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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

January 27, 2025

Mit:
Aleida und Jan Assmann
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AUSGABE:
Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
Diese Ausgabe erkunden

Über das Buch »Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn« von Aleida und Jan Assmann

Immer deutlicher wird, dass die ökologische Krise andere Antworten braucht als nur technische, so wichtig Maßnahmen wie etwa die CO2-Reduzierung auch sind. Vielmehr geht es darum, so Kocku von Stuckrad, Religionswissenschaftler an der Universität Groningen, das Verhältnis des Menschen zur Natur neu zu denken, weg von der distanzierten Beobachtung hin zur Teilhabe, weg von der Herrschaft über die Natur hin zum Bewusstsein, Teil von ihr zu sein, weg von der Beschäftigung mit einzelnen isolierten Objekten hin zur Wahrnehmung von Beziehungsgeflechten. Dabei zeichnet sich eine grundsätzliche Neuorientierung der Wissenschaft ab, die Stuckrad als »relational turn« oder »relationale Wende« bezeichnet.

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Über das Buch »Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn« von Aleida und Jan Assmann

Immer deutlicher wird, dass die ökologische Krise andere Antworten braucht als nur technische, so wichtig Maßnahmen wie etwa die CO2-Reduzierung auch sind. Vielmehr geht es darum, so Kocku von Stuckrad, Religionswissenschaftler an der Universität Groningen, das Verhältnis des Menschen zur Natur neu zu denken, weg von der distanzierten Beobachtung hin zur Teilhabe, weg von der Herrschaft über die Natur hin zum Bewusstsein, Teil von ihr zu sein, weg von der Beschäftigung mit einzelnen isolierten Objekten hin zur Wahrnehmung von Beziehungsgeflechten. Dabei zeichnet sich eine grundsätzliche Neuorientierung der Wissenschaft ab, die Stuckrad als »relational turn« oder »relationale Wende« bezeichnet.

Es gibt deutsche Wörter, die in der Vergangenheit besetzt und beschmutzt wurden. Einige sind für immer verloren, andere können zurückgewonnen werden. Das Wort Gemeinsinn wurde von den Nationalsozialisten missbraucht, indem sie es in ihre Ideologie der Volksgemeinschaft einbauten. Einem ideologisch lange vorbereiteten Freund-Feind-Denken folgend, wurde Gemeinsinn zu einer Suggestion, die die eigene Bevölkerung wohlwollend und warmherzig in die Arme schließt und für alle anderen nur kalten Hass übrig hat. Doch erstens gab es den »sensus communis« schon lange vor den Nazis und zweitens brauchen wir ihn heute dringend. Er gehört zum gesunden Kern demokratischer Gesellschaften. Die Orientierung an ihm stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der unverzichtbar ist, um die hyperkomplexen Krisen der Gegenwart gemeinsam bewältigen zu können. Eine moralisch-politische Kernspaltung, der Zerfall von Kohärenz und sozialer Energie wäre der Super-GAU für die offenen westlichen Gesellschaften.

»Die Orientierung am Ganzen ist eine wichtige Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben.«

Wie weit Fragmentierung und Polarisierung gehen können, zeigt sich derzeit in den USA, wo »Rote« (Republikaner) und »Blaue« (Demokraten) kaum noch vernünftig miteinander reden können. Das lähmt nicht nur den gesellschaftlichen Diskurs. Es kann zum Herztod politischen Handelns führen, weil unversöhnliche Kontrahenten zu keinem Kompromiss mehr fähig sind.

Die sozialempirischen Analysen zum Ausmaß der Spaltungstendenzen auch in unserer Gesellschaft sind nicht eindeutig. Der Soziologe Andreas Reckwitz sieht die Moderne auf dem Weg in das Extrem der »Singularisierung«. Er sieht darin eine Steigerung des Individualismus: die trotzige Betonung von »Ich bin einzigartig, ich bin etwas Besonderes, ich verdiene besondere Anerkennung«. Das Gemeinsame gerate aus dem Blick. Sein Kollege Stefan Mau argumentiert dagegen, die bürgerliche Mitte der westlichen Gesellschaften sei von der Polarisierung kaum betroffen, die Rede von der sozialen Spaltung sei eher ein Medienphänomen.

Unbestritten ist aber, dass die sogenannten sozialen Medien wie programmierte Spaltpilze wirken, die gezielt Wut, Angst und Empörung schüren und durch die Anonymität, in der gestritten wird, die Abwertung bis hin zur Dämonisierung des anderen fördern. Asoziale Medien sind jedenfalls Brandbeschleuniger, die den Gemeinsinn in Flammen aufgehen lassen.

In diese brenzlige Lage hinein spricht das Buch des Professorenehepaars Aleida und Jan Assmann. Es ist das letzte gemeinsame Buch der beiden Kulturwissenschaftler; der Ehemann starb im Februar 2024. Es liest sich wie eine Initiative, den Begriff des Gemeinsinns aus seiner nationalchauvinistischen Befleckung zu befreien und positiv aufzuladen. Sie definieren ihn als den sechsten, den sozialen Sinn. Damit beziehen sie sich ausdrücklich auf ­Aristoteles, der neben den körperlichen Sinnen (Sehen, Schmecken, Tasten, Riechen und Hören), mit denen der Mensch seine Umgebung wahrnimmt, einen weiteren Sinn erkannte: Der Gemeinsinn fasse die äußeren Eindrücke zusammen und sei als inneres »­Organ« für die Urteilsfindung wichtig.

Die Autoren definieren Gemeinsinn als die Haltung und Fähigkeit, über die eigenen Bedürfnisse und Interessen hinaus das Wohl und Beste aller anzustreben. Wie wir aus der Sinnforschung wissen, ist diese Orientierung am Ganzen eine wichtige Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben. Zwischen individueller Haltung und gesellschaftlichen Strukturen bestehen vielfältige Wechselwirkungen. Menschen, die sich um des Gemeinwohls willen zusammenschließen, können Revolutionen auslösen. Umgekehrt kann Gemeinsinn unter toxischen Bedingungen erodieren, etwa wenn Freund-Feind-Denken die Beziehungsgrammatik einer ganzen Nation beherrscht; mit den Nazis ist diese Dichotomie nicht ausgestorben. Der amerikanische Präsident Donald Trump hat bereits im Wahlkampf wilde Drohungen ausgestoßen, dass er, sobald er im Amt sei, die »Feinde im Inneren« bekämpfen werde.

Der Populismus, der auch in europäischen Ländern Erfolge feiert, wirkt ebenfalls zersetzend auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn sein bevorzugtes Stilmittel ist das Ressentiment, das bewusste Auslösen von schmerzhaften Gefühlen des Abgehängt­seins, des Zurückbleibens. In der Folge entsteht der Eindruck eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen »denen da oben« und »uns hier unten«.

Gemeinsinn
Der sechste, soziale Sinn

von Aleida und Jan Assmann.
Erschienen im Verlag
C.H. Beck 2024
262 Seiten, 25,00 €

Die Autoren wagen sich an eine entscheidende Frage heran: Wäre eine Synthese denkbar, die Partikularismus (die Betonung von Besonderheit und Differenz, von eigener Herkunft und Geschichte) und Universalismus (überall geltende Menschenrechte und Menschenpflichten) glücklich miteinander verbindet? Für dieses Unterfangen ist es hilfreich, dass die beiden viel Wert darauf legen, Begriffe zu klären und ihre Ideengeschichte zurückzuverfolgen, wenn nötig bis in die Antike. Sie schlagen vor, zwischen zwei Begriffen zu unterscheiden. Sie definieren Kultur als die eigene Geschichte und Tradition und grenzen sie vom Begriff der Zivilisation ab, unter dem sie die Gesamtheit der heute global geteilten Werte verstehen. Einer ihrer Kernsätze lautet: »Innerhalb der Großgruppe der Menschheit gibt es Ähnlichkeiten ebenso wie Unterschiede, die ins Auge fallen. Pro­blematisch sind dabei nicht die Unterschiede, sondern die Beschreibungen und Festlegungen, die Menschen voneinander herstellen.«

Problem benannt, Konflikt aber nicht gebannt. Was sollen diejenigen tun, die sich auf universelle Werte berufen, wenn in einigen Regionen und religiösen Gruppen die weibliche Genitalverstümmelung als Tradition verteidigt wird? Müssen sie schweigen? Oder dürfen sie diese Praktiken als menschenverachtend anprangern und sich dabei auf gemeinsame Werte einer globalen Zivilisation berufen?

Die Autoren bleiben nicht bei der Analyse der Einflüsse stehen, die den Gemeinsinn untergraben. Sie nennen auch die Kräfte, auf deren positive Wirkung wir vertrauen können. Etwa die Tatsache, dass über alle religiösen und kulturellen Grenzen hinweg seit Jahrtausenden die »Goldene Regel« gilt. In ihrer einfachsten Form lautet sie: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Die Abgrenzung gegen das Böse, das man selbst nicht erleiden möchte, verbindet sich mit der Fürsorge für den anderen, dem man es ebenfalls ersparen möchte. Hoffnung machen auch die relativ neuen Erkenntnisse der Neurobiologie, wie tief die Fähigkeit zur Empathie in unseren Gen- und Hirnstrukturen verankert ist. Erfrischend – und dramaturgisch als Schlusskapitel gut platziert – sind die journalistischen Tiefenbohrungen bei Initiativen und Projekten, die den Gemeinsinn erfolgreich praktizieren. Zum Beispiel die sogenannten Tafeln, in denen sich 60.000 Helfer*innen organisieren, um tonnenweise Lebensmittel zu retten und an Bedürftige weiterzugeben; oder die 100.000 »Stolpersteine«, die der Künstler Gunter Demnig in ganz Europa ins Pflaster eingelassen hat – als Steine des Anstoßes, um an die Deportation und Vernichtung jüdischer Familien zu erinnern; oder ein Friedensfest in der Kleinstadt Ostritz an der deutsch-polnischen Grenze, das die dortige Rechtsrock-Szene auf sanfte Weise verdrängen konnte.

In einem Interview mit taz FUTURZWEI sagt Aleida Assmann: »Der Gemeinsinn beschränkt sich auf Nahverhältnisse und lokale Aktivitäten. Es geht immer um menschliche Begegnungen.« Dafür ist es wichtig, Orte und Formate zu schaffen, an denen Menschen in einen echten Dialog treten und sich mit allen Sinnen als Menschen wahrnehmen können – um den sechsten Sinn, den sozialen, entstehen zu lassen

Author:
Michael Gleich
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