Gemeinsam Mensch sein

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Publiziert am:

July 15, 2024

Mit:
Dougald Hine
Kategorien von Anfragen:
Tags
No items found.
AUSGABE:
Ausgabe 43 / 2024
|
July 2024
Spirituelle Resilienz
Diese Ausgabe erkunden

evolve: Wie erklärst du dir die Krise der Demokratie, die doch das Rückgrat der westlichen Zivilisation und das Ideal der westlichen Kultur war?

Dougald Hine: Wir müssen uns zunächst der Tiefe der Probleme bewusst werden und wie lange wir schon darauf zusteuern. Der Kulturkritiker Ivan Illich sagte, dass die Grenze der politischen Möglichkeiten heute die Anzahl der Menschen ist, die an einem Tisch sitzen und gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen können. Und einigen Denkern ist schon lange klar, dass unsere Systeme, die im Namen der Demokratie fortbestehen, ausgehöhlt worden sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die bestehenden Systeme einfach aufgeben sollten, aber darüber hinaus gilt es, die demokratische Kultur von unten her zu erneuern.

Ich glaube, dass dies heute der Ausgangspunkt für politische Möglichkeiten ist: sich um Tische zu versammeln und Nahrung zu teilen, sowohl buchstäblich als auch metaphorisch, weil dies an den zutiefst menschlichen Bedürfnissen ansetzt.

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Arbeit in den Ruinen

Was können wir tun, wenn unsere Welt zusammenbricht? Diese Frage stellt sich Dougald Hine in seinen Texten und Projekten. Wir sprachen mit ihm über unser Menschsein in Zeiten radikaler Umbrüche.

evolve: Wie erklärst du dir die Krise der Demokratie, die doch das Rückgrat der westlichen Zivilisation und das Ideal der westlichen Kultur war?

Dougald Hine: Wir müssen uns zunächst der Tiefe der Probleme bewusst werden und wie lange wir schon darauf zusteuern. Der Kulturkritiker Ivan Illich sagte, dass die Grenze der politischen Möglichkeiten heute die Anzahl der Menschen ist, die an einem Tisch sitzen und gemeinsam eine Mahlzeit einnehmen können. Und einigen Denkern ist schon lange klar, dass unsere Systeme, die im Namen der Demokratie fortbestehen, ausgehöhlt worden sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die bestehenden Systeme einfach aufgeben sollten, aber darüber hinaus gilt es, die demokratische Kultur von unten her zu erneuern.

Ich glaube, dass dies heute der Ausgangspunkt für politische Möglichkeiten ist: sich um Tische zu versammeln und Nahrung zu teilen, sowohl buchstäblich als auch metaphorisch, weil dies an den zutiefst menschlichen Bedürfnissen ansetzt.

Charismatischer Zeitgeist

e: Du sprichst von der grundlegendsten Form der Demokratie und Kultur – Nahrung teilen. Das scheint weit entfernt von der technokratischen Funktionsweise der modernen Demokratie.

DH: In Max Webers Beschreibungen über die Herrschaft im Verhältnis zu Macht und Führung findet sich etwas, was für die aktuelle Situation hilfreich ist. Er beschreibt drei Arten von Herrschaft. Herrschaft ist eine Form der Macht, die als legitim erlebt wird und nicht mit Gewalt und Zwang durchgesetzt werden muss. Weber nennt es die rationale rechtliche, bürokratische Herrschaft, die vorherrschende Form in modernen Industriegesellschaften, und stellt sie der traditionellen Herrschaft, etwa der der Feudalherren, gegenüber. Die dritte Form ist die charismatische Herrschaft. Dabei ist die Art und Weise, in der Weber charismatische Herrschaft konzipiert, durchaus pro­blematisch, weil er sie mit heroischen Individuen in Verbindung bringt.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die rationalen rechtlichen Institutionen erschöpft haben. Sie halten zwar noch eine formale Macht aufrecht und üben eine Kontrolle über die Ressourcen aus, aber kaum jemand glaubt noch an sie. Inzwischen ist die kulturelle Energie, der Zeitgeist, ins Charismatische übergegangen. Wenn diese charismatische Energie sich aber in einem vermeintlichen Helden oder Heilsbringer äußert, wird es sehr gefährlich. Wir können das heute in der Politik beobachten. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die versuchen, rationale, rechtliche Institutionen zu verteidigen. Sie glauben, dass die Dinge in Ordnung gebracht werden können, wenn wir sie in die Hände der verantwortlichen Politiker legen. Aber denen fehlt die kulturelle Energie, und das System, das sie repräsentieren, ist erschöpft. Auf der anderen Seite betreten gefährliche Trickser die Bühne, die eine charismatische Energie repräsentieren, aber oft im Sinne sehr dunkler Erscheinungsformen von Politik.

»Wie sehen die nicht-toxischen Formen charismatischer kultureller Energie aus?«

Das Tragische an Figuren wie Trump ist, dass es ihnen gelingt, die toxischsten Elemente in der politischen Landschaft mit der Ansprache von Menschen und Gemeinschaften zu verknüpfen, die einen großen Verlust an Stolz sowie an grundlegenden sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten erlitten haben. In der Mainstream-Politik war bisher kaum jemand bereit, diesen Verlust anzusprechen. Und dann treten diese opportunistischen politischen »Machertypen« in Erscheinung, die bereit sind, dies anzusprechen, es aber dazu nutzen, die Schwächsten und Verletzlichsten ins Visier zu nehmen. Die Reaktion des politischen Mainstreams besteht dann oft darin, jene zu verunglimpfen, die sich von diesen politischen Opportunisten angesprochen fühlen.

e: Wenn sich die rationale Herrschaft erschöpft hat und wir uns nach Charisma sehnen, befinden wir uns dann in den Händen solcher Opportunisten?

DH: Nun, wenn es stimmt, dass wir uns eher in einem charismatischen als in einem bürokratischen Zeitalter befinden, können wir fragen: Wie sehen die nicht-toxischen Formen charismatischer kultureller Energie aus? Wie kommen wir von der Version, die Weber beschreibt, zu etwas, das vielleicht mehr mit dem radikalen, gemeinschaftlichen Moment der Frühkirche gemein hat?

Denn das Wort Charisma bezieht sich auf Fähigkeiten, die nicht uns gehören, sondern durch uns kommen. In der frühen Kirche wurde das Charisma als etwas radikal Gemeinsames verstanden. Ich spreche nicht von einer Rückkehr zur christlichen Theologie. Aber die Frühkirche könnte uns Hinweise darauf geben, wie Gemeinschaften aussehen, in denen jede und jeder ihre und seine Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft stellt. Seltsamerweise denke ich, dass die Alternative zu toxischen heroischen Formen charismatischer Macht genau von dort kommen könnte: aus der Basisarbeit von Gemeinschaften, wo wir lernen, was es heute heißt, gemeinsam Mensch zu sein.

Was ist Liebe jetzt?

e: Die frühen Christen waren erfüllt von einer Liebe für das transzendente Heilige. Ich frage mich immer wieder: Was ist Liebe jetzt?

DH: Das ist eine fantastische Frage. Genau das ist es, was mich an Ivan Illichs Arbeit inspiriert hat. Er war katholischer Priester und hat seinen Glauben nie verloren. Aber er hatte sich mit der Institution überworfen und seine traditionelle Autorität als Priester aufgegeben. Er sah einen Schimmer der Liebe, die du ansprichst, die in den Ruinen zurückbleibt, wenn der Rest zusammengefallen ist.

Zudem gibt es mit Federico Campagna einen jüngeren italienischen Philosophen, dessen Arbeit für mich in den letzten Jahren wichtig war. Er sagt: »Manchmal wird man in das Ende einer Welt hineingeboren. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Zukunft nicht mehr funktioniert.« Politiker versuchen, die Vision von einer Zukunft zu entwerfen, auf die wir gemeinsam hinarbeiten können. Aber das klingt nicht mehr stimmig. Wir können auch beobachten, dass sich viele der erfolgreichsten Politiker heute auf die Vergangenheit berufen: »Make America great again«, die Brexit-Kampagne und so weiter.

Federico Campagna sagt, wenn wir diese Situation erkennen und nicht zu dieser Art von toxischer Politik beitragen wollen, sollten wir damit aufhören, uns darum zu sorgen, dass die Logik der Welt, die zu Ende geht, einen Sinn ergibt – und nach Wegen suchen, das Beste aus den Ruinen herauszuholen.

Die Arbeit in den Ruinen zu verrichten bedeutet, Ressourcen aus den bestehenden Strukturen und Systemen freizusetzen, um angemessene Bedingungen für mögliche lebenswerte Welten der kommenden Zeit zu schaffen. Wie finden wir die Akteure innerhalb der bestehenden Systeme, die nicht so tun, als ob es weitergehen kann wie bisher? Menschen, die vielleicht über genügend hilfreiche Ressourcen verfügen, die wir benötigen, um die zukunftsfähige Art von Landwirtschaft, Gemeinschaft, Kulturpraxis einer Demokratie von unten zu entwickeln. Das kann zu einem lebenswerten Leben in möglichen Zukünften beitragen.

e: Wie können wir in einer Welt leben, die zu Ende geht?

DH: Wir können auf diejenigen hören, die aus eigener Erfahrung das Ende von Welten bereits erlebt haben. Das ist der Grund, warum die indigenen Stimmen auf der ganzen Welt, wie Vanessa Machado de Oliveira ­Andreotti, Robin Wall Kimmerer oder Tyson Yunkaporta, endlich angemessenes Gehör finden. Sie bringen so viel mit an den Tisch, an dem wir uns zusammensetzen und die nötigen Gespräche führen können.

Wir sollten zuhören, wenn sie sagen, dass die Art und Weise, in der weiße westliche Menschen von indigenen Völkern lernen wollen, oft Teil des Problems ist. Denn häufig wollen wir unsere eigenen Vorfahren verleugnen, um uns als gute Verbündete zu erweisen. Wir konsumieren, idealisieren und romantisieren Kulturen, die 500 Jahre lang von unserer Kultur ausgebeutet wurden. Es ist angemessener, sich mit den Problemen unserer Vorfahren und Kulturen sowie unserem eigenen Erbe zu befassen.

Wir müssen unsere Geschichte der Demokratie entkolonialisieren und einen Dialog mit den Geschichten und Praktiken des Regierens anregen, die zu vielen Zeiten und an vielen Orten subtilere und weisere Versionen dessen verkörpert haben, was wir im Namen der Demokratie zu erreichen versuchen – Formen des Regierens, an denen die Gemeinschaft beteiligt ist und in denen Autorität nicht wie Herrschaft aussieht.

Wenn wir das Scheitern der Projekte der Moderne erkennen, löst das eine berechtigte Angst aus, sehen wir sie doch als die besten Errungenschaften des Westens. Aber wir müssen diese Errungenschaften an einen Tisch gemeinsam mit anderen verdienstvollen Modellen bringen, anstatt uns als die Meister hinzustellen, die der Zukunft am nächsten sind, während alle anderen in primitiveren Entwicklungsstadien leben.

»Wir können gemeinsam von unserer eigenen und der Kultur der anderen lernen.«

Genau daraus besteht die anspruchsvolle Arbeit, gemeinsam von unserer eigenen und der Kultur der anderen zu lernen. In dieser Hinsicht habe ich viel von dem mexikanischen indigenen Aktivisten und Intellektuellen Gustavo Esteva gelernt, der zu sagen pflegte: »In Mexiko leben wir eine große Tradition, nämlich unsere Traditionen traditionell zu verändern. Wir bringen das, was in unserer eigenen Tradition gut ist, in den Dialog mit anderen Menschen und ihren Traditionen ein, aber nicht im Rahmen eines modernistischen Paradigmas, nach dem alles, was alt aussieht, schlecht ist, und alles, was neu aussieht, das Beste ist. Wir treffen uns in der bescheideneren Bereitschaft, gemeinsam herauszufinden, wie wir inmitten der Ruinen der Welt, die wir glaubten, aufgebaut zu haben, weitergehen wollen.«

Demut öffnet Räume

e: Für einen solchen Dialog zwischen Menschen und Traditionen brauchen wir Demut als Ressource.

DH: Ich habe einen wunderbaren Artikel von Debbie Kasper, Professorin an einer Hochschule der Freien Künste in den Vereinigten Staaten, gelesen. Sie war dabei, einen landwirtschaftlichen Versuchsbetrieb am Rande des Hochschulcampus einzurichten. Am Tag, an dem die erste Kuh eintrifft, bemerkt sie, dass sie dabei wesentliche Dinge außer Acht gelassen hat. Sie erkennt ihre eigene Unzulänglichkeit und muss Leute zu Hilfe rufen, die weit weniger Qualifikationen haben als sie selbst, aber sich mit der Pflege von Tieren auskennen.

Am Ende empfindet sie Liebe und Respekt für diese Menschen und lernt eine Menge von ihnen. Sie kommt aus völliger Verzweiflung über den Klimawandel zu der Arbeit, die notwendig ist, um sich mit Menschen zusammenzutun, mit denen wir nicht unbedingt übereinstimmen. In einer Welt, in der das Klima immer weniger vorhersehbar ist, müssen wir das Notwendige tun und dabei praktische Fähigkeiten einsetzen.

Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, dass alle Aktivitäten, die für die Menschheitskultur am wichtigsten sind, in unseren Gesellschaften immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurden. In diesem Jahr haben wir zum Beispiel die Bauernproteste in vielen Teilen Europas erlebt. Und wenn Journalisten darüber schreiben, heißt es oft: »Die Landwirtschaft macht nur 1,4 % des BIP der Europäischen Union aus.« Aber wenn man diese 1,4 %, also die gesamte Landwirtschaft, herausnimmt, hört alles andere auf. Sie ist die Grundlage für alle wirtschaftlichen Aktivitäten, ohne die der Rest zusammenbrechen würde.

Die Art, wie wir unser gemeinsames Leben organisieren, sollte die wesentlichsten Aktivitäten in den Mittelpunkt stellen, nämlich unsere Beziehung zum Land und zur mehr-als-menschlichen Welt, dem Ort, von dem unsere Nahrung stammt.

e: Was würde das bedeuten?

DH: Sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, bedeutet manchmal, etwas gemeinsam zu tun. Ich komme immer wieder auf John Berger zurück, den großen marxistischen Denker. Als er etwa 40 Jahre alt war, ließ er sich in einem Dorf in der Haute-Savoie in den französischen Alpen nieder, lebte mit der letzten Generation der alten Bauern in einem aussterbenden Kulturraum zusammen. Er nennt diese alten Männer und Frauen seine Universität. Dazu gehörte auch seine Bereitschaft, sich zum Narren zu machen, indem er bei Dingen mithalf, die jeder Achtjährige in einer bäuerlichen Kultur beherrschte. Seine Bereitschaft, inkompetent zu sein und zu versuchen, sich nützlich zu machen und zu lernen, war seine Eintrittskarte in diese Gemeinschaft.

Das ist auch mein Weg: Ich versuche, mich in einer schwedischen Kleinstadt in die Kulturarbeit einzubringen, schließe mich der Gruppe an, die die örtliche Gemeinschaft organisiert und einen Ort für Musik- und Tanzveranstaltungen betreibt, und sitze mit einem Schreiner, einer Krankenschwester, einem Supermarktleiter und einem Busfahrer an einem Tisch. Sie alle verfügen über praktische Fähigkeiten, die sie einbringen. Wie finde ich den Ort, an dem etwas von dem, was ich auf meinem Weg gelernt habe, nützlich sein könnte – in einer Umgebung, in der niemand die Dinge liest, die ich schreibe oder sich für die Identität interessiert, die ich habe, wenn ich dir ein Interview gebe? Das ist ein notwendiger, demütiger Prozess, wenn wir lernen wollen, was wir dazu beitragen können, gemeinsam Mensch zu sein.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
Teile diesen Artikel: