Poetische Praxis

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Essay
Publiziert am:

January 27, 2025

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Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
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Die Kraft des Imaginalen

Das Imaginale ist weit mehr als subjektive Einbildungen und Fantasien, sondern ein Zugang zur Wirklichkeit. Eine imaginale Praxis verbindet uns mit tieferen Quellen des Menschseins.

Beim Schreiben eines Gedichts lausche ich nach innen. Es ist ein Innehalten, in dem ich den Drang spüre, etwas in Worte zu fassen, das als Impuls schon da ist, aber noch nicht zum Ausdruck gefunden hat. Der Anlass ist oft eine Erfahrung, ein Erleben, eine Ahnung, die mich berühren und sich in ihrer Essenz aussprechen wollen. Es beginnt ein inneres Forschen. Mit einem Sinn von Stimmigkeit kommen Wortbilder ins Bewusstsein, die etwas ansprechen von dem, was gesagt werden will. Und zum geschriebenen Wort kommt in Resonanz ein weiteres Bild. Und so fügt sich nach und nach ein poetischer Text aus der Resonanz der Bilder, einer inneren Form oder Ordnung, in der etwas ausgesprochen ist, das an den Rändern des Bewusstseins aufscheint, aber noch nicht ganz fassbar ist. Es ist wie das Hinaushören in ein Wahrnehmen, das noch nicht vollständig bewohnt ist. Ein Hineinhören in das Innere, in dem neue Spuren des Verstehens gelegt werden. In großen Gedichten, die Menschen noch Jahrhunderte nach ihrem Schreiben begleiten, scheinen solche Spuren universell menschliche Gültigkeit zu finden, gleichsam den seelischen Horizont zu erweitern. In dieser Poesie drückt sich dann offensichtlich nicht nur eine subjektive Fantasie aus, sondern etwas vom Wahren, Guten und Schönen des Lebens selbst tritt zutage und berührt uns.

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Die Kraft des Imaginalen

Das Imaginale ist weit mehr als subjektive Einbildungen und Fantasien, sondern ein Zugang zur Wirklichkeit. Eine imaginale Praxis verbindet uns mit tieferen Quellen des Menschseins.

Beim Schreiben eines Gedichts lausche ich nach innen. Es ist ein Innehalten, in dem ich den Drang spüre, etwas in Worte zu fassen, das als Impuls schon da ist, aber noch nicht zum Ausdruck gefunden hat. Der Anlass ist oft eine Erfahrung, ein Erleben, eine Ahnung, die mich berühren und sich in ihrer Essenz aussprechen wollen. Es beginnt ein inneres Forschen. Mit einem Sinn von Stimmigkeit kommen Wortbilder ins Bewusstsein, die etwas ansprechen von dem, was gesagt werden will. Und zum geschriebenen Wort kommt in Resonanz ein weiteres Bild. Und so fügt sich nach und nach ein poetischer Text aus der Resonanz der Bilder, einer inneren Form oder Ordnung, in der etwas ausgesprochen ist, das an den Rändern des Bewusstseins aufscheint, aber noch nicht ganz fassbar ist. Es ist wie das Hinaushören in ein Wahrnehmen, das noch nicht vollständig bewohnt ist. Ein Hineinhören in das Innere, in dem neue Spuren des Verstehens gelegt werden. In großen Gedichten, die Menschen noch Jahrhunderte nach ihrem Schreiben begleiten, scheinen solche Spuren universell menschliche Gültigkeit zu finden, gleichsam den seelischen Horizont zu erweitern. In dieser Poesie drückt sich dann offensichtlich nicht nur eine subjektive Fantasie aus, sondern etwas vom Wahren, Guten und Schönen des Lebens selbst tritt zutage und berührt uns.

Poesie hat diese Kraft, das Bewusstsein des Menschen in einen Dialog, eine Resonanz, ein Mitschwingen in Bildern und Worten zu versetzen, so dass sich ein neuer Blick in und auf die Welt formen kann. In diesem Sinne ist es eine imaginale Praxis, die uns Zugang zu einer Dimension der Wirklichkeit gibt. Den Begriff des Imaginalen prägte der Islamwissenschaftler Henry Corbin und meinte damit eine »Welt des Bildes, Mundus imaginalis: eine Welt, die ontologisch genauso wirklich ist wie die Welt der Sinne und die des Verstandes, eine Welt, die ein ihr eigentümliches Erkenntnisorgan erfordert, dessen kognitive beziehungsweise noetische Tätigkeit von Natur aus ebenso wirklichkeitsbezogen ist wie diejenige der sinnlichen Wahrnehmung und der intellektuellen Anschauung. Dieses einbildende Vermögen darf nicht mit einer Einbildung verwechselt werden, die der sogenannte moderne Mensch als bloße Fantasie versteht und die nach seiner Vorstellung nur Eingebildetes, Imaginäres hervorbringt.« Der Mensch kann, so Corbin, eine »aktive Einbildungskraft« entwickeln, mit der die imaginale Welt der Bilder wahrgenommen werden kann. Poesie und Kunst erhalten ihre Wirkung aus der ausgeprägten Einbildungskraft der beteiligten Menschen, durch die sie in der Lage sind, eine bildhafte Wirklichkeit wahrzunehmen, damit zu interagieren und sich davon verwandeln zu lassen.

Die Sozial-Künstlerin Shelley Sacks spricht vom »inneren Atelier«, in dem wir uns selbst und die Welt schöpferisch neu fassen, erproben, spielerisch mit neuen Möglichkeiten experimentieren. »Dabei nutzen wir die unsichtbaren Materialien von Sprache, Imagination und Denken. Wir können wie ein Bildhauer mit diesen Materialien arbeiten.« Aus der kreativen Freiheit wächst in uns die Erkenntnis und Zuversicht, dass es uns möglich ist, die Welt zu gestalten und umzugestalten. Denn auch unser menschliches Miteinander-Sein und ko-kreatives Schöpferisch-Sein wird von innen belebt, wenn es sich der Welt des Imaginalen öffnet. Dann können in der gemeinsamen Gegenwärtigkeit neue Wahrnehmungen, Einsichten, Lebensmöglichkeiten emergieren, die uns zuvor nicht zugänglich waren.


»Durch Poesie kultivieren wir eine lauschende Offenheit für das Innere der Wirklichkeit.«

Solche Öffnungen in einen neuen Erkenntnishorizont, die aus dem imaginalen Raum der bildhaften Wahrnehmung gespeist werden, geben uns die Möglichkeit, unser Sein in der Welt immer wieder neu zu erfahren, zu verstehen und unser Denken und unsere Annahmen über die Welt zu hinterfragen. In dem, was schon ist, in uns und der Welt, die wir erschaffen, entstehen Öffnungen, durch die das Neue, das Noch-nicht-Gedachte, das Noch-Mögliche spürbar und sichtbar werden kann. Imaginale Praxisformen wie rituelle, künstlerische, therapeutisch-introspektive oder dialogische Prozesse geben uns Zugang zur schöpferischen Entfaltungskraft des Lebens, die unser Sein in einen sinnerfüllten Kosmos einbettet und uns für neue Möglichkeiten der Entfaltung öffnet.

Für die Tiefenökologin und Dichterin Joanna Macy kann uns eine imaginale Praxis in einen rechten Bezug zur Wirklichkeit setzen. Durch ihre Praxis der »Moralischen Imagination« können wir uns beispielsweise in unserer Vorstellungskraft mit einem größeren Zeithorizont verbinden. Wir können unsere innere Wahrnehmung erweitern und dankbar die evolutionäre Entfaltung, von der wir ein ungetrennter Teil sind, vergegenwärtigen. Können unsere Hand betrachten und uns mit den vielen Lebensformen verbinden, in denen unsere Hand entstanden ist. Und genauso vermögen wir es, uns imaginativ der Zukunft zu öffnen, indem wir uns mit zukünftigen Generationen verbinden. Mit dem Wunsch, dass auch sie eine lebenswerte Welt bewohnen. Wir können unser jetziges Leben und Tun aus ihrer Per­spektive sehen. Uns vielleicht sogar selbst einen Brief aus der Perspektive eines zukünftigen Menschen schreiben, wie ­Macy vorschlägt.

Eine solche imaginale Erweiterung des eigenen Selbstsinns können wir nicht nur in der Dimension der Zeit praktizieren, sondern unseren imaginativen Geist für Ereignisse in der Welt öffnen, die uns bewegen, und uns damit in Mitgefühl verbinden. Wir können in der Meditation Menschen vergegenwärtigen, die wir innerlich unterstützen wollen. Können uns imaginativ in Tiere, Pflanzen und Landschaften einfühlen. Können introspektiv und therapeutisch mit bildhaften seelischen Qualitäten wie den Archetypen arbeiten. Künstlerische Prozesse ermöglichen es uns, unsere inneren schöpferischen Kräfte auszubilden, um uns selbst als kreative Wesen zu erfahren. In der menschlichen Urpraxis des Lesens können wir unseren geistigen Horizont erweitern. In dialogischen Räumen gemeinsamer Gegenwärtigkeit vermögen wir uns neuen Potenzialen des Seins zu öffnen. In Meditation, Gebet oder Ritual können wir uns mit Bild- oder Wortsymbolen verbinden, die uns in eine besondere Gestimmtheit zum Geheimnis des Seins bringen. Staunen, Ehrfurcht, Verzauberung. Verantwortlichkeit, Demut, Mitgefühl. Man könnte sagen, dass wir durch solche imaginalen Praxisformen in der Lage sind, unser individuelles und gemeinsames Leben in der Welt zu poetisieren. Das ist keine Schwärmerei, sondern notwendig, um aus tieferen Quellen zu leben, die sich nicht im Gegebenen erschöpfen. Wir kultivieren eine lauschende Offenheit für das Innere der Wirklichkeit, für die Präsenz des Heiligen in der Welt, für den Erfahrungsraum des Wahren, Guten und Schönen, ohne den unser individuelles und gemeinsames Leben seinen tragenden und schöpferischen Grund verliert.

Author:
Mike Kauschke
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