Ganz im Leben sein

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 30, 2024

Mit:
Prof. Dr. Michael von Brück
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AUSGABE:
Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Zugehörigkeit und Verbundenheit in einer globalen Welt

Als evangelischer Theologe, Zen- und Yogalehrer hat sich Michael von Brück in verschiedene Weisheitstraditionen und ihre rituellen Praktiken vertieft. Sie bilden einen Schatz, aus dem wir heute neue Rituale schaffen können, die unserer weltweiten Vernetzung und den drängenden Krisen unserer Zeit angemessen sind.

evolve: Im Kontext von Spiritualität und Religion scheint es eine Renaissance von Ritualen zu geben. Was ist die Rolle von Ritualen in einem spirituell-religiösen Kontext?

Michael von Brück: Rituale waren nie abwesend. Ihr Inhalt und die sozialen Gruppen, für die Rituale bedeutsam sind, haben sich verändert. In unserer pluralistischen Gesellschaft gibt es zunehmend verschiedenartige Rituale und eine Vielzahl von Gruppen, die sie gestalten und nutzen. Wir nehmen das vielleicht als Abbruch oder Zerstörung wahr, weil die klassischen Institutionen wie Kirchen, Parteien und Gewerkschaften an Bindekraft verlieren. Bindekraft wird durch Rituale verstärkt, und auch säkulare Institutionen haben ihre Rituale. Durch die Pluralisierung der Gesellschaft entwickeln und pflegen Gruppen, gerade auch Jugendgruppen, ihre eigenen Rituale. Dabei schöpfen sie aus dem Ritualschatz der Menschheit.

Rituale sind dazu da, dem Zufälligen und Unvorhersehbaren, das in unserem Leben geschieht, einen Sinn zu geben, es in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Rituale dienen auch dazu, sozialen Gruppen einen Zusammenhalt zu geben. Wir definieren uns über eine Gruppenidentität, dazu gehören Rituale, die eine bestimmte Gruppe kennzeichnen. Rituale erschöpfen sich aber nicht in der kognitiven, sprachlich ausdrückbaren Identität einer Gruppe, sondern zeigen sich auch in einer bestimmten Körpersprache, die wir gemeinsam inszenieren.

Eine heilige Zeit

e: Wenn wir über Philosophie und Religion sprechen, meinen wir oft Inhalte, die wir erfahren. Aber wir beziehen uns weniger auf die Art und Weise, wie wir mit dem Heiligen in Verbindung sind. Kann man sagen, dass Rituale eine Inszenierung sind, um diese Verbindung auf verschiedenen Ebenen bis zu einer körperlichen Ebene zu vollziehen? Und das gemeinschaftlich vollziehen, um auch eine Gruppenidentifikation in Bezug auf die Dimension des Heiligen rituell zu üben?

MvB: Der Religionswissenschaftler Joseph Campbell, der über die Kraft der Mythologie geforscht hat, sagte einmal: »Was Menschen wirklich suchen, ist nicht der Sinn des Lebens, sondern die Erfahrung, lebendig zu sein.« Bedeutung ist eher eine kognitive Angelegenheit, doch was Menschen zunächst suchen, ist ein Dabeisein im Leben, wirklich ganz und gar darin zu sein. Viele unserer Lebensgewohnheiten wie Tanzen, Musik, Kunst, psychedelische Erfahrungen oder Meditation kommen aus dem Wunsch, sich lebendig zu fühlen. Es ist eine Erfahrung im Körper, den wir aber nicht anders als im Bewusstsein erleben. Im Ritual wird dieses Körperempfinden in einen großen Zusammenhang gestellt.

»Rituale erzählen eine Geschichte.«

Das erste Ritual, das wir als Kinder lernen, ist die Kommunikation mit der Mutter. Durch Rituale wie das wechselseitige Lächeln entdeckt der Mensch sich selbst im ritualisierten Kontakt, durch den die Verlässlichkeit der Beziehung bestätigt wird. Auch die Familie definiert sich über bestimmte Rituale. Später im Leben, wenn wir Unsicherheiten oder Krisen empfinden, versuchen wir an diese Kindheitsrituale anzuknüpfen. In unserer Kultur wird das zum Beispiel in den Weihnachtsritualen gepflegt. Wo solche Rituale fehlen, kann sich das Urvertrauen weniger stabil entwickeln.

In der Jugend bilden wir Gruppen, die sich durch Ausgrenzung anderer kennzeichnen. Bestimmte Gruppen entwickeln eine eigene Körpersprache, eine bestimmte Art des Umgangs miteinander, auch eine bestimmte Jugendsprache. Später kommen die Gruppenidentitäten der politischen und religiösen Überzeugungen dazu. Dabei ist der Preis der Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Ausgrenzung der anderen Gruppe.

Diese Abgrenzung finden wir auch bei den Religionen, gleichzeitig beziehen sich Rituale im religiösen Bereich auf die Dimension des Ganzen, die Einheit von allem, den Bezug zur Unendlichkeit, die Verbindung zum Göttlichen. Diese Verbindung wird durch symbolische Darstellungen inszeniert, in denen man die alltägliche Lebenspraxis und Lebenserfahrung durchbricht.

Ein Beispiel sind die Feiertage. Sie sind der Durchbruch durch das alltäglich Gewohnte, die Öffnung zu einer Transzendenz. Das religiöse Ritual stabilisiert den Alltag einer rituell definierten Gemeinschaft, transzendiert ihn aber auch in dieser Ausnahmesituation. Es ist die Verbindung zu einer heiligen Zeit, zu einem heiligen Raum. Und das ist immer das Ganze, welches das Einzelne übersteigt.

Wissen durch Symbole

e: Was Sie von der rituellen Verbindung in der Mutter-Kind-Beziehung, in der Familie bis hin zu einer universellen Verbundenheit gesagt haben, könnte man auch als eine Form der Wissensvermittlung beschreiben. Der Kognitionswissenschaftler John ­Vervaeke spricht von den verlorenen Dimensionen des Wissens, weil wir uns seit der Aufklärung auf gegenständliches Wissen reduzieren. Es scheint, dass das Ritual ein teilhabendes Wissen bewusst pflegt.

MvB: Wir sprechen heute auch vom Körperwissen. Das ist etwas anderes als das theoretische Wissen oder handwerkliche Können. Das Körperwissen ist uns durch Wiederholung, also durch Praxis zugänglich. Das Laufen zum Beispiel muss mühsam erlernt werden. Das Körperwissen begründet auch unsere künstlerischen Fähigkeiten und zeigt sich darin, wie wir uns emotional äußern, zum Beispiel durch Handbewegungen und Mimik. Diese Körpersprache dient ganz wesentlich der Identitätsbildung. Sie betrifft nicht nur die eigene Person über die Zeitläufte des Lebens hinweg, sondern auch die Gruppe. Das ist Wissen, insofern dem einzelnen oder zufälligen Ereignis umfassendere Bedeutung gegeben wird. Die kollektive soziale Identität wird durch Rituale gestiftet, aufrechterhalten und immer wieder abgerufen.

e: Dabei scheint eine wesentliche Dimension der Rituale darin zu liegen, dass sie die Beteiligung an einer symbolischen Welt darstellen.

MvB: Ja, Rituale erzählen eine Geschichte. Alle Rituale in der Religionsgeschichte, aber auch in unserer Familiengeschichte gehen auf ein reales oder fiktives Ereignis zurück. Eine Geschichte ist eine Erzählung, in der unterschiedliche Lebenserfahrungen in einen Zusammenhang gebracht werden. Wenn diese Lebenserfahrungen erinnert werden – wenn sie von unserem Gedächtnis als würdig empfunden werden, etwas Wesentliches auszudrücken – werden sie zu Symbolen: Was mir widerfahren ist, hat Bedeutung. Es hat eine Einprägung in mich, die mich über längere Zeit hinweg formt.

Auf meinem Schreibtisch steht das Symbol der Augen des Buddha, auf der Rückseite steht »Om Mani Padme Hum« (das tibetische Mantra der Verehrung des Buddha). Die Augen sind ein Symbol für Sehen, das die Tiefe ergründet. Dabei verbindet das dritte Auge die Dualität von Gut und Böse, Himmel und Erde. Das ist die Einheitserkenntnis, die über die Dualität hinausgeht, die Weisheit, die Unterschiedliches verbindet. Wenn wir ein solches Symbol mit unserer Lebenserfahrung verbinden, dann wird es eine Einprägung, die symbolischen Charakter bekommt und im Ritual immer wieder inszeniert wird. Diese Neuinszenierung von Ritualen dient der »Beschwörung« von Wirklichkeit beziehungsweise Wirksamkeit, das heißt, was ist, wird als wirkmächtig dargestellt.

»Veränderung muss aus einer lebendigen Freude an der Gestaltung kommen.«

Nehmen wir zum Beispiel die Neujahrsrituale. Das Leben geht nicht nur irgendwie weiter, sondern durch ein individuelles und kollektives Ritual des Neujahrs setzen wir einen Neubeginn. Durch die tiefe Beteiligung des Menschen, die wir im Ritual gleichsam beschwören, geschieht ein Neuanfang. Es gibt das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, Neujahrsbälle, die Lichtinstallationen des Feuerwerks, die das Neuwerden durch das Licht darstellen. Das Schöpfungslicht wird in einer grandiosen Inszenierung beschworen. Durch die Aufführung von Ritualen vergewissern wir uns, dass das Leben nicht nur irgendwie weitergeht, sondern durch unsere aktive Beteiligung als Menschen vorangebracht werden kann. Das ist eine Ermächtigung und Ermutigung des Menschen.

Neue Rituale

e: Im Hinblick auf Rituale, die für eine Gruppe identitätsstiftend wirken, sind wir in einer globalisierten Gesellschaft in einer großen Herausforderung. In unserer globalen Wirklichkeit erleben wir eine Verwirrung darüber, wer wir eigentlich sind: Habe ich mit den Identitäten meiner Herkunft überhaupt noch etwas zu tun? Definiert sich meine Identität über eine Wissenschaftskultur oder über eine neue asiatische Religion? Wie stiftet sich Gemeinschaft? Wie finden sich die Gemeinschaften untereinander, damit wir gemeinsam eine Weltkultur gestalten können?

MvB: Das ist eine wichtige Frage, weil sie das Ritual mit dem Politischen verbindet und mit der Misere, in der sich die Welt gegenwärtig befindet. Seit der neolithischen Revolution, als wir sesshaft wurden und Ackerbau betrieben, grenzen sich Kulturen oder Gruppen voneinander ab. Aus kleinen Gruppen sind Stadtstaaten entstanden und daraus Flächenstaaten und Imperien. Der Zusammenhalt wird dabei durch feindliche Abgrenzung von anderen garantiert.

In den letzten 200 Jahren sehen wir durch Wissenschaft und Technologie eine Kommunikation mit anderen Menschen und Kulturen weltweit, in der sich diese Abgrenzungsstrategien als ungenügend erweisen. Wir haben in einer wechselseitigen Abhängigkeit globale Handelsnetze, Lebensnetze, Kommunikationsnetze, sprachliche und kulturelle Netzwerke entwickelt.

Der globale Lebensrahmen und die Suche nach Identität durch Abgrenzung in jeweils lokalisierten Gruppen stehen im Widerspruch zueinander, der sich heute massiv äußert. Wir sind in Gefahr, militärisch oder ökologisch unsere Lebensgrundlagen und die ganze Menschheit zu zerstören.

Hier stellt sich die Frage: Können wir über die kognitive Einsicht hinaus neue Rituale entwickeln – nicht nur in unserer Kommunikation mit den jeweils anderen, sondern auch in der Kommunikation mit uns selbst, also in einer rituell verankerten Identitätsfindung? Können wir diese widersprüchlichen Akzente verbinden – einerseits die Lokalität, die Suche nach Sicherheit gegenüber den anderen, und andererseits die Globalität, die Suche nach einer Lebenspraxis, die angesichts der modernen Technologien ein gutes Leben in der Gemeinschaft mit anderem Leben ermöglicht?

»Können wir über die kognitive Einsicht hinaus neue Rituale entwickeln?«

Viele von uns wissen kognitiv, was zu tun wäre. Wir wissen zum Beispiel, dass Recyclingsysteme und andere Energiesysteme ökologisch notwendig werden. Aber wir schaffen es nicht, dies in eine Praxis umzusetzen, die natürlich nur global funktioniert. Warum? Auch deshalb, weil wir keine identitätsstiftenden Rituale haben, die ermächtigende, kraftvolle Lebensenergien freisetzen können.

e: Sehen Sie Ansätze solcher Rituale?

MvB: Ja, im interreligiösen, interkulturellen Feiern, in gemeinsamen Gebeten und Meditationen. Ich sehe sie auch in etwas, das nur scheinbar trivial ist: in der Speise­kultur. Das ist einer der ganz wenigen Bereiche, in denen wir interkulturell sensibel und offen sind. Über die ganze Welt verteilt gibt es europäische, chinesische, japanische, indische, arabische, iranische Restaurants – ohne Diskriminierung. Dabei gibt es auf der einen Seite den Wunsch, möglichst das beste südindische, nordindische, chinesische oder japanische Essen in einer gewissen Reinheit zu genießen. Auf der anderen Seite gibt es die Tendenz, in der internationalen Küche Kombinationen zu kreieren, die einen neuen Geschmack hervorbringen. Es gibt also die Freude am kulturell klar Abgegrenzten, aber auch die Freude an der Synthese. Mir scheint, dass diese Speisekultur bewusst gemacht werden muss. Die meisten von uns leben sie als ein exzellentes Beispiel für unsere gesamte Lebenspraxis: Der andere ist anders, aber er ist mein Partner und er kann zu meiner eigenen Identitätsbildung, zu meiner eigenen Entwicklung beitragen. Auf diese Weise werden Potenziale freigesetzt, die sonst nicht zugänglich wären. Dadurch wird Lebenspraxis, Lebensschönheit, Lebensfülle in einer neuen Weise möglich.

Ich glaube nicht, dass wir unsere Menschheitskrisen mit Verboten bewältigen können. Wir wissen aus der Pädagogik, dass man mit Verboten oft das Gegenteil erreicht. Veränderung muss aus einer lebendigen, kraftvollen Freude an der Gestaltung kommen. Und die wird durch das Ritual zugänglich.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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