebrochen, hieße dies »Selbstbestimmung statt Gruppenzwang! « und »Weltbürger statt Reichsbürger!«.
e: Kann ein neues Verständnis von Rationalität, das auch mystische Erfahrungen ernstnimmt, für diese Stärkung des Individuums und der Menschenrechte einen Impuls geben, der bisher vernachlässigt wurde?
MSS: Ja, denn Spiritualität und Rationalität sind eng miteinander verbunden. Im Grunde werden sie von der gleichen intellektuellen Tugend getragen, nämlich von dem Willen zur Wahrhaftigkeit und der Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Wenn ich den Begriff der Spiritualität positiv definiere, dann heißt das doch, dass ich mich von Illusionen nicht mehr blenden lassen will. Ich will nicht einfach glauben, was man schon immer geglaubt hat, sondern die Barrieren überwinden, die den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Und genau dies zeichnet auch den wissenschaftlichen Erkenntnisdrang aus. Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit sind somit sowohl spirituelle Werte als auch wissenschaftliche Tugenden.
Mir ist dies erstmals Mitte der 1990er Jahre im Zuge einer extremen Flow-Erfahrung in vollem Umfang bewusst geworden. In diesem seltsamen Moment der Verschmelzung mit der Welt kam mir mein »Ich« völlig abhanden. Wäre ich damals ein religiöser Mensch gewesen, hätte ich das damit einhergehende Gefühl von Harmonie und Einklang mit dem Kosmos vielleicht als »Gotteserfahrung « oder »Satori-Erlebnis« gedeutet. Aber mir war klar, dass ich in diesem Moment einfach nur praktisch erlebt hatte, was ich zuvor in einem Aufsatz theoretisch beschrieben hatte, nämlich dass es so etwas wie ein »Ich« gar nicht gibt. Unser Ich ist bloß ein virtuelles Theaterstück, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unseren Köpfen inszeniert wird.
Die Führer der großen Religionen hingegen haben fast ausnahmslos versucht, fortschrittliche Entwicklungen aufzuhalten.
Durch die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Forschungen und rationalen philosophischen Argumenten war ich letztlich zu ganz ähnlichen Schlüssen gelangt wie Mystiker aus der Tradition des Zen-Buddhismus oder des Advaita-Hinduismus. Vergleichbare Überlegungen finden wir auch an den mystischen Rändern des Christentums, beispielsweise bei Meister Eckhart, oder im Islam bei den Sufis. Das Interessante daran ist, dass alle großen Mystiker Monisten waren, die die Welt als Einheit erlebten, keine Dualisten. Eben dies machte sie in den Augen der Glaubensdogmatiker so gefährlich. Denn auf dem Monismus lässt sich keine traditionelle Religion mehr aufbauen. Schließlich stärkt er nicht die »auserwählte« Gruppe der eigenen Religion, sondern das Individuum sowie die Idee der EINEN Menschheit.
e: Diesen Monismus gibt es eigentlich in allen traditionellen Religionen, oft als spirituelle Variante der Religion.
MSS: Ja, genau. Aber wir können das erst heute richtig einordnen. Denn die wissenschaftliche Forschung hat uns inzwischen an einen Punkt gebracht, an dem viele Mystiker schon vor Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden gestanden haben. Wie der Zen-Buddhismus hat auch die moderne Hirnforschung herausgefunden, dass es nicht so ist, dass »wir« denken, sondern dass es vielmehr »in uns« denkt. Es gibt kein Ego, das unabhängig vom Ganzen existieren würde, die Differenz von Subjekt und Objekt ist bloß eine hartnäckige Illusion. Aus diesem Grund wäre es eigentlich nur vernünftig, wenn wir uns von der Vorstellung des grandiosen Selbst befreien würden. Zu diesem Schluss kann ich als rationalistischer Philosoph ebenso kommen wie als Mystiker aus der Tradition des Buddhismus mit seiner Lehre des Anatta, des Nicht-Selbst. Und so klingt ein zentraler Gedanke meiner Philosophie durchaus buddhistisch: Du musst von deinem Selbst lassen, um ein gelassenes Selbst zu entwickeln!
Unser Ich ist bloß ein virtuelles Theaterstück, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unseren Köpfen inszeniert wird.
e: Lässt mystische Erfahrung von Nicht-Getrenntheit, die Sie ja auch hatten und auf die Sie sich in einer rationalen Weise beziehen, nicht auch gewisse Rückschlüsse auf wissenschaftliche Erkenntnisgrundlagen zu? Damit meine ich, dass die verdinglichte gegenständliche Welterfahrung, in der uns sozusagen Dinge nur als gegensätzliche Gegenstände entgegenkommen, hinterfragbar ist. Aus dieser Sicht wäre der spirituelle Impuls durchaus erkenntnistheoretisch relevant.
MSS: Wie gesagt: Ich bin überzeugt, dass die wissenschaftliche Einheitsdeutung der Welt sehr gut mit der mystischen Einheitserfahrung korrespondiert. Im Moment gibt es keinen vernünftigen Grund, das naturalistische Forschungsparadigma aufzugeben – auch nicht aus der Perspektive von Menschen, die sich selbst als »spirituell« begreifen. Schließlich hat ja genau diese Art der wissenschaftlichen Forschung zu Ergebnissen geführt, die im höchsten Maße mit den Ergebnissen der mystischen Traditionen übereinstimmen. Allerdings sollten echte Rationalisten wissen, dass es Grenzen der Rationalität gibt, weshalb wir Nischen schaffen sollten für all das, was wir rational nicht erfassen können.
e: Können auch die institutionellen Religionen dazu beitragen, solche Nischen zu schaffen, wenn man ihnen zugesteht, dass sie einen Evolutionsprozess durchlaufen und nicht an ihrem mythologischen Erbe hängenbleiben?
MSS: Zweifellos gibt es einen solchen Evolutionsprozess in den Religionen. So vertreten viele westliche Theologen heute eindeutig naturalistische Positionen. Anders als ihre Vorgänger glauben sie nicht mehr an Götter, Engel oder Dämonen, die in die Naturgesetze eingreifen. Das Problem einer solchen humanistisch aufgeklärten Religion ist aber, dass sie den Menschen nur noch wenig Interessantes vermitteln kann. Denn was bleibt von den religiösen Heilserzählungen, wenn man sie kritisch reflektiert? Eigentlich nichts, was einen noch wirklich vom Hocker reißen könnte! Jesu Erlösungstat zum Beispiel ist ohne Voraussetzung von Hölle und Teufel so spannend wie ein Elfmeterschießen ohne gegnerische Mannschaft.
Wenn Religion zu einem reinen Sprachspiel verkommt, verliert sie dramatisch an Relevanz. Deshalb wird die aufgeklärte Religion wohl nur eine Durchgangsstation in der Geschichte sein. Ich sehe in ihr eine absterbende Kulturerscheinung – vergleichbar mit Männergesangsvereinen, die »Am Brunnen vor dem Tore« singen. Was heißt das für die Zukunft der Religion? Ich wage folgende Prognose: Der »religiöse Impuls«, also der Sinn und Geschmack für das Unendliche, wird durch den wissenschaftlichen Forschungsprozess, durch rationale Philosophie und durch Kunst immer wieder genährt werden, aber die Menschen werden die klassischen Offenbarungsreligionen immer weniger benötigen, um ihren Platz in der Welt zu finden. Natürlich könnten große Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen verhindern, dass die Menschheit erwachsen wird und sich illusionslos der Wirklichkeit stellt. Aber: Wenn der Prozess der Zivilisation weiter voranschreitet, werden künftige Generationen ähnlich verstört auf die Offenbarungsreligionen unserer Zeit zurückblicken wie wir Heutigen auf die Menschenopferkulte der Vergangenheit.
Das Gespräch führte Thomas Steininger.