»Lasst es uns versuchen«

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 28, 2024

Mit:
Lotte van den Berg
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AUSGABE:
Ausgabe 44 / 2024
|
October 2024
Gemeinsame Gegenwärtigkeit
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Vom Beobachter zum Mitgestalter

Lotte van den Berg kam durch ihren Vater, einen bekannten Puppenspieler, schon früh mit dem Theater in Verbindung. In ihrer eigenen Arbeit interessiert sie die Dynamik zwischen Darstellenden und Zuschauenden und wie sie aufgebrochen und zum Tanzen gebracht werden kann.

evolve: Wie zeigte sich für dich dein besonderer künstlerischer Ansatz in der Arbeit mit dem Theater?

Lotte van den Berg: In meiner Arbeit hat mich von Anfang an interessiert, inwieweit sich das Publikum seiner Rolle bewusst ist, der Tatsache, dass es durch das Zuschauen selbst teilnimmt. Im Laufe meiner Arbeit habe ich den Betrachtenden zunehmend eingeladen zum Teilnehmenden zu werden. Zuerst, um sich des Zuschauens bewusst zu werden, dann lud ich ihn ein, sich auch konkret in die Handlung einzubringen. Auf diese Weise verschwand der Zuschauende im Geschehen. Oder es gab einen fließenden Rollentausch zwischen dem, der zuschaut, und dem, der darstellt. Ich sehe Theater als Praxis und nicht als Produkt. Als eine Möglichkeit, die gemeinsame Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken und es gemeinsam erlebbar zu machen. Wie im Ritual, an dem ja immer alle gemeinsam teilnehmen, und bei dem die Unterscheidung zwischen Publikum und Darsteller weniger klar ist.

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Vom Beobachter zum Mitgestalter

Lotte van den Berg kam durch ihren Vater, einen bekannten Puppenspieler, schon früh mit dem Theater in Verbindung. In ihrer eigenen Arbeit interessiert sie die Dynamik zwischen Darstellenden und Zuschauenden und wie sie aufgebrochen und zum Tanzen gebracht werden kann.

evolve: Wie zeigte sich für dich dein besonderer künstlerischer Ansatz in der Arbeit mit dem Theater?

Lotte van den Berg: In meiner Arbeit hat mich von Anfang an interessiert, inwieweit sich das Publikum seiner Rolle bewusst ist, der Tatsache, dass es durch das Zuschauen selbst teilnimmt. Im Laufe meiner Arbeit habe ich den Betrachtenden zunehmend eingeladen zum Teilnehmenden zu werden. Zuerst, um sich des Zuschauens bewusst zu werden, dann lud ich ihn ein, sich auch konkret in die Handlung einzubringen. Auf diese Weise verschwand der Zuschauende im Geschehen. Oder es gab einen fließenden Rollentausch zwischen dem, der zuschaut, und dem, der darstellt. Ich sehe Theater als Praxis und nicht als Produkt. Als eine Möglichkeit, die gemeinsame Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken und es gemeinsam erlebbar zu machen. Wie im Ritual, an dem ja immer alle gemeinsam teilnehmen, und bei dem die Unterscheidung zwischen Publikum und Darsteller weniger klar ist.

Gedanken formen Wirklichkeit

e: Könntest du ein frühes Werk beschreiben, das ein Schritt in diese Richtung war?

»Ich sehe Theater als Praxis und nicht als Produkt.«

LvdB: Ein Beispiel ist »Rumor« aus dem Jahr 2007. Da haben wir ein schalldichtes kleines Theater gebaut, das wir an verschiedenen Orten aufstellen konnten. Es war ein Theater mit Aussicht, eine Wand war komplett aus Glas. Wir konnten es in der Stadt aufstellen, auf einem öffentlichen Platz zum Beispiel. Das Publikum betrat den schalldichten Raum, in dem man nichts von draußen hörte. Die vier Performer legten sich verschiedene Mikrofone an, auch an ungewöhnlichen Stellen wie ihren Beinen. Dann gingen sie nach draußen und man sah sie weggehen und in den Stadtgeräuschen verschwinden. Das Publikum blieb allein zurück und schaute auf den Platz. Nach einer Weile kamen die Performer zurück und machten einfache Aktionen mit Objekten wie einer Tasche, einem Schirm, einem Fahrrad. Sie nahmen z. B. eine Tasche und liefen mit ihr herum. Dadurch richtete sich die Aufmerksamkeit auf alle Taschen, die von Leuten auf dem Platz herumgetragen wurden. Die Darstellenden spielten keine Rollen, mit ihren Aktionen lenkten sie die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf Personen und Dinge auf dem Platz. Und dann haben wir die Geräuschkulisse verändert. Wir benutzten die Mikrofone der Darsteller und hatten auch Mikrofone in den Bäumen und auf dem Platz, so dass wir den Klangraum des Platzes nutzen konnten. Die ganze Szenerie habe ich geschaffen, um erlebbar zu machen, wie eng das, was man als Zuschauer sieht, mit dem zusammenhängt, was man denkt und fühlt. Wenn man romantische Musik hört, sieht man plötzlich Menschen, die sich küssen. Wenn man das Geräusch eines Fahrrads hört, sieht man plötzlich Fahrräder. Es gab diese kleinen Momente des Staunens, die wir nicht steuern konnten, aber wir haben versucht, offen für sie zu sein. Ein Beispiel: Einer der Darsteller war drinnen, und draußen begann es ein wenig zu regnen. Er nahm einen dunkelblauen Regenschirm und ging nach draußen und öffnete ihn. Plötzlich waren fünf dunkelblaue Regenschirme auf dem Platz zu sehen. Dann hat man das Gefühl, dass die Realität mit einem spricht, einen versteht, mit einem im Einklang ist. Aber es zeigt vor allem, dass das sichtbar wird, von dem abhängt, was man denkt und worauf man sich konzentriert. Am Ende gab es eine Szene, für die wir starke Regengeräusche vorbereitet hatten, aber es regnete überhaupt nicht. Die Darstellenden taten so, als würde es regnen. Als Zuschauerin konnte man den Eindruck gewinnen, dass man den Regen sah, obwohl man wusste, dass es nicht regnete. Du siehst den Regen, weil du ihn spürst, ihn hörst. Es ist ein interessanter Moment, wenn du beginnst Dinge zu sehen, die nicht da sind, und du dir dessen sogar bewusst bist. In »Rumor« wurde die Wahrnehmung als Betrachterin thematisiert. Ich habe viele Arbeiten gemacht, die dieses Forschen weiterführen. Auch eine Arbeit mit Obdachlosen in Utrecht: Zuerst gingen wir durch die Stadt, um zu sehen, wie Obdachlose leben. Am Ende saß man selbst auf der Straße auf einer alten Zeitung, allein, und die Leute gingen vorbei. Es ist also eine ständige Aufforderung, sich selbst zu betrachten und die Art und Weise, wie man sich zu bestimmten Themen und Ideen verhält.

Gespräche bauen

e: Viele Jahre hast du die Praxis Building Conversation mitentwickelt. Wie kam es dazu?

LvdB: Ich habe das Programm zusammen mit meinem Partner Daan’t Sas ins Leben gerufen. Ich habe mich nach zehn Jahren aus der Organisation und der Mitarbeit zurückgezogen, unterstütze es aber weiterhin. Es war ein weiterer Schritt in der Erforschung der Beteiligung. Wir spürten, dass es viele Menschen gibt, die sich danach sehnen, sich zu beteiligen, nicht nur an der Kunst, sondern auch an der Welt, an ihren Städten. Viele Menschen sprechen über Partizipation, auch auf staatlicher Ebene. Wir fragten uns was passiert, wenn man Menschen zur Teilnahme einlädt, und was es braucht, damit sie sich wirklich beteiligen.

Im Sommer 2013 waren wir auf einem Festival im Norden der Niederlande (Oerol) und begannen mit dieser Frage: »Stell dir vor, du machst im nächsten Jahr etwas mit uns zusammen. Was würdest du gerne mitmachen? Woran würdest du dich gerne beteiligen?« Wir waren an einem Strand mit einem kleinen Unterstand, Kaffee und Snacks, und improvisierten gemeinsam. Wir nannten es »Temple, the Building Place«, es hatte etwas von beidem, Baustelle und Tempel. In diesem Raum sprachen die Menschen mit uns, aber auch miteinander. Im Laufe dieses Gesprächs wurde der Dialog über die mögliche gemeinsame Zukunft zum Werk selbst.Von da an haben wir verschiedene Gesprächsformate entwickelt und ausprobiert, wie wir das Publikum in das Geschehen einbeziehen können, ausgehend von der Idee, dass das Gespräch selbst das Kunstwerk ist. Wenn wir miteinander reden, improvisieren wir. Wir alle bringen unsere Instrumente, unsere eigenen Themen, Worte, Gefühle und Lebenserfahrungen mit.

Diese Arbeit war für mich als Regisseurin interessant, da ich normalerweise draußen stehe und sage, was die Leute zu tun haben. Ich dachte, ich schaffe einen Raum für die Zuschauenden, an dem sie teilnehmen können. Aber plötzlich wurde mir klar, dass ich den Raum auch für mich selbst geschaffen habe, um daran teilzunehmen. Wir können keinen Raum schaffen, in dem andere teilnehmen können, wenn wir nicht selbst teilnehmen. Wir müssen es gemeinsam tun. Hier hat sich auch meine Rolle verändert, es wurde mehr ein Tanz, als dass ich diejenige war, die den Rahmen setzt und außerhalb steht.

e: Wie fandet ihr die verschiedenen Ansätze, um zur Teilnahme einzuladen?

LvdB: Das lief ganz intuitiv. Es gab Leute, die sich für unsere Suche interessierten und uns Bücher empfahlen, wie »Dialog« von David Bohm. Oder jemand erzählte von einer indigenen Praxis, wo Menschen gemeinsam schweigen, und wir haben es einfach ausprobiert und damit experimentiert.

»Mit Kunst können wir einen Zwischenraum schaffen.«

Das liebe ich so sehr an Theater und Performance. Man lädt ein paar Leute ein, schafft einen Raum und probiert es aus. »Lasst es uns versuchen« ist eine schöne Einladung an die Menschen. Wichtig im Anschluss ist die gemeinsame Reflexion. Die Kunst bietet einen Rahmen, in den man ein- und aussteigen kann, der es ermöglicht, die Dinge zu betrachten und darüber nachzudenken.

Wirkliche Veränderung

e: Gab es in den zehn Jahren, in denen du verschiedene Formate mitentwickelt hast, besonders starke Erfahrungen oder Erkenntnisse?

LvdB: Wichtig ist für mich die Verwirklichung des Gesprächs, dass es nicht nur ein Sprechen über etwas ist, sondern ein tatsächliches Geschehen. Während man über etwas spricht, bemerkt man, was passiert. Wenn man über bestimmte Machtmuster spricht, kann man bemerken, dass der eine ständig redet und der andere ständig schweigt. Es ist eigentlich immer so, dass das, worüber du sprichst, auch im Raum geschieht. Und darauf kann man die Aufmerksamkeit lenken. Dann hat man als Gruppe eine gemeinsame Realität. Das Reden ist nicht nur ein Reden über etwas, sondern ein Tun, eine kraftvolle Erfahrung, die man miteinander machen kann. Ich habe festgestellt, dass man dafür Zeit und Stille braucht. Das Gefühl, dass man nichts produzieren muss. Oftmals wurden wir zu einem kurzen Workshop von einer Stunde eingeladen. Aber wir brauchen mindestens vier Stunden, am besten drei Tage, um wirklich einen Raum zu schaffen, in dem eine bereichernde Erfahrung möglich ist.

e: Es gibt sonst keine Zeit, damit etwas zwischen den Menschen entstehen kann, weil nicht genügend Zeit ist, um in den Raum zu kommen und sich tiefer zu begegnen.

LvdB: Ja, es gibt so viele Muster, die wir ändern wollen, aber man muss sie auch wirklich verändern. Das geschieht nicht, wenn wir einfach weitermachen und zwischendurch eine schöne Intervention erleben.

Das bringt mich zu dem Punkt, an dem ich jetzt bin, denn ich war in einem Sabbatical, nachdem ich die Arbeit mit Building Conversation beendet hatte. Meine Arbeit heute erforscht den Prozess des Sterbens. Ich habe viele Arbeiten gemacht, die sich auf das Sterben beziehen. Zum Beispiel eine Trilogie mit dem Titel »Dying Together«, in der ich Menschen einlade, sich durch Aufstellungsarbeit mit ihren eigenen Körpern, die sich im Raum bewegen, auf kollektive Momente des Todes zu beziehen.

Ich habe eine Ausbildung für Sterbebegleitung gemacht. Das war eine Möglichkeit, nicht nur Kunst zu produzieren, sondern die Menschen unmittelbar zu begleiten. Wobei ich auch Künstlerin sein kann, wenn ich keine Werke produziere. Ich bin an einer hybriden Praxis interessiert, in der ich Werke herstelle und zeige, aber auch einfach in der Welt bin, ohne es als Kunst zu bezeichnen.

»Oft beginnt meine Begeisterung mit einer Sorge.«

Mit Building Conversation haben wir wunderschöne performative Settings geschaffen. Viele Teilnehmende hatten erstaunliche Einsichten oder Erfahrungen, die sie für den Rest ihres Lebens begleiten. Das ist wichtig. Aber man liefert etwas ab und das war’s. In Bezug auf Zeit, Hingabe und Aufmerksamkeit habe ich das Bedürfnis, länger bei solchen Prozessen zu bleiben.

Das ist es, was ich an meinem derzeitigen Projekt als Artist in Residence an der Akademie für Theater und Tanz in Arnheim interessant finde. Als Künstlerin bin ich eingeladen, mir anzuschauen, was in der Hochschule passiert, und aus meiner Perspektive auf die Lerngemeinschaft zu reagieren.

Dabei arbeite ich mit dem Buch »Palliativgesellschaft« von Byung-Chul Han. Wir haben einen zweiwöchigen Raum, den ich ­»A Space In-Between« nenne. Eingeladen sind Studierende und Lehrende und alle, die mit der Hochschule zu tun haben. Wir arbeiten mit Schmerz, Traurigkeit, Intimität und körperlicher Intuition. Wie man sie erlebbar macht, wie man sie gemeinsam aushält und wie man das Wissen nutzt, das wir als Künstler generieren, um Räume und Rituale zu schaffen.

Ich bin entschlossen, mich weiterhin mit Tod und Schmerz auseinanderzusetzen und mit jungen Menschen zu praktizieren. Ich mache mir Sorgen um den geistigen Zustand junger Menschen. Oft beginnt meine Begeisterung mit einer Sorge. In der Hochschule, aber auch in der Gesellschaft beobachte ich, dass psychische Schwierigkeiten als individuelles Problem betrachtet werden. Wir individualisieren diese Erfahrungen in persönlicher Arbeit mit Therapeutinnen, so dass es nicht zu einer kollektiven Antwort, einer Revolution kommt. Heute gibt es dafür Psychologinnen in der Hochschule. Ihre Anwesenheit scheint uns zu vermitteln, dass wir solche Schwierigkeiten nicht gemeinsam bewältigen können. Aber wir müssen es gemeinsam angehen. Das ist der einzige Weg.

Räume des Vertrauens

e: Das heißt, wir brauchen mehr kulturelle Räume, um das zu tun.

LvdB: Ja, die gab es immer. Aber jetzt haben wir sie nicht mehr. Wir brauchen neue, und sie müssen geschaffen werden. Auch dafür brauchen wir Künstler. Oder zumindest die künstlerische Haltung. Im Lichte von Joseph Beuys müssen wir den Künstler in uns wecken, und wir müssen daran glauben, dass wir einen Rahmen schaffen können, in dem wir mit dem Schmerz umgehen können, in dem wir dem Tod begegnen können, in dem wir es wagen zu vertrauen.

Mit Kunst können wir einen Zwischenraum schaffen. Wir können einen Raum öffnen, wo scheinbar kein Raum ist, keine Leere, keine Stille. Wir können Raum schaffen, um zu atmen, um aus einem anderen Blickwinkel zu schauen, um zu reflektieren, um einen Moment innezuhalten, um zu üben, um noch nicht zu wissen, um mutig zu sein.

Das versuche ich auch mit einem anderen neuen Werk, das »Rhizome« heißt und die Leute zum Herumwandern einlädt. Es ist inspiriert vom Wachsen des Brombeerstrauchs, mit seinen wuchernden Wurzeln. Die Idee des Rhizoms bezieht sich auf Gilles Deleuze. Er benutzte das Bild, um Wege zu finden, anders zu denken, Kategorien und Schichten zu öffnen und zu spüren, dass, wie Deleuze schreibt, jeder Punkt der Welt unmittelbar mit jedem anderen Punkt der Welt verbunden ist. Materie, Politik, Denken, Begeisterung, Recht – alles ist unmittelbar miteinander verbunden.

Wir tun dies durch die einfache Praxis des Murmelns. Wir laden die Menschen dazu ein, außerhalb ihres Kopfes zu denken. Es geht nicht um die Formulierung von Gedanken, sondern um ein ständiges Murmeln, durch das unsere Gedanken ein Teil der Welt werden und sich mit dem Wind bewegen wie das Flüstern von Blättern.

Auf diese Weise versuche ich ständig neue Praktiken und Rituale zu entwickeln, um uns selbst und einander in der Welt anders zu erleben.

Author:
Mike Kauschke
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