Politik der ernsthaften Ironie

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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

April 30, 2024

Mit:
Hanzi Freinacht
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AUSGABE:
Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Über das Buch »Gesellschaft des Zuhörens« von Hanzi Freinacht

Jede Zeit hat ihr Buch, das seiner Zeit voraus ist. Es wird auf dem Campus im Geheimen weitergereicht, Studierende lesen es im privaten Kreis, Dozierende verpönen es. Kurz: ein Buch, das sich den Konventionen widersetzt und ein neues Denken wagt.

Zwanzig Jahre habe ich nach meinem eigenen Studium darauf gewartet, dass irgendwann irgendjemand von der Uni kommt und mir von dem neusten heißen Scheiß berichtet. Aber es kam einfach nichts. Und dann war es plötzlich da: ein schrill grünes Buch in »Pulp Fiction«-mäßiger Aufmachung. Ein Kultbuch!

»The Listening Society« begründet nichts anderes als eine neue politische Ideologie: einen wagemutigen Entwurf einer Gesellschaft, in der Politik auf individuelle und kollektive Entwicklung setzt. Ein Buch, das sein Denken als epochal Neues, Moderne und Postmoderne Überwindendes begreift. Ein Buch, das intellektuell-postpubertären Funk verströmt und dessen gleichermaßen scheuer und narzisstischer Autor ­Hanzi ­Freinacht selbst einen Nietzsche verblassen lässt. Hanzi bezeichnet sein Denken als politischen Metamodernismus. Und bei ihm klingt das verdammt sexy!

»The Listening Society« war für mich eine echte Lese-Erleuchtung und Theorie-Porn vom Feinsten! Das philosophische Äquivalent eines Crossover Sommerfestivals mit Heavy Metal Balladen, Trash Punk und esoterischem Tribal-Techno. Und spätabends am Lagerfeuer Psychedelika mit Akkordeonmusik! Jetzt ist das Buch endlich als »Gesellschaft des Zuhörens« von Sabine Manke ins Deutsche übersetzt und im Büchner Verlag herausgegeben worden. Es ist ein Lichtblick, dass das 496-Seiten-Werk für alle deutschsprachigen Leserinnen zugänglich geworden ist, auch wenn der Verlag das ikonische Original-­cover seinem generischen Reihenlayout unterworfen hat.

»Das Programm metamoderner Politik ist die Rekonstruktion einer zusammenhaltenden Gesellschaft.«

Als Leser geht man ab Seite 1 eine seltsam ko-dependente Beziehung zu Hanzi ein. Man wird als ignoranter Lese-­Wurm im Staub zerdrückt, muss sich als Bronze-, Silber- oder Goldrezipient outen, erfährt nach der kathartischen Unterwerfung aber ungeahnte Selbsterhöhung: als metamoderne Aristokraten oder Mitglieder der Tripple-H-Gruppierung aus Hackern, Hipstern und Hippies. In den Kreis der Metamodernen aufgenommen, ist man sich endlich Hanzis Liebe sicher und darf sich selbst als Avantgarde der kommenden Gesellschaft des Zuhörens sehen.

Rekapitulieren wir kurz die Ideengeschichte zur Einordnung des Buches. In der Moderne schufen wir die großen Erzählungen und Ideologien, die uns fast in den kollektiven Untergang gerissen hätten (oder es noch tun werden): Kommunismus, Faschismus, Neo-Liberalismus und Kapitalismus. Die Ernsthaftigkeit und der totale Geltungsanspruch der großen modernen Erzählungen hat uns alle in ideologische Zombiearmeen verwandelt. Die Postmoderne erkannte diese Toxizität der großen Narrative und dekonstruierte sie, bis nur noch Leere, Depression und Zynismus blieben. Das Schöne, Wahre und Gute? Landete auf dem Müllhaufen der Geschichte und war was für ganz schlichte Gemüter. Hanzi dagegen will wieder eine große Erzählung wagen, die sich gleichermaßen durch Ironie und vielleicht auch etwas Yoga vorm Totalitarismus bewahrt.

Die politische Analyse ist schnell zusammengefasst: In progressiven Ländern entsteht aufgrund der geordneten, wohlständigen Verhältnisse eine postmaterialistische Grundhaltung, die uns sanfter, einfühlsamer und gerechter werden lässt. Im Grunde werden wir alle zu grünen Sozialdemokraten. Klassen? Rechts-links? Vergangenheit! Wir sind zum amorphen Gesellschaftsklumpen mutiert. Gefangen zwischen Konsum, Burning Man und Tantragruppe ko-kreieren wir eine nachhaltige Gesellschaft. Im digitalisierten, globalisierten, transnationalen und postindustriellen Zeitalter gewinnt nur noch, wer kulturelles Kapital zu schaffen weiß.

Politische Problematiken sind gleichzeitig komplexer, diffuser, globaler geworden. Die Antworten können nur gemeinsam und dementsprechend nur vage und gemittelt ausfallen. Lösungen, basierend auf eindeutigen ideologischen Antworten, funktionieren nicht mehr. Das reißt uns emotional nicht vom Hocker, ermöglicht uns aber ungeahnte technologische Durchbrüche und Innovationen in allen Bereichen. Niemand kann ermessen, wie wir die Welt in 5, 10 oder 20 Jahren gestaltet haben werden. Gleichzeitig brechen multiple Krisen über uns herein, deren Ausgang und Überleben ungewiss ist. Die Zukunft transformiert sich in rasender Geschwindigkeit gleichsam unter unseren kollektiven Ärschen, so dass wir nur noch auf Metaebenen so etwas wie Überblick schaffen können: »Wir brauchen keine Kochbücher, sondern grundlegende Ideen, wie man Kochbücher erstellt. Wir brauchen Geschichten über Geschichten. Wir brauchen Meta-Narrative. Politik hat sich für immer verändert.«

Was können wir unter diesen Bedingungen tun? Wir können die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialpsychologischen Voraussetzungen dafür generieren, dass psychologisches Wohlergehen und Wachstum möglich werden. Wir müssen zu einer »äußerst sozialen, äußerst liberalen und äußerst grünen Gesellschaft« werden, die ergebnisoffene Prozesse nicht-linearer Politik organisiert. Und Glück gestaltet! Ganz genau: Glück! »Metamoderne Politik zielt darauf ab, allen ein psychologisch tief empfundenes Sicherheitsgefühl zu geben, damit wir ein authentisches Leben gemäß unseren Wünschen und Fähigkeiten führen können.« Das geht nur, wenn wir sozialpsychologische und kulturelle Entwicklung gesellschaftlich ermöglichen.

Und nun schwenkt Hanzi ein auf ein Meta-Narrativ von Entwicklungstheorien in nahezu jedem denkbaren Bereich. Hier ist der Autor Kind inte­graler Theorien, insbesondere Ken ­Wilbers. Entwicklungstheorien und Stufenmodelle können durchaus einen intellektuellen Reiz entwickeln, und Hanzi hält uns ein feuriges Plädoyer für die Betrachtung der Welt in diesen hierarchischen Modellen. Der Problematik dieser Ansätze (die er insbesondere in der Be- und Abwertung von Menschen sieht) setzt er neun Good-Practice-Prinzipien entgegen. Um uns daraufhin durch diverse Stufenmodelle zu coachen: Einige prominente Modelle werden rezipiert, andere modelliert und wieder andere vor unseren lesenden Augen entwickelt. Es geht um kognitive Entwicklung, Lernentwicklung, Stufen emotionaler Zustände oder existenzieller Tiefe. Die These ist: Wenn wir uns individuell und gesellschaftlich auf all diesen Skalen entwickeln und Politik sich diese Entwicklung zur originären Aufgabe macht, nähern wir uns einer glücklicheren und besseren Gesellschaft. Es ist unsere Aufgabe, die qualitative Entwicklung der Menschen zu fördern und eine neue Gesellschaft zu erschaffen, in der wir alle vorhergehenden Entwicklungs­stufen integrieren. Menschen mit traditionellen, modernen und postmodernen Weltanschauungen ermöglichen wir damit ein harmonisches Leben. Das Programm metamoderner Politik ist die Rekonstruktion einer zusammenhaltenden und sich zuhörenden Gesellschaft durch eine psychisch und spirituell aufgeklärte Politik im Sinne einer Weiterentwicklung der Demokratie.

»Gesellschaft des Zuhörens« ist ein grundoptimistisches und hoffnungsvolles Buch. Es wurde vor Corona und dem Ukraine-Krieg geschrieben. In einer Zeit, in der Trump und der Brexit noch als Ausnahme der generellen Entwicklung gelten konnten. Heute müsste die Analyse sicherlich integrieren, dass wir noch nicht ganz am Boden der multiplen Krisen angekommen sind und sich eine Gesellschaft des Zuhörens wahrscheinlich nicht in linearer Kontinuität und ohne massive Disruptionen nahtlos aus den westlich progressiven Demokratien entwickeln wird.

Fragen bleiben: Zum einen greift Hanzis Verteidigung der Stufentheorien die postmoderne Kritik an ihnen nicht wirklich auf, integriert oder transformiert sie nicht. Postmoderne sehen Entwicklungstheorien als westlich hegemoniale Fortschrittserzählungen, die die Diversität menschlicher Entfaltungsoptionen und anderer kultureller Sinndeutungen unterminieren. Wie Hanzi Emergenz, Innovationen und das Entstehen neuer Paradigmen denkt, bleibt offen. Zum anderen beschreibt Hanzi die Grundhaltung der Metamoderne als ernsthaft ironisch. Das ist nicht unbedingt neu. Schon Richard Rorty schuf seine liberale Ironikerin als Gegengift zum totalitären Denken. Doch ist die Ironie nur Stilmittel oder ist sie Selbstironie zur Evaluation der inneren Totalität einer neuen »Theory of Everything«? Ist die Gesellschaft des Zuhörens am Ende ein hermetisches System oder kann sie sich selbst verunernsten? Und am Ende bleibt der Beweis aus, ob die Metamoderne die Moderne überwindet oder eine späte Spielart der Moderne ist. Der ontologische oder gar paradigmatische Durchbruch wird vertagt auf folgende Bücher, die, wie »Nordic Ideology«, der zweite Band von Hanzi, hoffentlich auch bald übersetzt und geschrieben werden.

Klar ist aber: »Gesellschaft des Zuhörens« ist schon jetzt ein Klassiker und Standardwerk der politischen Metamoderne. Wer den besten politischen Theorie-Gig des Jahrzehnts nicht verpassen will, sollte sich jetzt sein 496-Seiten-Ticket.

Gesellschaft des Zuhörens
Auf dem Weg in die Metamoderne
von Hanzi Freinacht. Erschienen im Büchner Verlag, Marburg 496 Seiten, 28,00 €

Author:
Dr. Andreas Weber
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