Wissen und Nicht-Wissen

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Essay
Published On:

January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Ein Projekt in der philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin

Bibliotheken waren immer Orte, an denen das Wissen einer Kultur aufbewahrt wurde. Heute bekommen sie durch das Internet große Konkurrenz, sie sind zwar nach wie vor eine Säule der intellektuellen Tradition, müssen sich aber auch neu erfinden. Ein Beispiel für solch eine Neuorientierung ist die philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin. Schon architektonisch setzt sie Akzente: Das als »The Berlin Brain« bekannte Gebäude wurde von dem Stararchitekten Lord Norman Foster entworfen. Seit einigen Wochen und noch bis zum 9. Februar hat man sich in diesen atemberaubenden Räumen auf ein Wagnis eingelassen: den Ort des Wissens mit dem Nicht-Wissen zu konfrontieren, den Ort der Bücher mit der Schrift mit unlesbaren Zeichen.

Der Künstler Axel Malik arbeitet seit mehr als 25 Jahren an seiner »skripturalen Methode«, das sind filigrane, spontan entstehende Zeichen, die wie Schriftzeichen aussehen, aber keine Bedeutung im Sinne einer Schrift haben. Seine Zeichen entstehen aus der Dynamik der Bewegung des Schreibens und finden in jeder seiner Arbeiten eine kohärente Form, die sich aber immer wieder verändert. Vor allem die Erfahrung, dass der Möglichkeitsraum dieser Zeichen unbegrenzt zu sein scheint, ist für Malik faszinierend. Für ihn ist diese Form des Schreibens eine Art des Forschens und Experimentierens mit dem Grundimpuls der Kreativität, die immer aus einem Raum des Ungewussten, der Leere kommt. Malik sieht in dieser Spannung zwischen dem Nichts und dem, was daraus entstehen kann, eine unerschöpfliche Inspirationsquelle.

Während seiner Installation »Die Bibliothek der unlesbaren Zeichen« finden sich nun Werke von Malik an verschiedenen Orten der Bibliothek und konfrontieren die Besucher mit dem Gegenteil dessen, was sie dort suchen: Wissen. Selbst das Leitsystem der Bibliothek hat Malik »in Beschlag genommen«, dort, wo früher Hinweis-Schilder auf die einzelnen Fachgebiete der Bibliothek zu finden waren, stehen jetzt unlesbare Zeichen. Für Malik ist dies eine Provokation aber auch ein Dialogangebot der Kunst an die Wissenschaft: Wie kann sich der Impuls zur Erweiterung des Wissens mit der Offenheit der Kunst fruchtbar verbinden?

Die Bibliothek hat diese Einladung angenommen und so wird die Installation von einer für alle offenen Vorlesungsreihe unter dem Titel »Schreiben als Ereignis« begleitet, bei der renommierte Wissenschaftler zu verschiedenen Aspekten von Schrift und Schrifttheorie sprechen und teilweise mit Dialog oder Fragen auf Maliks Arbeiten eingehen.

¬ WIE KANN SICH DER IMPULS ZUR ERWEITERUNG DES WISSENS MIT DER OFFENHEIT DER KUNST FRUCHTBAR VERBINDEN? ¬

Der Künstler sagt selbst über seine Zeichen: »Das chaotische Ordnungsgefüge, der Text, den diese Schrift schreibt, ist nicht im Gewussten, sondern im Ungewussten unterwegs.« Damit gibt er sozusagen einen Kontrapunkt zur Wissenschaft und dem Rationalismus, auf dem sie gründet. Seine Kunst kommt auch aus der Frage, wie sich unser heutiges Bewusstsein, das sich auf lineares, objektivierendes Wissen von der Welt gründet, verändern kann, um zu neuen Quellen der Kreativität und Lebendigkeit zu finden. Die Installation in »The Berlin Brain« gibt dafür ein spürbares Beispiel. Wenn man durch die weit geschwungenen, gewölbten Räume geht, die fast eine sakrale Atmosphäre haben, und neben den unzähligen Büchern und den Studierenden an den vielen Arbeitsplätzen immer wieder aufblitzend die unlesbaren Zeichen sieht, entsteht der Eindruck einer schöpferischen Ganzheit. Dafür, dass Wissen und Nicht-Wissen eine kreative Einheit bilden können, gibt »Die Bibliothek der unlesbaren Zeichen« einen eindrucksvollen Erfahrungsraum.

Author:
Mike Kauschke
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