Eine ganzheitliche Biologie
Philip Ball hat als Wissenschaftsautor die neuesten Entdeckungen in der Biologie erforscht und in eine Zusammenschau gebracht. Darin zeigt sich ein neuer Blick auf die Wirkungsweise von Organismen und ihre Wechselwirkung mit den Genen. Die noch immer weit verbreitete Metapher einer Maschine greift hier zu kurz.
evolve: Wo zeigen sich in der Biologie Ihrer Ansicht nach neue Erkenntnisse?
Philip Ball: Ich sehe ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir das Leben wieder in den Mittelpunkt der Biologie stellen müssen. Sobald man anfängt, das Leben lediglich im Sinne der Funktionsweise und Interaktion der Moleküle zu verstehen, hat man das Leben selbst aus dem Blick verloren. In einem Protein oder in einem DNA-Strang gibt es kein Leben. Beim Leben handelt es sich um eine Art von Materie, die sich qualitativ von unbelebter Materie, von einem Stein, von der Luft, vom Wasser unterscheidet. Es gibt etwas an lebenden Systemen, das immer noch zutiefst geheimnisvoll und unglaublich wunderbar ist. Und das muss im Zentrum der Biologie stehen.
Ich stelle auch fest, dass sich viele Biologen zunehmend auf den ganzen Organismus konzentrieren, anstatt zu glauben, dass wir alle Antworten auf der Ebene der Genetik finden werden. Wir versuchen den Organismus als Ganzes zu verstehen. Das beginnt auf der Ebene der Zelle, der kleinsten Einheit der Biologie, die nachweislich lebendig ist.
Organismus und Gene
e: Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins formulierte die Idee, dass die Biologie auf ein Verständnis der Genetik reduziert werden kann. Kern dieses Ansatzes war die Annahme, dass die Gene den Organismus antreiben und nicht eine Eigenschaft des Organismus selbst, seine Agency (Handlungsfähigkeit), das heißt, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, Probleme zu lösen und aktiv Einfluss zu nehmen.
PB: Die Position, die Richard Dawkins in »Das egoistische Gen« dargelegt hat, hat sich zu einer sehr dominanten Denkweise in der Biologie entwickelt. Sie stellt lebende Organismen als Maschinen dar, die durch Gene geschaffen werden. Es ist die Sichtweise der Evolutionsbiologen, die in diesem Kontext sinnvoll ist. Die Modelle, die verwendet werden, um zu verstehen, wie sich Genome im Laufe der Evolution verändern, betrachten nur Veränderungen in einer Population von Genen. Der Organismus ist dann nur ein Mittel, damit sich die Gene kopieren können. In dieser Idee von egoistischen Genen gehen die verwendeten mathematischen Modelle der Frage nach, wie sich die Verteilung von Genvarianten in einer Population von Organismen im Laufe der Zeit entwickelt. Das trifft aber nicht den Kern dessen, was ein Lebewesen ist.
e: Wie können wir zu dieser Essenz gelangen?
PB: Sobald wir im Detail erkennen, was in der Zelle vor sich geht, lässt sich nur schwer das Bild aufrechterhalten, dass alles von den Genen gesteuert wird. Wir sehen stattdessen, dass die lebende Zelle oder der gesamte Organismus die Wirkungsweise seines Genoms kontrolliert. Die Informationen, die vom gesamten Organismus kommen, nehmen Einfluss darauf, welche Gene verwendet werden und was aus den Genen entsteht. Diese Informationen beeinflussen die Funktionsweise des Genoms. Solche Top-down-Informationen, die von einer komplexeren auf eine weniger komplexe Ebene wirken, scheinen für das Verständnis der Molekularbiologie in Bezug auf einzelne Moleküle, Gene und Proteine zentral zu sein.
»Wir müssen das Leben wieder in den Mittelpunkt der Biologie stellen.«
e: Das bedeutet, dass die Gene durch die darüber liegende Ebene reguliert werden?
PB: Es gibt eine ganze Reihe von Ebenen. Es gibt Informationen, die von den Zellen kommen, die eine bestimmte Zelle umgeben. Es könnte zum Beispiel ein Signalmolekül die Zelloberfläche erreichen und entscheidende Informationen weitergeben, die bestimmen, was mit dem Genom dieser Zelle geschieht. Einige dieser Informationen befinden sich auf der Ebene des gesamten Gewebes. Nehmen wir beispielsweise bestimmte Gene, die Proteinmoleküle kodieren, die für unsere Biochemie von zentraler Bedeutung sind. Aber welches Protein von einem bestimmten Gen gebildet wird, hängt in einigen Fällen davon ab, um welche Art von Gewebe es sich handelt. Es ist nicht nur das Gen, das ein bestimmtes Protein kodiert; wie diese Information in ein Protein umgewandelt wird, hängt wiederum vom jeweiligen Gewebe ab. Die Aktivität des Genoms wird auch vom gesamten Organismus beeinflusst, denn dieser bewegt sich, interagiert mit der Umwelt und trifft Entscheidungen. Dadurch bestimmt er einige der Umweltsignale, die dann bis hinunter zum Zustand des Genoms zurückfließen. Das Ganze ist also ein offener Informationsprozess zwischen allen Ebenen, vom Gen über die Zelle und das Gewebe bis hin zum Organismus und darüber hinaus. Das gesamte Ökosystem ist ebenfalls Teil dieses Prozesses.
Agency: Die Fähigkeit zu handeln
e: Sie sagen also, dass die Genexpression oder die Entscheidung, welche Gene ein- und ausgeschaltet werden, auf zellulärer Ebene stattfindet, aber von Informationen abhängt, die von außerhalb der Zelle kommen.
PB: Ja. Wir wissen seit den 1960er-Jahren, dass Gene reguliert werden und dass bestimmte Gene ein- und ausgeschaltet werden können. Und das muss in einem Organismus wie dem unsrigen der Fall sein, denn jede einzelne unserer Zellen hat im Grunde genommen dasselbe Genom. Aber sie tut nicht dasselbe, denn unsere Herzmuskelzellen unterscheiden sich von unseren Hautzellen oder von unseren knochenbildenden Zellen. Die Entscheidungen darüber, welche Art von Zelle sich entwickeln wird, werden während der Entwicklung und im Laufe unseres Lebens auf der Grundlage von kontextuellen Informationen getroffen. Welche Gene jede unserer Zellen nutzt und welche stillgelegt werden, sind Entscheidungen, die die Zelle auf der Grundlage ihres unmittelbaren Kontexts im Körper getroffen hat, aber auch auf der Grundlage von Informationen aus der Umwelt, die von Moment zu Moment einfließen. Wir müssen diese Kontextabhängigkeit anerkennen, wenn wir darüber nachdenken, wie das Leben funktioniert.
e: Sprechen Sie deshalb von einer Handlungsfähigkeit oder Eigenständigkeit auf allen Ebenen?
PB: Die Entscheidung der Zelle, wie sie ihr Genom nutzen will, trägt zu ihrer Handlungsfähigkeit bei. In den verschiedenen Disziplinen bedeutet »Agency« unterschiedliche Dinge. In der Molekularbiologie und der Biologie von Organismen verstehe ich ein Agens als etwas, das in der Lage ist, seine Umgebung und sich selbst zu verändern, um ein Ziel zu erreichen, das es selbst festgelegt hat. Aber selbst für ein Bakterium ist nicht immer klar, was unter den gegebenen Umständen die beste Entscheidung ist, die ihm das Überleben ermöglicht. Es muss mehrere Faktoren abwägen und zu einer Entscheidung gelangen, welche Maßnahme es ergreifen soll. Das meine ich mit Agency oder Handlungsfähigkeit. Diese Fähigkeit wird auf der Ebene des gesamten Organismus ausgeübt, unabhängig davon, ob es sich bei diesem Organismus um ein einzelliges Bakterium oder einen Menschen oder eine andere Lebensform handelt. Diese Entscheidungen können nicht durch das Genom bestimmt werden, obwohl sie von ihm beeinflusst werden.
Keine Maschinen
e: Diese Handlungsfähigkeit erstreckt sich bis nach unten, bis hin zu den einfachen Lebensformen?
PB: Ja, aber das bedeutet nicht, dass das Bewusstsein bis nach »ganz unten« zu den einfachsten Lebensformen reicht. Ich glaube nicht, dass Bakterien irgendeine Art von Bewusstsein haben. Sie haben kein Gewahrsein. Sie sind nicht bewusst und absichtsvoll wie komplexere Organismen. Aber dennoch nähern wir uns dem Verständnis ihres Verhaltens eher, wenn wir diese Fähigkeit mit einem kognitiven Prozess statt einem Rechenvorgang vergleichen. Viele Bakterien nehmen zum Beispiel einen Nährstoff wahr und schwimmen darauf zu, und sie orientieren ihre Bewegungsrichtung an der Zunahme der Nährstoffkonzentration. Sie schwimmen zu dem Ort, an dem die Konzentration höher ist. Unter Umständen erhalten sie dabei widersprüchliche Signale, weil sie gleichzeitig bemerken müssen, wie heiß oder feucht es ist. Bakterien müssen eine Möglichkeit haben, all diese Informationen zu integrieren und eine Entscheidung über deren Relevanz zu treffen. Es ist das gleiche Prinzip, wie wir Informationen integrieren, nur auf einer primitiveren Ebene. Aber es ist besser, diesen Prozess als einen kognitiven Vorgang zu verstehen als einen automatisierten.
e: Bakterien sind also keine Maschinen, sondern Entscheidungsträger.
PB: Ich denke schon, und ich behaupte, dass wir uns in der Biologie von der Metapher der Maschine lösen müssen. Selbst ein Bakterium funktioniert nicht wie eine Maschine. Die Metapher der Maschinen mag funktionieren, um die Funktionsweise einzelner molekularer Komponenten zu verstehen. Aber sobald man über die einzelnen Moleküle und ihre Funktionsweise hinausgeht, verliert diese Metapher sehr schnell ihre Aussagekraft. Wir brauchen Metaphern, sie sind für das Denken unerlässlich. Wir sollten sie mit Bedacht wählen, und für lebende Systeme als Ganzes ist eine Maschinenmetapher nicht sinnvoll.
e: Was sind Ihrer Meinung nach die Kernpunkte des Verständnisses, die diese Revolution in der Biologie begründen?
PB: Bei der Betrachtung der molekularen Mechanismen in unseren Zellen ist mir am deutlichsten aufgefallen, dass sie nicht der klar umrissenen mathematischen Logik folgen, von der man oft ausgeht. Manchmal werden lebende Organismen oder die Interaktion ihrer Moleküle als Informationsnetzwerke bezeichnet. Wie in der Mikroelektronik, wo es Leiterplatten mit einer Reihe von Schaltern gibt, die entweder ein- oder ausgeschaltet sind, und wo sich die Komponenten auf klar definierte Weise gegenseitig beeinflussen.
In der Biologie sehen wir ganz andere Prozesse. Häufiger kommen diese Entscheidungen, die Zellen und Organismen treffen, durch Zusammenschlüsse von Molekülen zustande. Es scheint, dass sie einer Art kollektivem Handeln folgen, um Entscheidungen zu treffen.Auf diese Weise werden unsere Gene meist aktiviert oder deaktiviert. Eine ganze Ansammlung von Molekülen, insbesondere Proteine und RNA-Moleküle, trifft gemeinsam eine Entscheidung darüber, ob ein Gen ein- oder ausgeschaltet werden soll.
Als Chemiker habe ich gelernt, dass Proteine durch molekulares Erkennen funktionieren, wie Schloss und Schlüssel. Ein Protein hat eine bestimmte Form, die zu der Form des Gegenstands passt, mit dem es interagieren soll, und es ignoriert alles andere. Einige Proteine funktionieren auf diese Weise, aber viele unserer Proteine tun das nicht. Sie sind viel unschärfer und – wenn man so will – viel »aufgeschlossener« in Bezug auf das, womit sie interagieren. Sie sind weitaus vielseitiger in den Verbindungen, die sie mit anderen Molekülen eingehen.
Die Evolution hat dieses Vorgehen als nützlich oder vielleicht sogar notwendig für die Entstehung komplexer Organismen wie uns erachtet, weil unsere Proteine viel mehr von dieser Unschärfe, dieser Unordnung in ihrer Struktur zeigen als Bakterien. Je komplexer die Organismen geworden sind, desto mehr dieser Unschärfen finden wir in der Interaktion ihrer Proteine miteinander. Das ist eines der Prinzipien, das sich von der Funktionsweise uhrwerkartiger Maschinen unterscheidet.
Absichten in der Evolution
e: Können wir dann sagen, dass die Evolution eine Art übergreifende Handlungsfähigkeit besitzt?
»Wir dürfen nicht verlernen, über neue Erkenntnisse zu staunen.«
PB: Es ist schwierig, über den Prozess der Evolution zu sprechen, ohne dass es so klingt, als würde die Evolution absichtsvoll oder zielgerichtet handeln. Manche sind der Auffassung, dass die Evolution vielleicht doch eine Richtung oder ein Ziel hat. Ich habe dazu keine feste Meinung, aber im Moment sehe ich keine zwingenden Argumente, die dafürsprechen. Wir haben ein gutes Verständnis davon, wie die Evolution vor sich geht. Allein durch den darwinistischen Prozess der zufälligen Erzeugung von Variationen und eines selektiven Prozesses, der entscheidet, welche Variationen unter den gegebenen Umständen am besten funktionieren, scheinen wir im Verständnis der Evolutionsgeschichte sehr weit zu kommen. Aber auch wenn es so aussieht, als ob die Evolution kein Ziel, keine Absicht und kein Handeln an sich hat, so scheint sie doch sehr gut darin zu sein, Lebewesen mit einer Absicht hervorzubringen, nämlich Organismen.
e: Wie können wir diese Absicht in einem biologischen Kontext verstehen?
PB: Absicht ist in der Biologie häufig ein Tabuwort, weil es sich auf eine höhere Absicht zu beziehen scheint, als ob es eine Form von Design für die Evolution gäbe. Aber ich verstehe Organismen als Agens, als absichtsvolle Akteure. Bei uns Menschen stellen wir es nicht infrage, dass wir Ziele haben. Wir handeln auf der Grundlage dieser Ziele – und andere Organismen tun das offensichtlich auch. Es muss nichts Mystisches daran sein, zu erkennen, dass selbst Organismen zielgerichtet agieren. Ich denke, dass die Evolution selbst ein erstaunlicher Mechanismus ist, um kleine Knoten von Absichten im Universum zu erzeugen, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen.
Ehrfurcht vor dem Leben
e: Oft schaffen wir eine Trennung zwischen dem Menschen und dem Rest der Evolution. Aber wenn es eine Evolution gibt, sind wir Teil dessen, was sich entfaltet.
PB: Wenn man sich in der Biologie gegen diese Ideen wehrt, scheint das immer in einer Art menschlicher Einzigartigkeit zu enden. Manche wollen die Diskussion über Ziele und Absichten auf uns beschränken, weil wir Menschen eine komplexe psychologische Welt erleben. Ich finde es hilfreich, die Vorstellung zu erforschen, dass es einen abstrakten Raum möglicher Formen des Geistigen gibt, die im Universum existieren können – ein konzeptueller Raum, der von verschiedenen Koordinaten definiert wird wie Gedächtnis oder Gewahrsein. Irgendwo in diesem Raum gibt es eine Wolke von Punkten, die die Vielfalt des menschlichen Geistes repräsentiert, und irgendwo anders gibt es die geistige Dimension von Hunden und Bienen.
Dieses Bild wurde geschaffen, um von der menschlichen Einzigartigkeit wegzukommen, aber gleichzeitig anzuerkennen, dass wir uns in diesem geistigen Raum an einem bestimmten Ort befinden, der sich von dem unterscheidet, an dem sich beispielsweise Vögel aufhalten. Wir können über diese Unterschiede sprechen, aber es gibt eine Kontinuität und bestimmte gemeinsame Eigenschaften zwischen den beiden.
e: Glauben Sie, dass es wichtig ist, mit welchem Geisteszustand wir die Biologie erforschen?
PB: Wir müssen jede Betrachtung darüber, wie das Leben funktioniert und was das Leben ist, mit einem Gefühl der Ehrfurcht beginnen. Wir dürfen nicht verlernen, über neue Erkenntnisse zu staunen. Die Tatsache, dass die Teile des Universums zusammengefunden haben und sich ihrer selbst bewusst geworden sind, sollte uns in Erstaunen versetzen. Es klingt vielleicht zu poetisch, es so auszudrücken, aber das ist tatsächlich geschehen. Und das ist so außergewöhnlich, dass wir es nie aus den Augen verlieren dürfen. Das wünsche ich mir für die Biologie: die Rückkehr des Gefühls der Ehrfurcht vor der lebendigen Welt.