Frühling inmitten des Winters

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Essay
Publiziert am:

January 27, 2025

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Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
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Auf dem Weg zu einer Kultur der Verbundenheit

Wir leben in einer kritischen Zeit, die nach Wandel ruft. In den Weisheitstraditionen würden Praxiswege entworfen und beschritten, die zu einer inneren Transformation führen sollen, aus der sich auch das Handeln in der Welt wandelt. Solche integrierten Praxisformen sind heute dringender denn je, gleichzeitig sind wir aufgerufen, diese Praktiken tiefer zu verstehen und auf neu lebendig werden zu lassen.

 

In einer Vase auf dem Küchentisch steht ein langer, dünner, dunkler Zweig. Daran brechen in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr drei kleine weiße Blüten auf. Frühling inmitten des Winters. Der kleine Kirschbaumzweig war ein Geschenk von einem lieben Freund, einem Mönch aus einem österreichischen Kloster. Er erzählte, dass es in den Alpenländern Tradition sei, Anfang Dezember kleine Kirschbaumzweige abzuschneiden und sie in Wasser zu stellen, damit sie während der Feiertage erblühen.

Er sagte uns auch, es sei ein Symbol der Hoffnung. Selbst im trostlosesten Winter zeigt sich der Funke des neuen Lebens: Er benötigt lediglich die richtigen Umstände, um zu erblühen.

Gerade jetzt, inmitten eines Winters, der auch zivilisatorischer Art zu sein scheint, wird ein solches Erblühen benötigt. Denn nicht nur das Wetter, sondern auch unsere Gesellschaften versinken zunehmend im Chaos. Was können Menschen, die eine Sehnsucht nach der Tiefe des Bewusstseins und dem Potenzial des menschlichen Geistes haben, tun, um in heute neues Leben zu ermöglichen? Wie können wir zu Vorboten des Frühlings werden?

Es gibt etwas, das wir in einzigartiger Weise beitragen können: die Wirkkraft der Praxis. Die Hinwendung zur spirituellen Praxis birgt zwar auch die Gefahr, sich den nackten Realitäten unserer individuellen und kollektiven Situation im Sinne eines spirituellen »Bypassing« zu entziehen. Aber Praxisformen, die uns ein neues Sein in der Welt ermöglichen, verändern auch unsere Kultur. Wenn wir uns in einer ernsthaften Absicht in eine solche Praxis begeben, können wir dazu beitragen, die Saat für den Frühling legen.

Rekonfiguration

Der verstorbene amerikanische Philosoph Hubert Dreyfus weist auf Zeiten in der Geschichte hin, in denen sich das Menschsein grundlegend umgeformt hat. Die alten Wege ergaben in der neuen Welt keinen Sinn mehr, und die neue Welt wurde für die alte unverständlich. Unser gemeinsames Menschsein veränderte sich dramatisch.

Dreyfus bezeichnet dies als Rekonfiguration. Sie beginnt mit der Erkenntnis, dass es Hintergrundpraktiken gibt, die uns zu dem machen, was wir sind, und die eine gemeinsame Wahrnehmung für das schaffen, was wirklich ist. Dreyfus hat beobachtet, dass Hintergrundpraktiken als Lebensweisen verkörpert sind, dass sie unserer Fähigkeit zur Reflexion vorausgehen und dass sie nahtlos in unsere sozialen Systeme und kulturellen Normen integriert sind. Sie sind kollektive Phänomene, eingebettet in das gemeinsame kulturelle Gefüge und »welterschließend« in dem Sinne, dass diese Praktiken zum Ausdruck bringen, was für die Menschen, die sie teilen, bedeutsam ist. Hintergrundpraktiken ermöglichen bestimmte Arten des Seins und der Wahrnehmung, während sie andere Arten des Seins, des Wissens und des Handelns unmöglich oder sogar unvorstellbar machen. In diesem Sinne sind diese Hintergrundpraktiken für uns unsichtbar; wir nehmen aber durch sie die Welt wahr. Sie sind tatsächlich der allgegenwärtige Hintergrund von allem – wie die Luft, die wir atmen.

Für Dreyfus ist die von Jesus inspirierte Bewegung ein eindrückliches Beispiel für eine solche Rekonfiguration. Die Hintergrundpraktiken der Römer und Juden waren so beschaffen, dass die grundlegenden Lebenspraktiken der frühen Christen keinen Sinn ergaben. Die römische Kultur basierte auf der bürgerlichen Anerkennung von Status und Macht. Die Römer schätzten Ehre, Ruhm und hierarchische Dominanz. Die jüdische Kultur basierte auf dem Gehorsam gegenüber religiösen Gesetzen, die ebenfalls Hierarchie und Tradition betonten. Und die Christen? Anstatt nach Status zu streben oder der Tradition zu folgen, konzentrierten sich die frühen Christen auf die Innerlichkeit und die Beziehung des Einzelnen zu Gott. Sie kultivierten Demut, Selbstaufopferung und einen persönlichen Sinn für Glauben und Gnade. Der Wert des Menschen beruhte auf seinen Absichten und seinem Glauben, nicht auf öffentlicher Anerkennung. Dieser Wandel eröffnete die Möglichkeit universeller Gleichheit, denn das Heil stand jetzt allen offen. Außerdem unterstützten christliche Praktiken wie Nächstenliebe, Bescheidenheit, Gebet und Sündenbekenntnis die innere Entwicklung des einzelnen Menschen. Ohne die Fähigkeiten der Selbstreflexion und Selbstbeherrschung, die diese Praktiken kultivierten, wären wir nicht die Individuen geworden, die wir sind.

In der gegenwärtigen Phase des menschlichen Experiments hat die Trennung zwischen Innen und Außen zu unvorhergesehenen Folgen geführt. In Anlehnung an die Überlegungen Martin Heideggers stellt Dreyfus fest, dass die westliche Kultur heute von Hintergrundpraktiken geprägt ist, die zu einem technologischen Verständnis des Seins führen, in dem jeder Mensch ein isoliertes Subjekt in einer Welt von Ressourcen ist, die organisiert oder kontrolliert werden müssen. Eingebettet in ein wettbewerbsorientiertes Marktsystem wird unser Umgang mit dem Leben von instrumentellem Denken und Kalkül bestimmt. In der Tendenz zur »Selbstoptimierung« ist diese Beziehung von Steuerung und Kontrolle nun auch im Selbst verankert. In diesem Rahmen versucht der Verstand, den Körper und das Gehirn so zu »hacken«, dass sie optimal funktionieren. Das Ergebnis ist eine oberflächliche Existenz, die unsere Identität auf Kategorien wie Ethnie oder Geschlecht reduziert und dem Messbaren und Greifbaren den Vorrang einräumt, während sie Beziehung und Erfahrung als flüchtige Nebenphänomene abtut. Entfremdet von der Tiefe unserer gelebten Erfahrung, der Verbindung zu anderen und der Einbettung in die lebendige Welt, treiben wir haltlos in einem kalten Kosmos – ohne tiefere Beziehung zu dem Wesen, das wir teilen.            

Die Erkenntnis, dass das Kernproblem der Moderne auf unserem Erleben von Getrenntheit beruht, ist nicht neu. Die Antwort auf diesen Zustand mag zwar einfach erscheinen – Verbundenheit –, aber das »Wie« ist es nicht. Wie können wir Praktiken leben und Formen des In-der-Welt-Seins kultivieren, welche die Getrenntheit, die wir immer wieder neu inszenieren, nicht wiederholen? Welche Praktiken können der unsichtbare Hintergrund für eine Kultur tiefer, pulsierender, lebendiger All-Verwobenheit werden?

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Auf dem Weg zu einer Kultur der Verbundenheit

Wir leben in einer kritischen Zeit, die nach Wandel ruft. In den Weisheitstraditionen wurden Praxiswege entworfen und beschritten, die zu einer inneren Transformation führen sollen, aus der sich auch das Handeln in der Welt wandelt. Solche integrierten Praxisformen sind heute dringender denn je, gleichzeitig sind wir aufgerufen, diese Praktiken tiefer zu verstehen und neu lebendig werden zu lassen.

In einer Vase auf dem Küchentisch steht ein langer, dünner, dunkler Zweig. Daran brechen in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr drei kleine weiße Blüten auf. Frühling inmitten des Winters. Der kleine Kirschbaumzweig war ein Geschenk von einem lieben Freund, einem Mönch aus einem österreichischen Kloster. Er erzählte, dass es in den Alpenländern Tradition sei, Anfang Dezember kleine Kirschbaumzweige abzuschneiden und sie in Wasser zu stellen, damit sie während der Feiertage erblühen.

Er sagte uns auch, es sei ein Symbol der Hoffnung. Selbst im trostlosesten Winter zeigt sich der Funke des neuen Lebens: Er benötigt lediglich die richtigen Umstände, um zu erblühen.

Gerade jetzt, inmitten eines Winters, der auch zivilisatorischer Art zu sein scheint, wird ein solches Erblühen benötigt. Denn nicht nur das Wetter, sondern auch unsere Gesellschaften versinken zunehmend im Chaos. Was können Menschen, die eine Sehnsucht nach der Tiefe des Bewusstseins und dem Potenzial des menschlichen Geistes haben, tun, um heute ein neues Leben zu ermöglichen? Wie können wir zu Vorboten des Frühlings werden?

Es gibt etwas, das wir in einzigartiger Weise beitragen können: die Wirkkraft der Praxis. Die Hinwendung zur spirituellen Praxis birgt zwar auch die Gefahr, sich den nackten Realitäten unserer individuellen und kollektiven Situation im Sinne eines spirituellen »Bypassing« zu entziehen. Aber Praxisformen, die uns ein neues Sein in der Welt ermöglichen, verändern auch unsere Kultur. Wenn wir uns in einer ernsthaften Absicht in eine solche Praxis begeben, können wir dazu beitragen, die Saat für den Frühling zu legen.

Rekonfiguration

Der verstorbene amerikanische Philosoph Hubert Dreyfus weist auf Zeiten in der Geschichte hin, in denen sich das Menschsein grundlegend umgeformt hat. Die alten Wege ergaben in der neuen Welt keinen Sinn mehr, und die neue Welt wurde für die alte unverständlich. Unser gemeinsames Menschsein veränderte sich dramatisch.

Dreyfus bezeichnet dies als Rekonfiguration. Sie beginnt mit der Erkenntnis, dass es Hintergrundpraktiken gibt, die uns zu dem machen, was wir sind, und die eine gemeinsame Wahrnehmung für das schaffen, was wirklich ist. Dreyfus hat beobachtet, dass Hintergrundpraktiken als Lebensweisen verkörpert sind, dass sie unserer Fähigkeit zur Reflexion vorausgehen und dass sie nahtlos in unsere sozialen Systeme und kulturellen Normen integriert sind. Sie sind kollektive Phänomene, eingebettet in das gemeinsame kulturelle Gefüge und »welterschließend« in dem Sinne, dass diese Praktiken zum Ausdruck bringen, was für die Menschen, die sie teilen, bedeutsam ist. Hintergrundpraktiken ermöglichen bestimmte Arten des Seins und der Wahrnehmung, während sie andere Arten des Seins, des Wissens und des Handelns unmöglich oder sogar unvorstellbar machen. In diesem Sinne sind diese Hintergrundpraktiken für uns unsichtbar; wir nehmen aber durch sie die Welt wahr. Sie sind tatsächlich der allgegenwärtige Hintergrund von allem – wie die Luft, die wir atmen.

»Praxisformen, die uns ein neues Sein in der Welt ermöglichen, verändern unsere Kultur.«

Für Dreyfus ist die von Jesus inspirierte Bewegung ein eindrückliches Beispiel für eine solche Rekonfiguration. Die Hintergrundpraktiken der Römer und Juden waren so beschaffen, dass die grundlegenden Lebenspraktiken der frühen Christen keinen Sinn ergaben. Die römische Kultur basierte auf der bürgerlichen Anerkennung von Status und Macht. Die Römer schätzten Ehre, Ruhm und hierarchische Dominanz. Die jüdische Kultur basierte auf dem Gehorsam gegenüber religiösen Gesetzen, die ebenfalls Hierarchie und Tradition betonten. Und die Christen? Anstatt nach Status zu streben oder der Tradition zu folgen, konzentrierten sich die frühen Christen auf die Innerlichkeit und die Beziehung des Einzelnen zu Gott. Sie kultivierten Demut, Selbstaufopferung und einen persönlichen Sinn für Glauben und Gnade. Der Wert des Menschen beruhte auf seinen Absichten und seinem Glauben, nicht auf öffentlicher Anerkennung. Dieser Wandel eröffnete die Möglichkeit universeller Gleichheit, denn das Heil stand jetzt allen offen. Außerdem unterstützten christliche Praktiken wie Nächstenliebe, Bescheidenheit, Gebet und Sündenbekenntnis die innere Entwicklung des einzelnen Menschen. Ohne die Fähigkeiten der Selbstreflexion und Selbstbeherrschung, die diese Praktiken kultivierten, wären wir nicht die Individuen geworden, die wir sind.

In der gegenwärtigen Phase des menschlichen Experiments hat die Trennung zwischen Innen und Außen zu unvorhergesehenen Folgen geführt. In Anlehnung an die Überlegungen Martin Heideggers stellt Dreyfus fest, dass die westliche Kultur heute von Hintergrundpraktiken geprägt ist, die zu einem technologischen Verständnis des Seins führen, in dem jeder Mensch ein isoliertes Subjekt in einer Welt von Ressourcen ist, die organisiert oder kontrolliert werden müssen. In der Tendenz zur »Selbstoptimierung« ist diese Beziehung von Steuerung und Kontrolle nun auch im Selbst verankert. In diesem Rahmen versucht der Verstand, den Körper und das Gehirn so zu »hacken«, dass sie optimal funktionieren. Das Ergebnis ist eine oberflächliche Existenz, die unsere Identität auf Kategorien wie Ethnie oder Geschlecht reduziert und dem Messbaren und Greifbaren den Vorrang einräumt, während sie Beziehung und Erfahrung als flüchtige Nebenphänomene abtut. Entfremdet von der Tiefe unserer gelebten Erfahrung, der Verbindung zu anderen und der Einbettung in die lebendige Welt, treiben wir haltlos in einem kalten Kosmos – ohne tiefere Beziehung zu dem Sein, das wir teilen.

Die Erkenntnis, dass das Kernproblem der Moderne auf unserem Erleben von Getrenntheit beruht, ist nicht neu. Die Antwort auf diesen Zustand mag zwar einfach erscheinen – Verbundenheit –, aber das »Wie« ist es nicht. Wie können wir Praktiken leben und Formen des In-der-Welt-Seins kultivieren, welche die Getrenntheit, die wir immer wieder neu inszenieren, nicht wiederholen? Welche Praktiken können der unsichtbare Hintergrund für eine Kultur tiefer, pulsierender, lebendiger All-Verwobenheit werden?

Karen Müller, DIE ERDGÖTTIN GAIA DEM SCHAUM ENTSTIEGEN, 2008, Porzellanikon, Staatliches Museum für Porzellan in Hohenberg a. d. Eger, Foto: Alexander Feig

Eine Ökologie der Transformation

Zwei zeitgenössische Pioniere bieten Wege an, um unsere Verbundenheit mit dem Leben zu vertiefen: die Tiefenökologin (und praktizierende Buddhistin) Joanna Macy und der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke. Macys »The Work that Reconnects« (Die Arbeit der Wiederverbindung) reagiert auf die Trennung von der Natur, die zur Zerstörung der Biosphäre führt. Sie hat Praktiken entwickelt, die den Menschen wieder in das Netz des Lebens einbinden können. Vervaeke wurde durch seine Erkenntnis einer entseelten Sinnkrise motiviert, die aus der spirituellen Verarmung des modernen Lebens erwächst.

Vervaeke beschreibt eine Ökologie von Praktiken, die aus vier Bereichen besteht: Achtsamkeitspraktiken, dialektische und dialogische Praktiken, Verkörperungspraktiken und imaginale Praktiken. Achtsamkeit umfasst die Praxis der Meditation, um ein Gewahrsein des Bewusstseins sowie eine Verbindung zu inneren Tiefendimensionen zu entwickeln; die Meditation trägt dabei zur Kultivierung von Klarheit und Präsenz bei. Dialogische Praktiken wie »Dialogos« fördern das gegenseitige Verständnis und die gemeinsame Sinnfindung. Verkörperte Praktiken wie Qigong oder Somatic Inquiry (ein somatischer Erforschungsprozess) verankern die Selbstwahrnehmung im physischen Körper. Imaginale Praktiken, wie Kunst, Rituale, Traumarbeit oder Mythen, eröffnen neue Dimensionen des Selbst und der Sinnhaftigkeit.

Sowohl Macy als auch Vervaeke konzentrieren sich auf alte und neue Praktiken, die unser Menschsein und unser Zusammensein miteinander und mit der mehr-als-menschlichen Welt verändern. Sie ermöglichen es uns, dem Leben und dem Verbundensein auf tiefere und sinnvollere Weise Bedeutung zu verleihen. Diese Ökologien laden uns ein, an der Schaffung von imaginalen Wirklichkeiten, gemeinsamer Spürfähigkeit und Sinnfindung mitzuwirken, die uns in eine tiefere Verbindung mit uns selbst, miteinander und mit dem Prozess des Lebens bringt.

Mehr als nur Resilienz

Wie kann eine Ökologie von Praktiken eine Kultur der Verbundenheit hervorbringen? Wenn wir versuchen, Verbundenheit aus der Perspektive der Trennung zu kultivieren, bestätigen wir unbewusst die Trennung als die letztendliche Wahrheit. Doch Ganzheit können wir weder erschaffen noch erwerben; sie ist der Grund unseres Seins, eine allgegenwärtige Wirklichkeit des Verbundenseins. Sie ruft uns dazu auf, dass wir uns an sie erinnern, nicht nur durch individuelle Heilung, sondern als gemeinsamer Ausdruck unserer Teilhabe am Leben.

»Um der Gefahr der Selbsttäuschung zu entgehen, brauchen wir Gefährten in der Praxis.«

In einer fragmentierten und unsicheren Welt bieten spirituelle Praktiken seit Langem Mittel für die Kultivierung von Resilienz – sie helfen uns, Herausforderungen zu bewältigen und dem Leben zu vertrauen. Doch Resilienz im Kontext der Transindividuation ist kein Mittel zur Stärkung des Selbst, sondern eine Bewegung hin zur Verwirklichung unseres gemeinsamen Ursprungs. Transindividuation stärkt unsere Individualität und bettet uns gleichzeitig in das allgegenwärtige Feld der Verbundenheit ein. Aus dieser Perspektive sind wir keine getrennten Individuen, die in Isolation überleben; wir sind Ausdruck eines lebendigen, schöpferischen Ganzen. Die Liebe, das Vertrauen und die existenzielle Tiefe, die daraus entstehen, sind keine persönlichen Errungenschaften, sondern Ausdrucksformen unserer innewohnenden Verbindung mit der sich entfaltenden Intelligenz des Lebens.

Meditation, Gebet und andere kontemplative Praktiken entstanden im Rahmen der menschlichen Individuation und förderten ein tiefes Innenleben. Sie trugen dazu bei, das Gefühl eines von der Welt unterschiedenen Selbst zu schaffen, eine notwendige Entwicklung in der Evolution der Menschheit. Doch diese Individuation ist nicht der Endpunkt – sie ist eine Phase innerhalb eines umfassenderen Prozesses.

Was wäre, wenn wir mit diesem Verständnis beginnen würden? Dass wir keine isolierten Wesen sind, die danach streben, sich zu verbinden, sondern bereits Mitwirkende in einem emergierenden Feld gemeinsamer Gegenwärtigkeit und Lebendigkeit? Transindividuation bietet eine Möglichkeit, dieses Paradoxon zu begreifen: Wir sind alle einzigartig und autonom, aber gleichzeitig Teil eines lebendigen Ganzen. Aus diesem Bewusstsein heraus zu leben bedeutet, nicht nur ein moralisches, entscheidungsfähiges Individuum zu sein, sondern auch ein Akteur des Ganzen, der mit einer größeren Intelligenz zusammenarbeitet – genau das ist Transindividuation..

Landeplätze für das Heilige

Hubert Dreyfus stellt fest, dass sich der Wandel der Kultur durch die Entstehung von Hintergrundpraktiken vollzieht, die eine neue Art des menschlichen Miteinanders zum Ausdruck bringen. Hintergrundpraktiken, so seine Beobachtung, entstehen oft in den Rissen bestehender Kulturen. Die frühen Christen lebten innerhalb der physischen Grenzen des Römischen Reiches, verkörperten aber eine grundlegend andere Art des Seins, die zur Entwicklung des Menschen zum Individuum führte. Diese doppelte Existenz – »inmitten« einer vorherrschenden Kultur zu agieren und gleichzeitig transformative Praktiken zu fördern – verdeutlicht, dass sich kulturelle Paradigmen nicht durch abstrakte Argumente, sondern durch gelebte Praktiken verändern, die auf eine Sehnsucht antworten, welche die bestehende Kultur nicht erfüllen kann.

»Wenn wir versuchen, Verbundenheit aus der Perspektive der Trennung zu kultivieren, bestätigen wir unbewusst die Trennung.«

Neue Hintergrundpraktiken entstehen aus einer Wirkkraft im menschlichen Bewusstsein hin zu Integrität und Ganzheit. Diese Qualitäten kann man aber nicht willentlich schaffen, weshalb der heute so oft gehörte Ruf nach einer stärkeren Verbundenheit mit der Natur oder der Menschen untereinander letztendlich zu kurz greift und im Bereich der mentalen Konzepte verbleibt. Die Erforschung von Verbundenheit, dem Interbeing, und das Potenzial der Transindividuation, von denen hier die Rede ist, sind emergenter Natur und entspringen einem Impuls aus der Ganzheit.

Dafür brauchen wir einander. Können wir einen Kreis bilden, in dem wir uns gemeinsam auf diesen Weg einlassen? Um der Gefahr der Selbsttäuschung zu entgehen, brauchen wir Gefährten in der Praxis. In einer Gemeinschaft aufrichtig Praktizierender können wir uns den Begrenzungen unserer Muster der Trennung und Spaltung stellen, damit die Ganzheit der Wirklichkeit uns leiten kann. Die Verbindlichkeit in einer Gemeinschaft der Praktizierenden ist für eine Ökologie von Praktiken unerlässlich, um den Boden für ein neues Menschsein und Miteinandersein zu schaffen.

Vielleicht besteht unsere Aufgabe inmitten des Schreckens und der Verwirrung einer kollabierenden Zivilisation darin, Räume zu schaffen, die uns diese Möglichkeit eröffnen können. Räume, in denen wir bewusst Praktiken pflegen, die die Tiefe und Weisheit im Herzen des heiligen Mysteriums des Lebens offenbaren. Ein solcher Ort könnte Ihr Wohnzimmer, eine Kirche, ein Wäldchen, eine Zeremonie oder sogar eine Videokonferenz oder ein virtuelles Forum sein. Es kann jeder Ort sein, an dem Menschen in ihrer Ganzheit – als Transindividuen – zusammenkommen und den Wunsch verspüren, sich in einer tiefen Verbundenheit mit der schöpferischen Kraft des Lebens zu entfalten.

Wenn wir diese Räume auf der ganzen Erde miteinander verbinden, könnte dies zu einer neuen kulturellen Entfaltung führen, die aus dem Sterben des Alten hervorgeht. Ein Netzwerk von Netzwerken, ein Gewebe von Geweben von Menschen, die die Möglichkeit der Transindividuation praktizieren, könnte die Grundlage einer neuen Kultur werden. Mögen wir uns auch gerade mitten im Winter befinden: Jeder Knotenpunkt des Gewebes kann wie die Zweige eines Kirschbaums ein Vorbote des Frühlings sein.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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