Wiederstand und Vision

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Interview
Publiziert am:

January 27, 2025

Mit:
Ivo Mensch
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AUSGABE:
Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
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Eine Pilgerfahrt in die Ukraine

Ivo Mensch war Mitorganisator einer Pilgerreise in die Ukraine, die im September 2024 stattfand und sich mit den Auswirkungen des Krieges und der Bedeutung der Ukraine als Mikrokosmos globaler Veränderungen beschäftigt hat. Wir haben mit ihm über sein Engagement und seine persönlichen Erfahrungen gesprochen.

evolve: Was war der Anlass für eure Pilgerreise?

Ivo Mensch: Die Idee des Projekts Emerge war und ist es, sich in die Randbereiche der gesellschaftlichen Systeme zu begeben, um zu verstehen, wie sich kultureller Wandel konkret vollzieht. Nach der Revolution 2014 und dem Beginn der Konflikte in der Ost-Ukraine bauten wir ein Netzwerk auf und veranstalteten 2019 ein Emerge Gathering in Kiew, zu dem kulturelle Denker und Aktivisten aus der ganzen Welt zusammenkamen. Wir waren berührt von der Kraft des Aufbruchs, den wir bei den Ukrainern spürten. Als 2022 die Invasion voll angerollt war, begannen wir sofort, wöchentliche Ukraine-Calls zu organisieren, um mit den Menschen dort in Verbindung zu bleiben und sie zu unterstützen.

Diese erste Zeit war wirklich verrückt. Wir kannten viele Menschen, auch aus dem Emerge-Netzwerk, die in verschiedene Länder fliehen mussten. Schnell wurden Netzwerke aufgebaut, um Hilfe zu organisieren. Wir halfen dabei, Verbindungen zu knüpfen und die Beschaffung von medizinischen Gütern in die Wege zu leiten. Menschen, die sich kaum kannten, halfen und spendeten Geld. Alles funktionierte von Anfang an auf der Basis von Vertrauen, mit völlig Fremden, die einander halfen, mit Basisnetzwerken, die aus den zwischen 2014 und 2022 gegründeten Initiativen entstanden. Während dieser regelmäßigen Kontakte kam die Idee auf, dass wir erneut in die ­Ukraine reisen sollten.

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Eine Pilgerfahrt in die Ukraine

Ivo Mensch war Mitorganisator einer Pilgerreise in die Ukraine, die im September 2024 stattfand und sich mit den Auswirkungen des Krieges und der Bedeutung der Ukraine als Mikrokosmos globaler Veränderungen beschäftigt hat. Wir haben mit ihm über sein Engagement und seine persönlichen Erfahrungen gesprochen.

evolve: Was war der Anlass für eure Pilgerreise?

Ivo Mensch: Die Idee des Projekts Emerge war und ist es, sich in die Randbereiche der gesellschaftlichen Systeme zu begeben, um zu verstehen, wie sich kultureller Wandel konkret vollzieht. Nach der Revolution 2014 und dem Beginn der Konflikte in der Ost-Ukraine bauten wir ein Netzwerk auf und veranstalteten 2019 ein Emerge Gathering in Kiew, zu dem kulturelle Denker und Aktivisten aus der ganzen Welt zusammenkamen. Wir waren berührt von der Kraft des Aufbruchs, den wir bei den Ukrainern spürten. Als 2022 die Invasion voll angerollt war, begannen wir sofort, wöchentliche Ukraine-Calls zu organisieren, um mit den Menschen dort in Verbindung zu bleiben und sie zu unterstützen.

Diese erste Zeit war wirklich verrückt. Wir kannten viele Menschen, auch aus dem Emerge-Netzwerk, die in verschiedene Länder fliehen mussten. Schnell wurden Netzwerke aufgebaut, um Hilfe zu organisieren. Wir halfen dabei, Verbindungen zu knüpfen und die Beschaffung von medizinischen Gütern in die Wege zu leiten. Menschen, die sich kaum kannten, halfen und spendeten Geld. Alles funktionierte von Anfang an auf der Basis von Vertrauen, mit völlig Fremden, die einander halfen, mit Basisnetzwerken, die aus den zwischen 2014 und 2022 gegründeten Initiativen entstanden. Während dieser regelmäßigen Kontakte kam die Idee auf, dass wir erneut in die ­Ukraine reisen sollten.

e: Mit welcher Absicht seid ihr in die ­Ukraine gereist?

IM: Bei dieser Pilgerreise ging es uns nicht nur darum, der Ukraine zu helfen und zu erfahren, was dort vor sich geht. Valerii Pekar sagte, wir bräuchten ein ganzheitliches Verständnis dieses Krieges und seiner Bedeutung im größeren Entfaltungsbogen der Geschichte. Es war das ausdrückliche Ziel der Reise, aufzuzeigen, dass dieser Krieg eine Art Mikrokosmos der sich neu ordnenden Welt ist. Während sich bis vor wenigen Jahrzehnten Kommunismus und Kapitalismus gegenüberstanden, sehen wir jetzt, wie die Grenzen zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften gezogen werden.

e: Warum habt ihr diese Reise als Pilgerschaft bezeichnet?

IM: Ein Pilger ist kein Tourist, sondern jemand, der seine Präsenz und Vorstellungskraft einsetzt, um die Welt zum Besseren zu verändern. Die Vorstellungskraft ermöglicht Wirklichkeit und ist damit schon ein integraler Bestandteil dessen, was wirklich ist. Deshalb will Russland durch Lügen, die Zerstörung von Städten, die Auslöschung von Geschichten, Kulturgütern und der reichen Geschichte der Ukraine – und letztlich ihrer kollektiven Identität – die ­Ukraine in ihrem Inneren treffen. Deshalb ist unsere Anwesenheit wichtig: Sie ist nicht nur ein Akt des Widerstands gegen Autoritarismus und kulturellen Völkermord, sondern auch eine kraftvolle Bestätigung des Rechts der Ukraine, als souveräne Nation zu existieren – und damit auch das aller demokratischen Nationen. Allein unsere Anwesenheit ist ein Ausdruck von Freiheit und Souveränität.

e: Wie reflektieren die Menschen in der Ukraine, die ihr getroffen habt, diese Situation?

IM: Integrale Denker aus der Ukraine erklären, dass Russland von einem vormodernen, imperialen Denken ausgeht und die Ukraine, insbesondere nach 2014, begann, sich modernen, leistungsorientierten Wertesystemen zuzuwenden, hin zu Zusammenarbeit und ökosystemischen Perspektiven. Die Loslösung der Ukraine von russischen Einflüssen ist der Grund für den Krieg und ein Zeichen für diese Spannungen zwischen vormodernen und postmodernen Werten. Die Welt wird jetzt zunehmend multipolar und erlebt aufsteigende Mächte. Das ist von Belang, denn wenn die Ukraine gezwungen würde, ihr Territorium aufzugeben, was sehr wahrscheinlich ist, könnten sich andere Autokraten ermutigt fühlen, in weitere Länder einzufallen.

e: Wie siehst du dich selbst in diesem Kampf der ­Ukrainer?

IM: Es ist schwer, darauf zu antworten. Ich bin ordinierter buddhistischer Mönch, natürlich möchte ich Frieden, aber wenn man angegriffen wird, muss man sich wehren. Das imperiale Denken versteht nur die Macht. Ich habe tatsächlich für Leute gespendet, die Scharfschützengewehre für die Front kaufen. Ich unterstütze die Kämpfe. Aber das bedeutet nicht, dass man Hass spüren muss. Darüber haben wir während der Reise oft gesprochen.

»Die Möglichkeit menschlicher Güte wird unter schwierigen Umständen besonders deutlich.«

Wir hatten einen Theologen dabei, der zu einem Scharfschützenteam gehörte. In den ersten Tagen der Invasion war auch er Scharfschütze. Wie kann man höhere spirituelle Ideale und eine allumfassende Liebe mit der Notwendigkeit verbinden, Leben zu nehmen und zu kämpfen, also Aggression als Mittel zur Beendigung der Aggression einzusetzen? Aber man kann auch sagen, die Beendigung von Aggression ist ein Akt des Mitgefühls. Es ist wichtig, die Menschen in Russland nicht als »die anderen« abzugrenzen. Ich habe russische Freunde und möchte diese Trennungen und das Denken in Feindbildern in mir auflösen.

e: Was hat dich in der Begegnung mit den Menschen in der Ukraine besonders beeindruckt?

IM: Bei unseren Treffen gab es wenig Selbstmitleid. Jeder, der mit der Einstellung »ach, die armen Ukrainer« kam, merkte schnell, dass das nicht hilfreich ist. Wa­rum waren die Ukrainer in der Lage, eine solche Widerstandskraft an den Tag zu legen? Ich lernte das ukrainische Wort »Subjektivist« kennen, was man grob mit »Handlungsfähigkeit« übersetzen kann, obwohl es umfassender und tiefer ist. Es ist wohl diese Fähigkeit der ukrainischen kollektiven Psyche – eine ausgeprägte kollektive Identifikation mit individueller und vernetzter Handlungsfähigkeit für das Allgemeinwohl –, die ihre Charakterstärke ausmacht und sie in die Lage versetzt, sich zu organisieren und zurückzuschlagen.

e: Wenn du auf die Pilgerreise zurückblickst, was können wir von den Ukrainern für eine wünschenswerte Zukunft lernen?

IM: Die Möglichkeit von Schönheit und menschlicher Güte wird unter schwierigen Umständen besonders deutlich. Diese Welt wird immer instabiler, wahrscheinlich mit mehr Kriegen. Es besteht eine reale Chance, dass Menschen sich noch mehr verengen. Aber wenn wir mit Katastrophen konfrontiert werden, besteht auch die Möglichkeit, dass wir zusammenrücken, was aber nicht selbstverständlich ist.

Ich denke, der Weg nach vorn besteht darin, Antworten zu finden, die aus der Zivilgesellschaft und der sozialen Verbundenheit kommen – so, wie wir es in der Ukraine gesehen haben, wo die Menschen zusammenkommen und einander helfen. Wir können jetzt damit beginnen, die Grundlagen einer solchen sozialen Verbundenheit zu schaffen. Dort, wo wir sind. Wir können mit unseren Nachbarn zusammenkommen und lokale Vertrauensnetzwerke bilden. Wir können das Schöne auf lokaler Ebene schätzen und uns dort einbringen. Und uns gleichzeitig des größeren globalen Kontextes bewusst sein.

Unsere Pilgerreise hat das gezeigt. Wir hatten einen berühmten Geiger dabei, der mit seiner Familie in Charkiw wohnte und dort viele Bombenangriffe erlebte. Aber er blieb und sagte, seine Geige sei seine Waffe, mit der er die Menschen unterstützen wolle. Darin sehen wir die Kraft des menschlichen Geistes. Wenn wir den Zugang zu dieser gemeinsamen Menschlichkeit verlieren und jeder sich in seine eigene kleine Blase zurückzieht und versucht, das zu schützen, was ihm gehört, dann haben wir keine Chance. Ich hoffe, wir brauchen nicht noch mehr Katastrophen und Kriege, um das Beste in uns zum Vorschein zu bringen.

Author:
Kaa Faensen
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