Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
July 15, 2024
evolve: Wie würdest du dich selbst bezeichnen?
Jascha Rohr: Von der Ausbildung her bin ich Philosoph, habe aber nie akademisch als solcher gearbeitet. Ich habe versucht, einen fast schon handwerklichen und damit aktivistischen Weg zu suchen, um das, was ich theoretisch und methodisch für richtig halte, in der realen Welt zu testen. Man könnte sagen, ich bin eine Art wandelndes Reallabor. Ich war immer intrinsisch bewegt, die ökologischen, gesellschaftlichen und demokratischen Zustände, in denen wir leben, zu verbessern. Und das Betriebssystem, in dem wir alle operieren, ist die Demokratie als unsere Form der Governance.
e: Du stehst für einen Begriff, der den Kern deines Denkens und deiner Arbeit ausmacht: Ko-Kreation. Welche Bedeutung hat dieser Begriff für dich?
JR: Es ist für mich ein ökologischer Begriff. Das Ko-, das Zusammen ist für mich ein ganzheitliches, ökologisches Ko-. Es geht nicht nur darum, dass wir als Menschen zusammenkommen und etwas gemeinsam gestalten, sondern dass wir Menschen in einer ökologischen Umgebung, in einer Lebenssphäre existieren, die wir uns auch mit nicht-menschlichen Akteuren oder Partizipateuren teilen. Es geht immer darum, gemeinsam die Zustände zu verbessern. Dabei komme ich aus der Permakultur, die ich als Design, Gestaltung, Kreation verstehe. Die Welt ist ein gemeinsamer kreativer Entwurf.
Die Krise ist kein Schreckgespenst, sondern ein Zeichen, dass sich neue Möglichkeiten der Gestaltung eröffnen. Davon ist Jascha Rohr überzeugt, der seit vielen Jahren partizipative Prozesse in Politik und Kommunen begleitet. Dieses persönliche und philosophische Interview ist ein Aufruf zum Mitwirken.
evolve: Wie würdest du dich selbst bezeichnen?
Jascha Rohr: Von der Ausbildung her bin ich Philosoph, habe aber nie akademisch als solcher gearbeitet. Ich habe versucht, einen fast schon handwerklichen und damit aktivistischen Weg zu suchen, um das, was ich theoretisch und methodisch für richtig halte, in der realen Welt zu testen. Man könnte sagen, ich bin eine Art wandelndes Reallabor. Ich war immer intrinsisch bewegt, die ökologischen, gesellschaftlichen und demokratischen Zustände, in denen wir leben, zu verbessern. Und das Betriebssystem, in dem wir alle operieren, ist die Demokratie als unsere Form der Governance.
e: Du stehst für einen Begriff, der den Kern deines Denkens und deiner Arbeit ausmacht: Ko-Kreation. Welche Bedeutung hat dieser Begriff für dich?
JR: Es ist für mich ein ökologischer Begriff. Das Ko-, das Zusammen ist für mich ein ganzheitliches, ökologisches Ko-. Es geht nicht nur darum, dass wir als Menschen zusammenkommen und etwas gemeinsam gestalten, sondern dass wir Menschen in einer ökologischen Umgebung, in einer Lebenssphäre existieren, die wir uns auch mit nicht-menschlichen Akteuren oder Partizipateuren teilen. Es geht immer darum, gemeinsam die Zustände zu verbessern. Dabei komme ich aus der Permakultur, die ich als Design, Gestaltung, Kreation verstehe. Die Welt ist ein gemeinsamer kreativer Entwurf.
Wenn Gewissheiten wegbrechen
e: Es gibt in unserer jüngeren Vergangenheit ein Jahr, in dem die Welt eine Wendung genommen hat. Das ist das Jahr 2016, mit der Wahl von Trump und dem Brexit. In einem Gespräch hast du betont, dass dich diese Ereignisse geprägt haben. Was war für dich das Einschneidende?
JR: Es hat mich von der Illusion befreit, dass die politische Geschichte, in der wir uns gerade befinden, eine Geschichte des ewigen Aufwärts ist. Ich habe gemerkt, der klassische moderne Fortschrittsgedanke ist auch in mir, nicht aus persönlicher Überzeugung, sondern durch meine humanistische Bildung. Ich dachte, dass alles besser wird und wir nur daran arbeiten müssen. Natürlich war mir abstrakt bewusst, dass es auch Phasen gibt, die schlechter werden, aber ich war überzeugt, dass diese Aufwärtsbewegung eigentlich nicht aufzuhalten ist. Ich dachte, wir leben in einer Zeit, in der wir so viel Substanz aufgebaut haben mit demokratischer Kultur, Frieden, Völkerverständigung, Aufarbeitung der Vergangenheit, Reflexion, politischem Bewusstsein, dass solche Tiefschläge nicht mehr geschehen.
»Man könnte sagen, ich bin eine Art wandelndes Reallabor.«
Der Brexit hat mich persönlich getroffen, weil ich zwei Jahre in London studiert habe. Damals bin ich mit einer grünen Ente, vollgeladen mit meinen Möbeln, hingefahren, habe da gewohnt und angefangen zu studieren, alles ohne bürokratischen Aufwand. Es schmerzte, dass das plötzlich aufgrund von politischen Ressentiments vorbei ist. Es war für mich unbegreiflich, dass eine chauvinistische, nationalistische Haltung in Europa wieder Überhand gewinnt. Dass es solche Strömungen gibt, war mir klar, aber nicht, dass sie 51 Prozent der Stimmen bekommen können.
Der Schmerz war auch deshalb stark, weil die Europäische Union, so viel Kritik ich auch an ihren demokratischen Institutionen habe, für mich ein Fortschritt war hin zu größeren Einheiten, in denen Frieden, Verständigung und Demokratie herrscht. Und irgendwie hatte ich die vielleicht naiven Träume, dass sich irgendwann auf dem Globus eine friedliche demokratische Kultur etabliert. Dafür war die EU eine Vorreiterin, auch aufgrund meiner persönlichen Geschichte.
Meine Großeltern wohnten nahe der luxemburgischen Grenze in der Eifel, und ich habe viele Kindheitserinnerungen an die Grenze. Wenn wir auf Luxemburger Seite einkaufen oder tanken fahren wollten, wurden wir kontrolliert. Man musste in der Schlange stehen, es gab zwei Grenzhäuschen mit Wärtern in unterschiedlichen Uniformen. Der Kofferraum musste aufgemacht, die Pässe gezeigt werden. Mit der EU war das von einem Tag auf den anderen vorbei. Und das war für mich unglaublich prägend. Dass Menschen diese Entwicklung wieder zurückdrehen und Grenzen errichten wollen, ist für mich eine schreckliche Vorstellung.
Das andere Ereignis war die Wahl von Trump. Wie viele habe ich diesen narzisstischen Clown im Wahlkampf gesehen, und es war für mich nicht vorstellbar, dass irgendjemand mit einigermaßen Vernunft so jemanden an die Macht heben kann. Das hat auch wieder mit einer biografischen Geschichte zu tun. Mein Großvater war bei den Nationalsozialisten, war im Krieg, ist in amerikanische Gefangenschaft gekommen. Dort ist er, zumindest ist das seine Erzählung, zum Pazifisten geworden, weil die Amerikaner so gut mit ihm umgegangen sind. Das hat mein Bild von Amerika geprägt. Für mich sind die Amerikaner, auch bei aller Kritik, immer auch die Befreier vom Nationalsozialismus gewesen. Dass nun jemand, der selber faschistische Züge trägt, in den USA an die Macht kommt, war für mich undenkbar.
Diese Ereignisse 2016 haben mich in eine Sinnkrise gebracht, weil Gewissheiten meiner Kindheit und Jugend, die mich politisch geprägt hatten, weggebrochen sind.
Durch Krisen hindurchgehen
e: Acht Jahre später leben wir in einer Welt, in der sich diese Entwicklung in eskalierender Weise fortgesetzt hat. Wie können wir mit dieser Eskalation umgehen, ohne daran zu verzweifeln?
JR: Meine Antwort darauf kommt aus der Erfahrung überstandener Krisen. Ich bin sehr stark von einem Denken in Mustern geprägt – Muster zu erkennen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen wiederholen. Wir alle machen im Kleinen und im Großen Krisenerfahrungen. Manchmal bleiben wir in den Krisen stecken. Aber meistens bleibt uns gar nichts anderes übrig, als durch diese Krisen hindurchzugehen.
Meine Erfahrung aus solchen Prozessen in meinem Leben auf persönlicher Ebene ist, dass sich neue Perspektiven öffnen, wenn ich aus diesen Krisen herauskomme. Dann kehrt die Hoffnung zurück. Wenn ich mich heute in Situationen befinde, in denen sich hoher Druck, eine Spannung, Zerfall oder Kollaps zeigt und die Krise sichtbar wird, dann setzt bei mir zumindest in kleinen Prozessen, in denen ich arbeite, eine gewisse Vorfreude ein: Ich weiß, jetzt kommt die Krise, die wird schwierig, aber danach kommt die Ko-Kreation, das Heraustreten aus einer krisenhaften Situation mit einer veränderten Perspektive. In dieser veränderten Perspektive kann ich wieder Zukunft und Gegenwart gestalten, kann ich wieder einen Entwurf finden für das, was kommt. Das gibt mir den Mut, immer wieder in diese Krisen hineinzugehen.
e: Wie siehst du diese Dynamik auf gesellschaftlicher oder kultureller Ebene? Die Krisen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Erstem und Zweitem Weltkrieg, Holocaust und Gulag haben im Westen eine radikale Verunsicherung der eigenen Kultur mit sich gebracht. Und die Dekonstruktionsphilosophie der Postmoderne hat die Fortschrittsannahmen der Moderne radikal infrage gestellt. Eigentlich sind wir aus dieser Verunsicherung noch nicht herausgekommen.
JR: Was da infrage gestellt wurde, ist eine Identität, derer wir uns vorher sicher waren. Diese Identität war hauptsächlich geprägt von Nationalismus, Chauvinismus, Kolonialismus, Imperialismus. Dass wir da verunsichert wurden, halte ich für einen fast schon therapeutischen Effekt. Das Problem ist vielleicht eher, dass wir es bisher nicht geschafft haben, eine positive neue Identität zu entwickeln. Heute rutschen wir in die nächste Krise und sind verunsichert, was sich in Bezug auf Nachhaltigkeitsfragen und die Klimakrise zeigt. Es ist eine Kränkung, wenn wir erkennen, dass wir dafür verantwortlich sind, unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören. Das trifft uns zutiefst in unserer Identität und rüttelt uns auf. Das ist per se nicht schlecht, weil wir uns hinterfragen, die Zustände kritisieren. Positiv gesehen können wir in einen therapeutischen Prozess einsteigen, der überhaupt erst durch die Krise möglich wird.
Einladung zur Transformation
e: Ich höre darin, dass es diese kulturell-psychologische Krise vielleicht auch braucht. Denn vieles von dem, auf das wir uns verließen, stand auf tönernen Füßen. Es musste infrage gestellt werden. So schmerzhaft das ist, es hat durchaus auch eine therapeutische Seite.
JR: Ja, ich war vor ganz langer Zeit mit Andreas Weber zusammen in einem Interview mit dem Titel »Wir müssen die Krise feiern«. Krisen sind eine Einladung, Dinge loszulassen, Abschied zu nehmen, zu betrauern. Wir können Identitäten, die nicht mehr funktionieren, Gewissheiten, kulturelle Muster von uns abwerfen, um uns neu zu erfinden. Krise ist eine Einladung zur Transformation und Neuerfindung. Darauf folgt immer der schöne Prozess der Ko-Kreation, der mir solche Freude macht: wenn man an den Punkt kommt, wo man sich und die Welt neu erfinden darf – wie ein Trickster, der in die nächste komische Geschichte gestolpert ist und plötzlich ganz neue Optionen sieht, wie sich diese Geschichte weiterentwickeln darf.
Deswegen ist die Krise für mich kein Schreckgespenst. Für mich ist die Frage vielmehr: Was sind die Umstände der Krise, wie tief, wie lange, mit wie viel Leiden muss sie einhergehen, oder könnte es auch einfacher verlaufen? Kann man durch die Krise leichter gehen, als den ganz schwierigen Weg zu wählen? Wie weit sind wir vorbereitet auf die nächste Krise, wie weit lernen wir wirklich, damit wir als Gesellschaft einen Schritt weiterkommen?
»Krisen sind eine Einladung, Dinge loszulassen, Abschied zu nehmen, zu betrauern.«
e: Ein eskalierender Faktor der Krise sind die verschiedenen Dimensionen, von der ökologischen Krise bis zur atomaren Krise, mit der das Damoklesschwert der Selbstvernichtung über uns steht. Das ist eine Herausforderung, die auch lähmend wirken kann und die uns im positiven Sinne zwingt, Identitäten aufzugeben. Der Grund, warum es zu Krisen kommt und nicht einfach zu Veränderung, ist ja in der Regel der, dass wir Identitäten nicht aufgeben wollen – und uns von der Wirklichkeit zwingen lassen müssen, sie aufzugeben.
JR: Ja, und die Frage ist: Welche Identität müssen wir gerade aufgeben? In der Moderne haben wir uns als diejenigen verstanden, die die Welt wie eine Maschine nutzen, das ist auch eine Identität. Die Klimakrise zeigt uns, dass wir diese Identität aufgeben müssen. Diese Identität hat auch in eine Selbstverliebtheit des Westens geführt: »Wir sind die liberalen Demokratien, die den Code der Geschichte geknackt haben, und nach uns wird es nichts mehr geben außer der Demokratie.« Das ist eine Form von Hybris, die gerade infrage gestellt wird.
Ich beschäftige mich mit der Dynamik von Prozessen und frage mich: Wie groß ist dieser Prozess, in dem wir gerade sind? Wenn wir den Prozess der Multikrise betrachten, können wir fragen: Wann hat sie begonnen und wann hört sie auf? Wie viele Generationen sind davon betroffen? Wenn es ein großer Prozess ist, wie der Klimawandel, der vielleicht von 1950 bis 2100 geht, sind es 150 Jahre, also drei bis vier Generationen. Es kann also sein, dass es Generationen gibt, die ausschließlich in der Phase der Krise dieses Prozesses leben und die Auflösung der Krise gar nicht mehr miterleben. Das ist dramatisch für die Menschen, die in dieser Zeit leben. Und es wird andere geben, die werden nur noch das Ende der Krise erleben und erfahren, dass es einen Aufbruch hin zu regenerativen, nachhaltigen Lebensstilen geben wird. Das wäre zumindest meine Hoffnung: dass unsere Kinder und die Enkelgenerationen das erleben können, weil wir die Wenden geschafft haben, die Mobilitätswende, die Energiewende, die Klimawende und so weiter.
Zusammenbruch und Aufbruch
e: Interessanterweise gibt es in der europäischen Geschichte eine Art Blaupause für diesen Prozess, der hilfreich sein kann. Das ist der Zusammenbruch des klassischen Hellenismus mit dem Römischen Reich und einer Krise, die zu einer radikalen Veränderung unseres Selbstverständnisses als Menschen vom späthellenistischen bis zum frühchristlichen Selbstverständnis führte. Es war zudem ein Zusammenbruch der meisten ökonomischen Zusammenhänge und ein Prozess, der zwei- bis dreihundert Jahre gedauert hat. Damals stand unsere Selbstvernichtung nicht auf der Tagesordnung, aber trotzdem war es eine kulturelle Transformation, die letztendlich geschichtlich fruchtbar war.
JR: Es finden sich viele Beispiele in jeder Größenordnung. Vor Kurzem sprach ich auf einem Kongress mit einer Frau, die mich danach fragte, wie man solche Prozesse begleitet und wie man Menschen, die solche Krisen als bedrohlich erleben, Hoffnung machen kann. Das geht nur, wenn wir uns an die eigenen überstandenen Krisen erinnern und die Muster darin erkennen.
»Wir haben es bisher nicht geschafft, eine positive neue Identität zu entwickeln.«
Ich selbst bin gerade in einer großen Krise. Ich beende eine 20-jährige Lebensbeziehung mit meiner Partnerin, mit der ich privat und beruflich alles geteilt habe. Nach 20 Jahren ist dieser Trennungsprozess nicht in zwei Monaten getan, sondern braucht zwei, drei, vielleicht noch mehr Jahre, bis er verarbeitet sein wird. Im Zuge der Trennung einer solchen Beziehung habe ich wieder ganz persönlich die Erfahrung machen dürfen, dass es eine Phase gibt, in der es nur noch schlimmer kommt. Man denkt, man ist schon ganz unten angelangt, schlimmer geht’s jetzt gar nicht mehr, sowohl emotional als auch in den Auseinandersetzungen und der Kommunikation. Trotzdem gibt es irgendwann den Punkt, da ist dann doch ein Boden erreicht. Dann merkt man: Ab jetzt geht es wieder aufwärts. Es fließt wieder Energie, es kommt wieder Kraft rein.
Deshalb ist die relevanteste Frage in unserer Krise: Sind wir schon am Boden, oder fängt sie gerade erst an? Wie viel kommt da noch? Wie oft werden wir denken, schlimmer geht’s nicht mehr? Muss man das hinnehmen oder kann man den Verlauf beeinflussen, damit wir nicht bis ganz auf den untersten Boden aufschlagen?
Ein Beispiel: Wenn Trump noch mal an die Macht kommt, dann baut er innerhalb von zwei Jahren die Demokratie ab. Das wird eine Dimension haben, die das, was wir in der ersten Legislaturperiode von Trump erlebt haben, bei weitem übersteigen wird.
Die Frage ist also, wie viel Krise kommt da noch? Wir haben sie als die neue Normalität schon akzeptiert und ich habe mich mit ihr arrangiert und arbeite darin.
e: Ist mit der Frage nicht auch verbunden, dass wir im Hinterfragen unserer Identität noch tiefer gehen müssen?
JR: Ja, die wirklich transformativen Identitätsfragen haben wir noch lange nicht erreicht. Das würde darauf hindeuten, dass wir noch tiefer sinken werden. Wir haben gerade für das Umweltbundesamt ein Projekt zu Transformationsfragen begonnen. Das Wort Transformation ist in aller Munde, aber was darunter verstanden wird, ist eigentlich der nächste Quick Fix, das nächste Tool. Man macht ein agiles Meeting statt eines normalen Meetings. Das kann es natürlich nicht sein. Was braucht es also für tiefe Transformation?
Um ein positives Beispiel zu geben: Wie Habeck und Baerbock vor den Wahlen versucht haben, eine neue Kommunikationskultur bei den Grünen einzuführen, das war ein erster Ansatz. Da ging es wirklich darum, sich die Frage nach einer neuen Identität zu stellen: Wie kann Politik und Demokratie auch aussehen? Wie kann man in einer Demokratie kommunizieren? Habeck versucht das meiner Meinung nach immer noch, aber er steht die ganze Zeit im populistischen Sperrfeuer. Vielleicht auch deswegen, weil er vor der Wahl versucht hat, den Politikstil und die Identität, wie Politik verkörpert werden kann, neu zu definieren. Und das ist natürlich ein Angriff auf alle, die sich ganz wohl fühlen in ihrer Identität in der bisherigen Politik.
Ein Feuerwerk von Ideen
e: Es gibt zwei sich ergänzende Fragestellungen, die eine Antwort brauchen. Die eine ist: Welche neuen Perspektiven können wir entwickeln, um zu verstehen, ob wir schon am Boden angelangt sind? Und die andere: Wie können wir individuell und gemeinsam eine soziale oder spirituelle Resilienz entwickeln, damit uns in der Zwischenzeit nicht alles um die Ohren fliegt? Ich würde gern das Augenmerk auf die zweite Frage legen.
JR: Ich fasse meine Antwort darauf gerade als ein »Update der Demokratie« zusammen. Man könnte auch sagen: eine neue Demokratie ko-kreieren. Die Demokratien, wie wir sie jetzt haben, sind nicht das Ende der Geschichte. Das wäre vermessen. Aber zurück in totalitäre, faschistische und autokratische Systeme wollen wir auch nicht. Was ist also das nächste Level der Demokratie, was könnte ein neues demokratisches Paradigma sein, das sich in neuen Formen von Governance niederschlägt?
Ich glaube, wir brauchen Erfahrungs- und Erlebnisräume, in denen wir damit experimentieren und neue Demokratie-Prototypen entwickeln können, weil wir die Lösung noch nicht wissen. Das ist wie bei einem Entwicklungsschritt, den man persönlich macht. Man weiß noch nicht, was das Neue ist, aber man weiß, dass es einen irgendwo hinzieht, weg von dem, wo man bisher war. Sowohl beruflich als auch in meinem privaten Engagement möchte ich solche Räume und Formate schaffen, wo wir damit experimentieren, wie Politik anders erlebbar und gestaltet werden kann.
»In der Moderne haben wir uns als diejenigen verstanden, die die Welt wie eine Maschine nutzen.«
Das fängt ganz simpel an. Das Einstiegslevel bei dem Thema sind die Bürgerräte, wo es darum geht, dass Menschen miteinander zielgerichtet ins Gespräch kommen und sich mit Themen auseinandersetzen. Das umfasst auch, dass wir uns als politische Wesen mit unseren kollektiven Traumata und unseren Schmerzpunkten auseinandersetzen. Es ist im Grunde eine Art politisch-demokratische Therapie als Gesellschaft, um an unseren Identitäten, Visionen und Utopien zu arbeiten. Wer arbeitet im aktuellen politischen Betrieb mit einem Blick in die Zukunft, mit einer Vorstellung davon, wo wir hinwollen? Sehr wenige.
Ein Thema, das ich in der Initiative »Demokratie Update Deutschland« erforsche, ist die Frage nach Souveränität, weil sie ein zutiefst identitätsprägendes Element ist. Durch die Verfassung sind wir als deutsche Staatsbürger der Souverän des Staates, das heißt, alle Staatsmacht geht von uns aus. Das ist zumindest die Intention. Dass die Souveränität nur vermittelt praktiziert wird, wissen wir auch.
Die Frage ist für mich: Wie kommen wir zurück in unsere Souveränität? Wie werden wir der Souverän, der wir sein müssen, damit wir eine neue Demokratie leben können? Was heißt das für uns persönlich? Was verlangt das von uns als Gesellschaft, souverän zu sein, dass die Staatsgewalt von uns ausgeht, dass wir diejenigen sind, die diese Gesellschaft gestalten? Hier geht es um mehr als »Ich stelle mich für ein Mandat auf«, »Ich unterschreibe eine Petition«, »Ich gehe wählen«, »Ich gehe demonstrieren«. Das sind die Partizipationsmöglichkeiten, die wir jetzt schon haben. Was sind neue Möglichkeiten der Beteiligung, die wir in Zukunft brauchen?
e: Lass mich einen Begriff aufgreifen, den du verwendet hast: Prototypen. So wie ich dich verstehe, sind wir in einer Situation, in der es auch darauf ankommt, dass Prototypen entstehen. Das ist auch ein Aufruf an uns und unsere Leserschaft. Du arbeitest an solchen Prototypen. Ich sehe auch unsere Dialogformen als Prototypen einer Kulturpraxis. Und es gibt viele andere Menschen, die aus dieser Krise heraus gedrängt sind, Prototypen für etwas Neues zu entwickeln. Solche Prototypen können uns auch motivieren, die Herausforderungen seelisch zu tragen. Prototypen schaffen Hoffnungspotenzial. Viele dieser Prototypen werden nicht funktionieren, aber manche werden es. Sie sind der Samen für eine mögliche Erneuerung der Demokratie.
JR: Ja, nicht alle Samen gehen auf. Das ist ein bekanntes Muster aus der Natur. Deswegen müssen wir eigentlich ein Feuerwerk von Ideen zünden, tausende von Prototypen entwickeln, damit wir die wenigen wertvollen identifizieren und weiterentwickeln können zu einer neuen Kultur. Das passiert übrigens auch, da bin ich sehr optimistisch. Es fliegt zwar unter dem Radar, aber es geschieht exponentiell, jedes Jahr verdoppelt sich gefühlt die Zahl der Initiativen und Projekte, die in dieser Richtung forschen. Und wir wissen von der Exponentialfunktion: Irgendwann schießt es dann durch die Decke und bringt den Wandel – ein positiver Kipppunkt.
Ich habe von den Bürgerräten gesprochen, ihr habt eure Dialogformate. Es gibt viele Versuche, in Dörfern und Kommunen lokale Versammlungen zu veranstalten, lokale Werkstätten aufzubauen, Demokratieprojekte zu initiieren. Da kann sich jeder engagieren. Es gibt keine Stadt, keine Kommune, kein Dorf, keine Region, wo es nicht Beteiligungsprojekte gibt. Natürlich sind die nicht alle gut und bringen nicht alle den Wandel, von dem wir hier sprechen. Aber sie sind wichtig, weil sie Erfahrungsräume ermöglichen, die wir miteinander als Kollektiv, vielleicht sogar als Menschheit machen müssen, um daraus zu einer besseren Governance zu finden.
»Die Demokratien, wie wir sie jetzt haben, sind nicht das Ende der Geschichte.«
Aus meiner Sicht gibt es dabei einen wichtigen Aspekt. 80 Prozent der Prozesse, die ich begleite, basieren auf Dialog und Sprache. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir einen Design-Turn schaffen müssen, bei dem wir viel stärker ins Gestalten kommen, auch handwerklich, im Sinne von konkreten Entwürfen. Das ist ein anderer Modus, als über Dinge zu sprechen. Das ist eine Qualität, die diese zukünftigen Prototypen entwickeln müssen.
Für mich hat das viel mit spiritueller Resilienz zu tun. Meine Art von Spiritualität ist, wenn man so will, eine schamanische. Sie ist sehr erd- und materieverbunden. Meine schamanische Praxis ist eine Praxis in der Welt. Deswegen würde ich sagen, dass meine spirituelle Praxis darin liegt, in Prototypen zu lernen, darüber zu reflektieren, sie bewusst zu vollziehen und im Prozess weiterzuentwickeln. Ich betrachte das fast wie eine Meditation. Mein Motto ist: »Mach die Welt zu deinem Dojo.« Wir müssen nicht ins Dojo gehen, um spirituell sein zu können. Wir können auch in einen Bürgerrat gehen oder uns in einer politischen Initiative engagieren. Das ist für mich auch eine Form von spiritueller Praxis.