Neue Formen des Wissens

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

July 15, 2024

Mit:
Prof. Dr. Mike Sandbothe
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AUSGABE:
Ausgabe 43 / 2024
|
July 2024
Spirituelle Resilienz
Diese Ausgabe erkunden

evolve: Wie erlebst du in deiner Arbeit soziale Felder?

Mike Sandbothe: Zur sozialen Achtsamkeit gehört die ökosystemische Achtsamkeit. Das ist die Fähigkeit, die Beziehung zu einem sozialen System aus der Perspektive des Ganzen wahrzunehmen. In meinem akademischen Arbeitsfeld bedeutet das, den Studiengang oder die Hochschule auf achtsame Weise in die Wahrnehmung zu bringen. Zum Beispiel schlüpfen acht oder neun Studierende in der systemischen Achtsamkeitsübung, die wir Eco Body Scan nennen, in die Rollen anderer Stakeholder aus der Hochschule. Ein Student spielt dann vielleicht den Präsidenten, eine andere die Kanzlerin, ein dritter die Professorenschaft und eine vierte die Mensamitarbeiter. Hinzu kommen weitere Stakeholder wie Menschen ohne Hochschulzugang oder der Planet Erde. Wenn die Rollenträger sich in einer Menschenskulptur im Raum intuitiv positionieren und Stakeholder repräsentieren, in deren Rolle sie sich eigentlich gar nicht auskennen, tritt verkörpertes Wissen zutage, das alle Teilnehmenden überrascht. Es sind transsubjektive Erfahrungen, sie sind trans­-so­zial, weil sie die individuellen Personen, die da zusammenkommen, transzendieren.

Normalerweise verstehen wir das Soziale als das Gefüge von Individuen. Aber in dem Wissen, das in einem Eco Body Scan zugänglich wird, scheint etwas auf, das die Gegenwart des Sozialen zugleich auch transzendiert. Im Eco Body Scan vollzieht sich die kollektive Bewegung von einer Gegenwarts- zu einer Zukunfts-Skulptur. Das innere Bewegungsbedürfnis des sozialen Systems lässt das Aufscheinen einer möglichen Zukunft körperlich sichtbar und für alle spürbar werden. Eine Zukunft, von der wir eigentlich noch gar nicht wissen können, die sich aber gleichwohl zeigt.

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Bildung der Zukunft

Als Hochschullehrer ist Mike Sandbothe im Netzwerk Achtsame Hochschulen engagiert. Zusammen mit Kollegen hat er neuartige Trainingsprogramme entwickelt, die nicht nur aus individuellen, sondern auch aus sozialen und ökosystemischen Achtsamkeitsübungen bestehen.

evolve: Wie erlebst du in deiner Arbeit soziale Felder?

Mike Sandbothe: Zur sozialen Achtsamkeit gehört die ökosystemische Achtsamkeit. Das ist die Fähigkeit, die Beziehung zu einem sozialen System aus der Perspektive des Ganzen wahrzunehmen. In meinem akademischen Arbeitsfeld bedeutet das, den Studiengang oder die Hochschule auf achtsame Weise in die Wahrnehmung zu bringen. Zum Beispiel schlüpfen acht oder neun Studierende in der systemischen Achtsamkeitsübung, die wir Eco Body Scan nennen, in die Rollen anderer Stakeholder aus der Hochschule. Ein Student spielt dann vielleicht den Präsidenten, eine andere die Kanzlerin, ein dritter die Professorenschaft und eine vierte die Mensamitarbeiter. Hinzu kommen weitere Stakeholder wie Menschen ohne Hochschulzugang oder der Planet Erde. Wenn die Rollenträger sich in einer Menschenskulptur im Raum intuitiv positionieren und Stakeholder repräsentieren, in deren Rolle sie sich eigentlich gar nicht auskennen, tritt verkörpertes Wissen zutage, das alle Teilnehmenden überrascht. Es sind transsubjektive Erfahrungen, sie sind trans­-so­zial, weil sie die individuellen Personen, die da zusammenkommen, transzendieren.

Normalerweise verstehen wir das Soziale als das Gefüge von Individuen. Aber in dem Wissen, das in einem Eco Body Scan zugänglich wird, scheint etwas auf, das die Gegenwart des Sozialen zugleich auch transzendiert. Im Eco Body Scan vollzieht sich die kollektive Bewegung von einer Gegenwarts- zu einer Zukunfts-Skulptur. Das innere Bewegungsbedürfnis des sozialen Systems lässt das Aufscheinen einer möglichen Zukunft körperlich sichtbar und für alle spürbar werden. Eine Zukunft, von der wir eigentlich noch gar nicht wissen können, die sich aber gleichwohl zeigt.

e: Warum ist es relevant und wichtig, dieser Form von Wissen in der Bildung Raum zu geben?

MS: Ich arbeite seit 35 Jahren als Hochschullehrer und habe die Aufgabe meiner Tätigkeit noch nie als so dringlich angesehen wie heute. Angesichts der gegenwärtigen Krisen gibt es eine für uns alle deutlich wahrnehmbare Kluft zwischen Wissen und Handeln. Die meisten Politiker und Entscheidungsträger können die Probleme benennen und wissen, welche Lösungen es gibt. Aber sie werden nicht tätig. Das heißt für mich, dass die Formen des Wissens nicht ausreichen. Es geht nicht nur darum, noch mehr Wissen der gleichen Sorte zu akkumulieren, sondern wir brauchen neuartige Formen des Wissens, die uns ins Handeln bringen. Soziale Felder eröffnen eine Form des Wissens, die uns eine Zukunft spüren lässt, die geboren werden will oder in gewisser Weise schon da ist. Das gibt uns Hoffnung.

Wir leben in einer Zeit der Hoffnungslosigkeit, das bemerke ich gerade bei der jüngeren Generation, bei meinen Kindern und den Studierenden. Viele Menschen glauben nicht mehr daran, dass wir die Klimakatastrophe noch verhindern können.

Achtsamkeitsübungen wie der Eco Body Scan zeigen, dass Systeme in ihrem Inneren die Fähigkeit haben, sich zugunsten des Lebens zu entscheiden. Kein System und kein Stakeholder fühlt sich wohl in der Dysfunktionalität. Wenn es auch nur den Hauch eines Impulses gibt, strebt jedes System aus seinem Inneren heraus in eine Lebensdienlichkeit, in eine Orientierung am Ganzen, in eine Funktionalität als Element des Lebens auf diesem Planeten.

Soziale Felder eröffnen eine Form des Wissens, die uns Zukunft spüren lässt.

e: Was ist ein soziales System in deiner Erfahrung?

MS: Mit dem MIT-Transformationsforscher Otto Scharmer verstehe ich Systeme als lebendige Wesen, die sich entfalten und aus ihrem Inneren heraus selbstorganisatorische Prozesse vollziehen. Daraus folgt, dass uns Menschen in den gesellschaftlichen Systemen eine zentrale Rolle zukommt. Wir leben das System in einer bestimmten Art und Weise, die zu bestimmten Effekten führt. Ich kann meine Systemfunktion als Hochschullehrer so oder so leben, und jeder Lehrer, jede Schulleiterin, jeder Wirtschaftsführer, jeder Bundeskanzler oder Wirtschaftsminister kann seine Rolle so oder so leben. Mit ihm und seinem Handeln transformiert sich auch das Handeln des Systems. Je mehr Menschen lernen, sich und die Systeme, die sie mit Leben erfüllen, vom Ganzen her wahrzunehmen, desto mehr gewinnen sie die Kraft, diese inneren Bewegungskräfte zuzulassen. In dem Moment, in dem wir zu dieser Vierte-Person-Perspektive wechseln, wie Otto Scharmer es nennt, in der wir die Energie des lebendigen Seins wieder spüren, haben wir Grund zur Hoffnung.

e: Welche Reaktion erlebst du bei den Studierenden auf solche erweiterten Formen des Wissens?

MS: Zusammen mit unseren Studierenden haben wir einen Ansatz entwickelt, den wir als Privatisierung der Narrative bezeichnen. Wir interessieren uns dafür, wie die Studierenden die Erfahrungen, die sie durch die Übungen erleben, in ihrer eigenen Sprache beschreiben. Wir unterwerfen die Erfahrungen keinem vorgegebenen (zum Beispiel neurowissenschaftlichen) Narrativ. Aus unserer Sicht ist die Vermittlung der individuellen, sozialen und ökosystemischen Achtsamkeiten eine Alphabetisierungsmaßnahme. Das heißt, wir bringen Menschen in Hochschulen und anderen Organisationen neue Wissensformen bei.

Der Eco Body Scan ist die komplexeste Übung unseres Trainingsprogramms. Den machen wir erst, wenn die Teilnehmenden gelernt haben, den eigenen Körper im individuellen Body Scan wahrzunehmen, Sitz-, Geh- und Bewegungsmeditationen zu praktizieren und eine tägliche Achtsamkeitsroutine aufgebaut haben. Und im Bereich der sozialen Achtsamkeitsübungen haben sie vorher gelernt, zu zweit dyadische Meditationen und zu viert kontemplative Feedback-Gespräche durchzuführen. Nach diesem Vorlauf empfinden die Studierenden den Eco Body Scan als konsequenten Höhepunkt einer zwölfwöchigen Learning Journey. Sie sind begeistert davon, weil sie merken, dass die ökosystemische Achtsamkeitspraxis genuin politisch ist und in die Sphäre führt, wo Transformation möglich ist. Das gibt Hoffnung und macht ihnen Mut, den eigenen Studienalltag, der sie zum Teil völlig überfordert, zu verändern.

Es ist ja meist so, dass die Studierenden Unmengen von Informationen auswendig lernen, um sie am Ende des Semesters wiederzugeben. In den ökosystemischen Achtsamkeitsübungen machen Studierende die Erfahrung, dass sich das Hochschulstudium von innen her verändern möchte. Einige engagieren sich dann in der studentischen Selbstverwaltung, z. B. im Fachschaftsrat. Es entsteht ein Bewusstsein dafür, dass Bildung für sie da ist und sie auch darauf Einfluss nehmen können. Dabei hilft ihnen die Erfahrung, dass sie mit neuen Formen des Wissens in Beziehung treten, die sie bisher nicht kannten. Sie erleben die ökosystemische Achtsamkeitspraxis als eine Antwort auf die Probleme, die sie vorher an sich selbst gespürt haben, z. B. den hohen Stresslevel und die Prüfungsangst. Wenn sie das System Hochschule aufstellen, dann erkennen sie auch die Stressoren. Und sie sehen, dass eigentlich niemand ein Stressor sein will. Selbst die Leute, die das Leid der Studierenden mit kreieren, leiden unter dem, was sie tun.

Durch die Achtsamkeitsübungen schaffen wir einen Raum, in dem die Zukunft der Bildung bereits jetzt konkret erlebbar wird. Ein Raum, in dem Freiwilligkeit die Grundvoraussetzung von Bildungsprozessen ist und Lernen sich aus intrinsischer Motivation speist. Das ist ein Transformationsprozess, der das Verhältnis der Studierenden zu ihrem eigenen Lernen verändert. ■

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Diese Menschenskulptur des Bildungs­systems entstand im ­Rahmen des Workshops »Achtsamkeitsbasierte ­Transformation in der Bildung« mit Arawana Hayashi im Mai 2024.

Author:
Mike Kauschke
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