Wirklichkeit gründet in Bezogenheit

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

October 28, 2024

Mit:
John Vervaeke
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 44 / 2024
|
October 2024
Gemeinsame Gegenwärtigkeit
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Die Ankunft des Heiligen

Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke beschäftigt sich intensiv mit der Sinnkrise, mit Weisheit und mit der Erneuerung unserer kulturellen Grundlagen aus der Wertschätzung des Heiligen heraus. Dabei sieht er den dialogischen Prozess des Forschens im Dialogos als eine Qualität dieser kulturellen Transformation. Wir sprachen mit ihm über diesen grund­legenden Wandel unseres Denkens und unseres Seins in der Welt.

evolve: Es gibt Menschen, Projekte, Gruppen und Gemeinschaften, die über eine Subjekt-Objekt-Weltanschauung hinausgehen und nach neuen Wegen suchen, um uns in das Heilige einzubetten, in die Nicht-Trennung, die die Grundlage dessen ist, was wir Emergent Interbeing nennen. In deiner Arbeit betonst du, dass vor den Dingen, die in Beziehung stehen, oder den Personen, die in Beziehung stehen, die Bezüglichkeit steht. Kannst du dies erläutern?

John Vervaeke: Lass mich dies zunächst historisch ansprechen, im Sinne der Geschichte bestimmter Ideen. Aristoteles führte die Idee ein, dass die Realität auf unabhängig voneinander existierenden Dingen beruht und dass sich daraus die Beziehungen ergeben. Wir im Westen folgten diesem ­aristotelischen Weg, der schließlich zu Descartes und seiner dualistischen Sicht der Wirklichkeit führte, die zwischen Geist und Materie trennt. Gleichzeitig hat es Versuche gegeben, eine alternative Sichtweise zu formulieren, wie im Neuplatonismus oder viel später bei Martin Heidegger. Wie der Philosoph James Filler hervorhebt, entstehen Beziehungen nicht aus den Dingen selbst, die individuell existieren. Denn wenn man behauptet, dass es Dinge gibt und die Beziehung eine Eigenschaft des Dings ist, dann braucht man das andere Ding nicht, damit die Beziehung existiert. Die Beziehung braucht aber das andere, man braucht mindestens zwei, damit es eine Beziehung gibt. Das ist ein kompliziertes Argument, und ich habe es stark vereinfacht. Aber der Punkt ist, dass du die Beziehungswirklichkeit nicht aus der Substanz heraus erhältst, aus dem Ding, das individuell und unabhängig existiert. Genauso wenig kann man die Dinge aus den Beziehungen heraushalten. Deshalb würde ich in Anlehnung an den Neuplatonismus argumentieren, dass es eine reine Bezüglichkeit gibt, die tiefer liegt als die Dinge und ihre Beziehungen, wie wir sie normalerweise verstehen. Dies ist verwandt mit den zen-buddhistischen Vorstellungen von Shunyata, der Leerheit aller Dinge, die jenseits und unterhalb aller möglichen Beziehungen und Dinge liegt.

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Die Ankunft des Heiligen

Der Kognitionswissenschaftler John Vervaeke beschäftigt sich intensiv mit der Sinnkrise, mit Weisheit und mit der Erneuerung unserer kulturellen Grundlagen aus der Wertschätzung des Heiligen heraus. Dabei sieht er den dialogischen Prozess des Forschens im Dialogos als eine Qualität dieser kulturellen Transformation. Wir sprachen mit ihm über diesen grund­legenden Wandel unseres Denkens und unseres Seins in der Welt.

evolve: Es gibt Menschen, Projekte, Gruppen und Gemeinschaften, die über eine Subjekt-Objekt-Weltanschauung hinausgehen und nach neuen Wegen suchen, um uns in das Heilige einzubetten, in die Nicht-Trennung, die die Grundlage dessen ist, was wir Emergent Interbeing nennen. In deiner Arbeit betonst du, dass vor den Dingen, die in Beziehung stehen, oder den Personen, die in Beziehung stehen, die Bezüglichkeit steht. Kannst du dies erläutern?

John Vervaeke: Lass mich dies zunächst historisch ansprechen, im Sinne der Geschichte bestimmter Ideen. Aristoteles führte die Idee ein, dass die Realität auf unabhängig voneinander existierenden Dingen beruht und dass sich daraus die Beziehungen ergeben. Wir im Westen folgten diesem ­aristotelischen Weg, der schließlich zu Descartes und seiner dualistischen Sicht der Wirklichkeit führte, die zwischen Geist und Materie trennt. Gleichzeitig hat es Versuche gegeben, eine alternative Sichtweise zu formulieren, wie im Neuplatonismus oder viel später bei Martin Heidegger. Wie der Philosoph James Filler hervorhebt, entstehen Beziehungen nicht aus den Dingen selbst, die individuell existieren. Denn wenn man behauptet, dass es Dinge gibt und die Beziehung eine Eigenschaft des Dings ist, dann braucht man das andere Ding nicht, damit die Beziehung existiert. Die Beziehung braucht aber das andere, man braucht mindestens zwei, damit es eine Beziehung gibt. Das ist ein kompliziertes Argument, und ich habe es stark vereinfacht. Aber der Punkt ist, dass du die Beziehungswirklichkeit nicht aus der Substanz heraus erhältst, aus dem Ding, das individuell und unabhängig existiert. Genauso wenig kann man die Dinge aus den Beziehungen heraushalten. Deshalb würde ich in Anlehnung an den Neuplatonismus argumentieren, dass es eine reine Bezüglichkeit gibt, die tiefer liegt als die Dinge und ihre Beziehungen, wie wir sie normalerweise verstehen. Dies ist verwandt mit den zen-buddhistischen Vorstellungen von Shunyata, der Leerheit aller Dinge, die jenseits und unterhalb aller möglichen Beziehungen und Dinge liegt.

Wir leben Ideen

e: Man kann keine Beziehung zu etwas herstellen, das als getrennt definiert ist oder sich selbst als getrennt definiert. Das ist eine Beschreibung der postmodernen Entfremdung und eine Quelle der Sinnkrise.

JV: Ja, es gibt einen direkten Zusammenhang. Was ich gerade gesagt habe, mag abstrakt klingen. Aber unsere Weltanschauungen bleiben nicht als abstrakte Ideen stehen. Sie fließen in die Art und Weise ein, wie wir uns in unserem Geist und Körper, unserer Kultur und unseren Beziehungen zu uns selbst, zu anderen Menschen und zur Welt einrichten. Das ist das Kernargument meiner Arbeit: Achte auf deine Weltanschauung.

»Ich erlebe mich selbst eher als dialogisches Wesen denn als eine getrennte Substanz.«

e: Es ist hilfreich zu erkennen, dass wir diese abstrakten Ideen verkörpern.

JV: Wir verkörpern sie vollständig. Ein Teil des neuplatonischen Arguments ist, dass Verstehbarkeit oder Information von Natur her aus Bezogenheit entsteht. Aber wenn man sagt, dass die Realität nicht durch Beziehung oder eine grundlegende Bezogenheit entsteht, dann verhindert man Verstehbarkeit und Information. Das ist die Welt, in der wir im Moment leben. Wir sehen vereinzelte Individuen, die vor Bildschirmen sitzen, auf denen die Informationen radikal von jeglichem Sinn für die Offenlegung dessen, was in der Realität wirklich vor sich geht, abgekoppelt sind. Deshalb müssen wir die grundlegenden Voraussetzungen unseres Denkens infrage stellen, um Zugang zu dieser Wahrheit zu bekommen, die nicht nur verbal, sondern für uns wahrnehmbar anwesend ist. Es gibt eine ursprüngliche Voraussetzung für die Beziehung zwischen Verstehbarkeit und Sein. Wir erkennen, dass alle unsere Urteile über die Wirklichkeit von dieser Grundvoraussetzung abhängen, dass wir nämlich Vergleiche zwischen Illusion und Wirklichkeit, Betrug und Echtheit, Lüge und Wahrheit anstellen können. All dies sind Variationen desselben vergleichenden Ansatzes. Aber was setzt du voraus, wenn du eines dieser vergleichenden Urteile fällst, die einen Versuch darstellen, die Realität zu erfassen? Du setzt eine ursprüngliche Verstehbarkeit voraus, die es dir ermöglicht, zu sagen, das ist real und das ist eine Illusion. Das bedeutet, dass du zusätzlich zur Realität einer bestimmten Tatsache auch das hast, was aller möglichen Erkenntnis zugrunde liegt. Lass mich eine Analogie geben. Bei allem, was ich dir sagen möchte, müssen wir eine gemeinsame Grammatik haben. Wir müssen nicht die gleichen Dinge sagen oder die gleichen Sätze glauben. Aber wir müssen dieselbe Grammatik teilen, weil sie die Verständigung zwischen uns möglich macht. ­Woran auch immer wir in unseren jeweiligen Sprechakten gebunden sind, sind wir beide doch stärker der Grammatik verpflichtet, die wir teilen müssen. In dieser Analogie ist die Grundvoraussetzung die Grammatik der Erkenntnis, und die Grammatik der Realität muss ebenfalls zwischen uns geteilt werden, damit wir Aussagen über sie machen können.

e: Das bezieht sich auf die Sprache selbst, nicht wahr?

JV: Ja. Es ist die Idee, dass Sprache und alle anderen Formen der Kommunikation oder Offenlegung von Sinngebung unsere Fähigkeit zu wissen und zu sein als Grundlage voraussetzen. Verstehbarkeit und Sein sind logisch nicht eins, weil man nicht außerhalb von ihnen stehen und sie als identisch erkennen kann. Das würde bedeuten, dass man sie in Kategorien einordnen und sehen könnte, dass sie gleich sind.

Es gibt keinen Blick von außerhalb

e: Nun, das bedeutet auch, dass du dich in der Trennung zwischen Subjekt und Objekt befindest?

JV: Das ist genau richtig. Es gibt keinen Ort, an dem man aussteigen kann. Der Trick besteht also darin, zu erkennen, dass es etwas Tieferes als Subjektivität und Objektivität geben muss, damit Sinn, Relevanz und Wahrheit wirken können, Subjektivität und Objektivität miteinander zu verbinden. Man steht nicht außerhalb und sieht mit göttlichem Blick nach unten. Denn wenn du das könntest, wäre das die Korrespondenztheorie der Wahrheit: Es gibt das, was in meinem Kopf vor sich geht, und es gibt das, was in der Welt vor sich geht. Und ich überprüfe und sehe, ob sie übereinstimmen. Das bedeutet, dass ich außerhalb dieser Beziehung stehen und auf die beiden verweisen kann. Das ist unmöglich. Man muss etwas verstehen, das tiefer liegt als die Subjekt-Objekt-Trennung, ohne zu denken, dass man eine Art Superobjektivität erreicht hat. Und das ist es, was ich mit der reinen Bezüglichkeit ansprechen möchte.

e: Reine Bezüglichkeit ist tiefer, weil sie nicht von außen nach innen gerichtet ist.

JV: Ja, das Tiefergehende ist keine Art von Flucht. Wir versuchen, die Zwei-Welten-Mythologie von Subjekt und Objekt infrage zu stellen, denn das ist es, was uns letztlich trennt und entfremdet.

»Das Heilige verwirklicht sich im Erkennen jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung.«

e: Ich stelle in unserer Arbeit fest, dass wir versuchen, eine Form von Einbettung zu finden. Es gibt ein Sein, das in einen größeren Sinn eingebettet ist, das nicht von diesem Sein getrennt ist und sich doch von ihm unterscheidet.

JV: Du hast es ganz genau formuliert. Man merkt, wie du mit dem kämpfst, was ­Aristoteles als selbstverständlich ansah: dass die Subjekt-Prädikat-Natur der Sprache eine eigene Sicht der Welt offenbart. Hier können wir zurücktreten und uns ansehen, was die Versprachlichung möglich macht. Du erkennst, dass die Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache etwas viel Ursprünglicheres voraussetzt, damit sie funktionieren kann. Und genau darauf müssen wir zurückkommen, wenn wir einen Sinn für das Heilige bekommen wollen, ohne wieder in eine Trennung zu verfallen, in der das Heilige entweder immanent oder völlig transzendent ist. Beides ist problematisch falsch. Du hast gerade versucht, eine Transzendenz zu formulieren, die die Immanenz nie verlässt, oder eine Immanenz, die die Transzendenz nie reduziert. Wir verweisen auf etwas, das darunter liegt und aus dem sowohl die Beziehungen als auch die Dinge in einer ko-abhängigen Weise hervorgehen.

Dialogos

e: Ich frage mich, ob diese Dualität der Heiligkeit von Immanenz und Transzendenz eine menschliche Reaktion auf das Heilige hervorruft. Die menschliche Antwort ist eine tiefe, nicht ausdrückbare Sinnhaftigkeit, Ehrfurcht und Verehrung. Es zeigt sich ein zusammenhängendes Ganzes, das eine verkörperte Erfahrung von Gemeinschaft und synergetischem Zusammenwirken verschiedener Perspektiven in einem überraschenden Ganzen ist. Und diese Emergenz wird kollektiv als eine ehrfurchtgebietende Öffnung erlebt. Wir wechseln oft spielerisch zwischen dem englischen Wort emergence und dem deutschen Wort Ereignis, in dem wir den Dialog sich ereignen lassen, in dem das gemeinsame Forschen zu sich selbst findet und seinen Platz im größeren Ganzen findet. Und als Ergebnis fühlt man sich von etwas berührt, das größer ist als man selbst.

JV: Das ist eines der wesentlichen Merkmale des Dialogos, im Gegensatz zum reinen Dialog. Man kann dialektische Gesprächsformen praktizieren, aber der Logos kann nur von selbst auftauchen. Es gibt einen Sinn für ein zusammenhängendes Ganzes, aber es ist keine logische Zusammenführung. Und es ist sicherlich nicht nur ein begrifflicher Zusammenhang, es ist eine ursprüngliche Gründung. Unter all den spezifischeren Bedeutungen war sie schon immer da. Es gibt das lateinische Wort inventio. Es bedeutet sowohl »entdecken« als auch »schaffen«. Man spürt etwas, aber dann merkt man, dass es schon immer da war. Plato nennt es Anamnesis. Ich entdecke es, aber ich erinnere mich gleichzeitig daran. Aus diesem dialogischen Zusammenhang gehen alle spezifischeren theoretischen, radikalen, logischen, begrifflichen und erklärenden Zusammenhänge hervor. Das ist der Raum, der sie lebendig macht und in dem sie sich bewegen, Gestalt annehmen und zueinander in Beziehung treten können.

e: Und es wird als ein Raum erlebt. Die Leute sagen, dass sich der Raum geöffnet hat.

JV: Beachte, worauf sie mit dem Raum hinauswollen. Der Raum ist reine Bezüglichkeit, denn er macht jede Bewegung möglich. Er ist tiefer als ein Ding und eine Beziehung. Er macht alle Beziehungen und alle Dinge möglich und alle Bewegungen darin. Und dann verinnerlichen wir diese Grammatik und bewegen uns im Raum der Gedanken. Manche Ideen sind näher an anderen. Ich muss durch diese Idee hindurchgehen, um zu jener Idee zu gelangen. Ich muss diese Idee abstrahieren. Diese Idee liegt tiefer als jene. Was mache ich hier eigentlich? Ich bewege mich durch diesen Gedankenraum auf die gleiche Weise, wie ich mich durch den Raum der physischen Welt bewege. Es gibt eine tiefere Grammatik, die sie gemeinsam haben. Und darauf weisen die Leute hin: Moment, dieses zusammenhängende Ganze ist gleichzeitig der verbindende Zusammenhang der Erfahrungswelt. Es ist auch ein innerer Zusammenhang, den ich erfahre. Das ist die Grundlage von allem.

Der Prozess des Lebens

e: Die gleiche Erfahrung können wir gemeinsam mit anderen Menschen machen. Dadurch entstehen ganz neue Möglichkeiten.

JV: Ja, in dieser reinen Bezüglichkeit bewegen wir uns durch die Perspektiven. Es gibt eine durchgehende Linie durch die verschiedenen Perspektiven, die selbst keine Perspektive ist. Wie können die Perspektiven zusammenhängen? Es gibt einen Bedeutungsraum, in dem Perspektiven entstehen, voneinander unterschieden werden, miteinander interagieren können und durch den man sich von einer Perspektive zur anderen bewegen kann. Dieser Weg führt uns so nah wie möglich an die Wirklichkeit heran.

e: Und die Erfahrung des Lebens wird unmittelbarer.

JV: Ja, so ist das Leben. Es ist Bios und Zoe. Es ist biologisches Leben. Aber es ist auch kognitives Leben und gemeinschaftliches Leben.

e: Vielleicht ist Eros ein besseres Wort, um es zu beschreiben. Es ist ein grundlegender Lebensimpuls und nicht nur das biologische Leben.

JV: Ich glaube, es gibt eine tiefe Kontinuität zwischen unserer Wahrnehmung und unserer Biologie. Wenn wir diese dialogischen Praktiken anwenden, erkennen wir, dass es eine tiefere Kontinuität zwischen der Biologie und der Art und Weise gibt, wie sich die Realität entfaltet. Eine tiefe Kontinuität geht bis unter unsere Biologie, aber sie reicht auch über unsere Kognition hinaus. Wir können das Leben als Metapher verwenden: Ich fühle mich verbunden, ich entfalte mich. Manche Menschen werden Licht-Metaphern verwenden: Die Dinge leuchten jetzt, sie werden klar.

e: Und Liebes-Metaphern: Wir fühlen uns zutiefst verbunden.

JV: Ja. Und Metaphern des Logos: Alles kommt zusammen und hängt zusammen und gehört zusammen. Ich kann jetzt erkennen, wie die Dinge zusammenpassen und wie ich hineinpasse. Alle diese Ausdrucksformen sind wichtig. Aber es gibt eine tiefere Linie, die sich durch sie alle hindurchzieht und auf den Grund verweist, den wir immer wieder versuchen auszudrücken. Er ist gleichzeitig immanent, weil er im Innersten unserer Erkenntnis und unseres Lebens liegt. Gleichzeitig ist er aber auch transzendent, denn keine Perspektive, keine Sprache kann ihn erfassen.

e: Deshalb bezeichne ich es auch als Emergenz.

JV: Die Ausdrücke der Emergenz und Emanation gehen auf die Neuplatoniker zurück. In der Emergenz wachsen die Dinge nach oben. Sie kommen in die Einheit. Sie organisieren sich selbst. Aber es gibt auch eine Emanation: Es besteht schon ein Feld von Möglichkeiten, die wir verwirklichen können.

Ein Feld der Möglichkeiten

e: Wenn wir unsere Praxis in Gruppen durchführen, erleben wir ein kollektives Potenzial oder ein Potenzialfeld. Dieses gemeinsame Forschen in der Öffnung des Raumes schafft ein Gefühl der unendlichen Möglichkeiten.

JV: Das ist es. Man hat das Gefühl, dass die Realität eine unerschöpfliche Quelle der Erkenntnis, der Innovation und der Verstehbarkeit ist. Dieser Prozess ereignet sich von unten nach oben, entsteht aber auch von oben nach unten. Es emergiert etwas Neues, gleichzeitig vergegenwärtigen wir etwas, was schon da war. Emergenz, das Neu-Entstehende, und die Emanation, das Schon-immer-Anwesende, durchdringen sich gegenseitig auf eine tiefe Weise.

e: Ich finde den Begriff »kausale Emergenz« interessant, der in einigen Bereichen der Biologie verwendet wird.

JV: Der Begriff kausale Emergenz stammt aus der Arbeit des Biologen Michael Levin. Er bedeutet, dass die oberen Ebenen kausale Kräfte erhalten, die die unteren Ebenen nicht haben. Das bedeutet, dass sie nicht nur von unten nach oben emergieren, sondern dass sie auch von oben nach unten kausal wirken. Es ist gleichzeitig bottom up und top down. Damit sind wir wieder bei dem Punkt angelangt, den wir vorhin angesprochen haben, dass nämlich die Grammatik der Realität, diese Durchdringung von unten nach oben und von oben nach unten, auch die Grammatik der Erkenntnis ist. Wenn du einen Satz liest, siehst du dir die einzelnen Buchstaben an, von unten nach oben – aus dem Einzelnen erfasst du das Ganze. Aber man liest auch von oben nach unten, denn das Gehirn erfasst schnell, was das ganze Wort sein könnte, um die Buchstaben zu verbinden. Während die Buchstaben vereindeutigt werden, um zu klären, worum es sich bei den Wörtern handelt, geschieht dies gleichzeitig von unten nach oben und von oben nach unten. Dies ist der wachsende Konsens in der Psychologie, Philosophie und Kognitionswissenschaft: Kognition ist von Natur aus dynamisch, von unten nach oben und von oben nach unten, und zwar in einer Art und Weise, die sich gegenseitig durchdringt. Die Grammatik des Geistes und die Grammatik der Wirklichkeit beruhen auf der gleichen Grammatik.

Jenseits der Subjekt-Objekt-­Trennung

e: Viele Denker haben über die Gefahr der Subjekt-Objekt-Trennung gesprochen. Viele von uns spüren, dass wir irgendwie über die Subjekt-Objekt-Trennung hinauskommen müssen. Hat sich deine Erfahrung, in der Welt zu sein, durch die Beschäftigung mit dieser Frage verändert?

JV: Meine Erfahrung mit der Welt hat mir geholfen, zu dieser Erkenntnis zu kommen. Und dann verändert diese Erkenntnis meine Erfahrung der Welt. Das ist genau das, worüber wir hier sprechen. Wir müssen uns daran erinnern, dass die Neuplatoniker die Subjekt-Objekt-Trennung buchstäblich ein Jahrtausend lang kritisiert haben. Natürlich sollten wir nicht einfach blind akzeptieren, was sie sagten, aber es gibt dort reiche Quellen. Ich bin darin eingetaucht und nenne mich selbst einen Zen-Neuplatoniker. Ich komme immer wieder darauf zurück, wie Zen die Impulse von Daoismus, Buddhismus und Shinto auf kraftvolle Weise zusammenbringt. Ich erinnere mich, wie ich Spinoza las und all diese begrifflichen Argumente zusammenhielt. Das ist wirklich herausfordernd. Und dann gab es eine Öffnung, als ich plötzlich die Welt spinozistisch sah. Ich sah die Welt so, wie Spinoza sie sah. Ich habe nicht mehr seine Gedanken gedacht, sondern es ging über die Sprache hinaus. Die Geometrie des Raumes, in dem ich theoretische Überlegungen anstellen kann, hat sich für mich verändert. Das ermöglicht es mir, theoretische und konzeptionelle Arbeit zu leisten, die in meine Wissenschaft zurückfließt, die wiederum in die Überarbeitung, Verbesserung und Kultivierung meiner Praktiken einfließt, die sich dann in der Welt fortsetzen. All das öffnet sich, und ich lebe jetzt auf eine tiefgreifende Weise anders, innerhalb, außerhalb, dazwischen. Ich erlebe mich selbst eher als dialogisches Wesen denn als eine getrennte, monadische, monologische Substanz. Ich erlebe die Heiligkeit dessen, worüber wir sprechen, in der Erkenntnis des Einen, das hinter, unter, zwischen und innerhalb der Grammatik des Geistes und der Grammatik der Welt ist, und der Grammatik, wie sie miteinander verwoben sind. Und das Merkmal dieser Grammatik ist die Gleichzeitigkeit von Emergenz und Emanation. Ich erlebe das immer gegenwärtiger, fruchtbarer: eben als das Heilige. Und ich sehe es zunehmend überall, wo ich hinschaue. Das, worüber du und Thomas Steininger sprecht, ist das, was ich mit der Ankunft des Heiligen meine. Das Heilige nimmt Gestalt an in dieser Weise der Erkenntnis. Es verwirklicht sich darin, dass wir erfahren, wie wir jenseits der Subjekt-Objekt-Trennung erkennen können.

e: Wenn du über die Multidimensionalität der Essenz, des Seins, der Gegenwart sprichst, spüre ich einen Hauch des Heiligen.

JV: Danke, das ist es, was ich am meisten vermitteln wollte. Ich fühle mich zutiefst zu der nächsten Aufgabe berufen. Ich nenne es die Pilgerreise auf der philosophischen Seidenstraße. Meine Berufung besteht da­rin, so verantwortungsbewusst wie möglich zu sein und mich selbst so weit wie möglich zu einem Instrument zu machen. Nicht als Mittelpunkt, sondern als Instrument, um die Ankunft des Heiligen zu ermöglichen. Du fragst mich, wie mich das verändert hat. Das ist jetzt in mir ein tiefer Glaube, wobei Glaube nicht bedeutet, Dinge ohne Beweise zu behaupten. Es bedeutet, in der tiefstmöglichen Verwurzelung zu leben. Und das hat mich verändert.

Eine tiefere Gründung

e: Wunderbar. Und in dem, was du gesagt hast, spüre ich die Gründung der Heiligkeit, die zur Gründung der Kultur wird. Kultur ist das Intersubjektive oder der Raum dazwischen.

JV: Ich denke, es gibt einen Grund, warum es etymologische Beziehungen zwischen Kultur und Kult und Kultivieren gibt. Es gibt eine tiefe Kontinuität zwischen Kultur und dem Heiligen. Aber ich bin kein politischer oder ideologischer Reduktionist. Ich reduziere das Heilige nicht auf das Kulturelle. Aber ich sage, dass die Kultur in dem Raum verankert ist und lebt, den das Heilige am Leben erhält.

e: In der westlichen modernen und postmodernen Kultur hat es einen tiefen Einbruch gegeben, weil uns diese tiefere Gründung weggebrochen ist.

JV: Ja. Weil wir dachten, wir könnten das Transzendente abhacken, weil die Trans­zendenz der Sündenbock ist, der irgendwie für alles verantwortlich ist, was falsch läuft. Wir haben nicht erkannt, dass es um die Durchdringung von Emanation und Emergenz geht, von unten nach oben und von oben nach unten. Wenn man die Spitze abhackt, fällt auch der Boden heraus. Und das ist ein Problem, mit dem wir gerade konfrontiert sind.

e: Ich finde es sehr spannend, dass sich wissenschaftliche Forschung und spirituelles Forschen, Bewusstseinsarbeit oder Dialogos an den Rändern verbinden. Es gibt Wir-Raum-Arbeit, Dialogarbeit, Dialogos, Authentic Relating, Circling, Presencing oder unsere Arbeit mit dem Emergent Interbeing. Diese Praxisformen scheinen einem Impuls im menschlichen System zu entspringen, der uns auf die eine oder andere Weise wieder in die Bezogenheit einbindet. Und es gibt eine Beziehung zwischen diesen Praktiken und der wissenschaftlichen Forschung.

JV: Ja, in einigen Aspekten der Wissenschaft. Ich bin kein isolierter Einzelgänger, aber ich bin auch kein prototypischer Vertreter. Es gibt auch andere Leute, die über die Ankunft des Heiligen sprechen. Jeder von ihnen ist wie ein Zugang zum Interbeing. Sie sind wie verschiedene Teile einer Sinfonie. Sie spielen alle ihre eigene Melodie, aber sie spielen auch miteinander und gehen miteinander in Resonanz. Dies ist eines der deutlichen Anzeichen für die Ankunft des Heiligen. Warum geschieht es? Warum zeigt es sich nicht in einer einzigen Gruppe, an einem einzigen Ort? Es ist von Natur aus kreativ und komplex. Es taucht in verschiedenen Gruppen auf, aber sie integrieren sich auch. Sowohl die Tatsache, dass es entsteht, als auch die Art und Weise, wie es entsteht, ist etwas, das wir zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist die Ankunft des Heiligen.

e: Das ist im Moment das Wichtigste in unserer Praxis: zu erkennen, dass es eine Intelligenz, eine gemeinsame Richtung, eine synergetische Integrationsfähigkeit gibt, die die Unterschiede nicht verringert, sondern den Einzelnen dazu bringt, sich gesehen zu fühlen, sich mehr zuhause zu fühlen und mehr er selbst zu sein. Und dennoch ist die jeweilige Perspektive in ein komplexes und dynamisches Ganzes integriert, und die Intelligenz dieser Integration scheint aus dem Feld selbst zu kommen. Es lebt nicht in uns als Individuen. Und die Erfahrung ist, dass man etwas gelernt hat oder etwas verstanden hat, aber man besitzt es nicht. Auch wenn man es auf einer verkörperten, eingebetteten Ebene erkennt, aber nicht allein individuell.

JV: Weil es letztendlich nicht dein Eigentum sein wird. Es gab eine Emanation von oben nach unten und jetzt gibt es eine Resonanz von unten nach oben. Aber sie kann nicht in dir bleiben, weil die Resonanz von unten nach oben untrennbar mit der Emanation von oben nach unten verbunden ist. Du kannst sie nicht besitzen. Du kannst nur an ihr teilhaben.

e: Und es verändert dich, weil du dadurch in gewisser Weise weniger isoliert bist.

JV: Ganz genau. Ohne dich als Person zu zerstören. Denn wir wollen nicht wieder in irgendeine Art von Flucht oder Getrenntheit verfallen. Wir müssen tiefgründig über Weisheit sprechen, nicht als eine Art, sie nur als geheimnisvolle Theorie zu sehen. Weisheit als die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen. Genau darüber haben wir gesprochen: die Beziehungsfähigkeit, die uns ermöglicht und befähigt, die Wirklichkeit zu erkennen und in dieser Erkenntnis erkannt zu werden. Das ist Weisheit. Und letztlich müssen wir über das Heilige sprechen, wenn wir über Weisheit sprechen wollen.

e: Das ermöglicht auch eine Heilung unserer Entfremdung.

JV: Ja. Aber die Heilung ist nicht nur unsere Heilung. Wir heilen nicht nur uns selbst psychologisch, wir heilen auch unsere Weltsicht. Wir heilen die Art und Weise, in der wir, unsere Kultur und unsere Weltsicht zu Trägern des Heiligen werden können, Trägern dessen, was am wirklichsten ist. Und das lässt sich nicht einfach in eine unserer bestehenden Kategorien einordnen. Es geht nicht nur um Therapie. Es ist nicht nur Bildung. Es ist nicht nur das Standardmodell der Aufklärung oder ein bestimmtes religiöses Verhalten. Wir ringen hier oft um die Sprache.

e: Und vielleicht wäre es gut, wenn wir das auch weiterhin tun würden.

JV: Das stimmt, das sind die Geburtswehen, die eine Geburt mit sich bringt.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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