Himmel und Erde verbinden

Our Emotional Participation in the World
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Projekt-Interview
Publiziert am:

January 27, 2025

Mit:
Vanessa Bähr
Timm Richter
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
Diese Ausgabe erkunden

Über die Praxis der Bewussten Entladung

In der von Vivian Dittmar gegründeten Lebensweise Community ist eine der wichtigsten Übungen die Bewusste Entladung (s. S. 36). Vanessa Bähr und Timm Richter sind seit Langem in der Community und in dieser Praxis aktiv und sprechen über ihre Erfahrung mit diesem Prozess emotionaler Klärung, der auch online angeboten wird.

evolve: Was ist die Praxis der Bewussten Entladung?

Vanessa Bähr: Bewusste Entladung ist eine Praxis, die es Menschen ermöglicht, schwierige Gefühle und Emotionen bewusst zu fühlen und dadurch zu heilen. In der Regel praktizieren zwei Personen miteinander. Man vereinbart einen verbindlichen Zeitrahmen für die Praxis, meist zwischen fünf und fünfzehn Minuten pro Person. Es gibt eine klare Rollenverteilung. Die eine Person stellt einen Raum urteilsfreier liebevoller Anteilnahme zur Verfügung, ist einfach von Herzen da und achtet auf die Zeit. Die andere Person nimmt sich den Raum, um sich bewusst schwierigen Emotionen zuzuwenden. Das können emotional überfordernde Situationen aus der Vergangenheit sein oder auch akute emotionale Ausnahmezustände.

Das bewusste Fühlen dieser Emotionen ist der Fokus und der Schlüssel zur Heilung. Die fühlende Person kann für sich frei erforschen, was ihr dabei hilft, diese Emotionen zu fühlen. Das ist sehr individuell. Sie kann sprechen, Mimik oder Gestik nutzen, tönen oder nichts davon. Manchmal folgt man Bildern und Geschichten, oder es sind Erregungszustände und Körperempfindungen präsent. Man muss keinem inhaltlichen Faden folgen, sondern es ist ein Mäandern zwischen kognitiven Inhalten, Bildern, Assoziationen, Gefühlen und Körperempfindungen.

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Über die Praxis der Bewussten Entladung

In der von Vivian Dittmar gegründeten Lebensweise Community ist eine der wichtigsten Übungen die Bewusste Entladung. Vanessa Bähr und Timm Richter sind seit Langem in der Community und in dieser Praxis aktiv und sprechen über ihre Erfahrung mit diesem Prozess emotionaler Klärung, der auch online angeboten wird.

evolve: Was ist die Praxis der Bewussten Entladung?

Vanessa Bähr: Bewusste Entladung ist eine Praxis, die es Menschen ermöglicht, schwierige Gefühle und Emotionen bewusst zu fühlen und dadurch zu heilen. In der Regel praktizieren zwei Personen miteinander. Man vereinbart einen verbindlichen Zeitrahmen für die Praxis, meist zwischen fünf und fünfzehn Minuten pro Person. Es gibt eine klare Rollenverteilung. Die eine Person stellt einen Raum urteilsfreier liebevoller Anteilnahme zur Verfügung, ist einfach von Herzen da und achtet auf die Zeit. Die andere Person nimmt sich den Raum, um sich bewusst schwierigen Emotionen zuzuwenden. Das können emotional überfordernde Situationen aus der Vergangenheit sein oder auch akute emotionale Ausnahmezustände.

Das bewusste Fühlen dieser Emotionen ist der Fokus und der Schlüssel zur Heilung. Die fühlende Person kann für sich frei erforschen, was ihr dabei hilft, diese Emotionen zu fühlen. Das ist sehr individuell. Sie kann sprechen, Mimik oder Gestik nutzen, tönen oder nichts davon. Manchmal folgt man Bildern und Geschichten, oder es sind Erregungszustände und Körperempfindungen präsent. Man muss keinem inhaltlichen Faden folgen, sondern es ist ein Mäandern zwischen kognitiven Inhalten, Bildern, Assoziationen, Gefühlen und Körperempfindungen.

Neben dem klaren Zeitrahmen und den klaren Rollen gibt es eine dritte einfache Regel für die Praxis: die besondere Vertraulichkeit. Man spricht nicht mit anderen Personen über das, was in der Entladung passiert ist, und man spricht auch die Person selbst nicht darauf an. Das macht es sicher, sich in der Praxis auch Emotionen und Anteilen zuzuwenden, die man im Alltag möglichst vor anderen verbirgt.

Timm Richter: Wenn andere Menschen mit liebevoller Anteilnahme für uns da sind, haben wir mehr »Fühlkapazität«. Das ist etwas zutiefst Menschliches. Wir sehen das ja bei Kindern, bei denen oft erst dann die Dämme brechen, wenn sie sich in den Armen eines vertrauten Menschen befinden. Wenn sich das Nervensystem in solchen Momenten neu reguliert, können Entladungsphänomene auftauchen, wie zum Beispiel Weinen, Zittern, ein Schweißausbruch, Seufzen, Gähnen. Danach fühlt man sich oft sehr erleichtert und ist wieder wesentlich mehr bei sich.

e: Was ist die Grundidee der Praxis?

VB: Emotional überfordernde Erlebnisse werden im Unterbewusstsein gespeichert. Wenn wir später eine hinreichend ähnliche Situation erleben, dann werden diese nicht verarbeiteten Emotionen aus der Vergangenheit wieder hochgeholt. Wir nennen das emotionale Aktivierung. Innerlich sind wir dann zurückversetzt in die Ursprungssituation, denken und verhalten uns dann zum Beispiel so wie ein Dreijähriger, dem man das Spielzeug weggenommen hat, obwohl wir uns noch in der aktuellen Situation befinden. Dieses Verhalten ist dann unpassend und führt zu weiteren Problemen, und wir verstehen oft nicht warum. Uns ist nicht bewusst, dass wir emotional gesehen auf eine Situation aus der Vergangenheit reagieren.

»Taubheit und überfordernde Emotionen können sich in Verbundenheit wandeln.«

Wir alle kennen solche Zustände bei uns und anderen. Leider gibt es in unserer Kultur aber keinen Dialog, keine Transparenz darüber. Oft aktivieren wir uns vor allem in nahen Beziehungen gegenseitig und finden uns dann in aufreibenden, aber unfruchtbaren Auseinandersetzungen. Wenn ich aber weiß, dass die Emotionen, die gerade präsent sind, aus der Vergangenheit kommen und nichts mit meinem Gegenüber zu tun haben, kann ich mich ihnen in einem Schutzraum wie der Praxis der Bewussten Entladung zuwenden – mithilfe einer Person, die mich nicht aktiviert und die auch ich nicht aktiviere mit meiner Entladung. Gehe ich dann wieder in die Alltagssituation, so kann ich nun meist angemessener handeln. Auf der Ebene des Nervensystems werden die abgespaltenen, überfordernden Erfahrungen durch bewusstes Fühlen in unser erwachsenes Selbst integriert. Unser Ichgefühl wird kongruenter, wir werden handlungs- und beziehungsfähiger.

e: Wie erlebt ihr die langfristige Wirkung der Praxis?

TR: Taubheit und überfordernde Emotionen können sich in Stille, Frieden und in ein Erleben von Verbundenheit wandeln. Man lernt mehr Verantwortung für die eigenen Emotionen zu übernehmen, und man lernt, besser zu unterscheiden, was Emotionen aus der Vergangenheit sind, die den Beziehungsraum vergiften, und was jetzt zwischen uns geklärt werden muss. Dadurch entsteht eine völlig neue Grundlage für Beziehungen, in denen das Erfüllen von Bedürfnissen im Vordergrund stehen kann und nicht mehr, sich aneinander »abzuarbeiten« oder aneinander vorbeizuleben.

VB: Man lernt, sich emotional zu orientieren und in sich selbst verschiedene Zustände von Aktivierung zu unterscheiden. Der Bereich, womit ich im Leben umgehen kann, wird immer größer. Meine Gefühlskapazität wächst, und ich kenne mich selber so gut, dass ich auch schwierigen Lebenssituationen begegnen und dabei präsent und mitfühlend bleiben kann.

e: Wie übt ihr diese Praxis im Online-Entladungsraum?

TR: Der öffentliche Online-Entladungsraum ist ein Zoom-Treffen, das wir zweimal im Monat anbieten. Nach einer Einführung in die Praxis gibt es eine hinführende Meditation von circa fünf Minuten. Dann teilen wir die Menschen in Breakout-Sessions ein, wo sie zu zweit bewusste Entladung praktizieren, je zehn Minuten pro Person. Am Ende treffen wir uns noch einmal zehn Minuten mit allen Teilnehmenden, um Fragen zu beantworten und Erfahrungen zu teilen.

Wer öfter praktizieren möchte, kann der Lebensweise Community beitreten und an bis zu drei solcher Entladungsräume in der Woche teilnehmen. Dort gibt es auch eine Messenger-Gruppe, in der man zu jeder Tages- und Nachtzeit PartnerInnen für eine Entladung finden kann.

VB: Auch online funktioniert die Praxis erstaunlich gut. Menschen, die zum ersten Mal dabei sind, kommen in ein energetisches Feld, das sich über die fünf Jahre des Bestehens aufgebaut hat. Natürlich ist es für viele eine ungewohnte Situation, mit einem zufällig ausgewählten Menschen zu praktizieren, aber durch den Wechsel der Rollen gibt es keine Hierarchie. Man zeigt sich verletzlich, aber die andere Person auch. Viele sind sehr beglückt von dieser Erfahrung. Auch am Telefon funktioniert die Bewusste Entladung übrigens prima, so dass man im Alltag damit sehr flexibel ist, wenn man sie einmal kennengelernt hat.

e: Wie ergänzt diese Praxis der Bewussten Entladung für euch andere Praxisformen?

TR: Durch die Praxis der Bewussten Entladung ist es für mich einfacher, wirklich still zu sein. Wenn ich aktiviert bin und mein Kopf rattert, ist es für mich schwer, in der Meditation in die Stille zu gehen, wirklich bei mir zu sein und mich zu zentrieren. Wenn ich in der Entladung das durchfühle, was gefühlt werden will, dann kann ich innerlich still werden und wirklich präsent sein.

VB: Das Raumhalten hat etwas Meditatives, weil man dabei in eine transpersonale Präsenz geht. Aber man flüchtet sich nicht ins Transpersonale, sondern wendet sich von dort aus dem Leben, dem Persönlichen, dem Schmerzhaften, dem Irdischen zu. Die Praxis ist nicht nur körperorientiert, nicht nur spirituell, sondern sie bringt Himmel und Erde zusammen. Die Übung verbindet Körpergewahrsein, emotionales Gewahrsein und transpersonales Gewahrsein, und sie alle befruchten sich gegenseitig.

Author:
Mike Kauschke
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