Die Kraft der Rituale

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Essay
Publiziert am:

April 30, 2024

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Ausgabe 42 / 2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Gemeinsam das Heilige berühren

Rituelle Prozesse gehören seit jeher zum Menschsein, aber welche Rolle spielen sie heute in einer säkularen Welt, in der viele Menschen und ganze Gesellschaften die Orientierung zu verlieren scheinen? Können Rituale Teil einer Antwort sein auf die Frage nach einer neuen Verbundenheit mit dem Wesentlichen, einer tiefen Zugehörigkeit im Leben?

Rituale geben uns Heimat. Wenn wir jemanden mit einem herzlichen Handschlag begrüßen, wenn wir uns umarmen und spüren, dass diese Gesten von unserem Gegenüber genauso tief und ehrlich empfunden werden, dann haben wir gerade ein kleines Ritual vollzogen. Vielleicht ein Ritual, das unsere Beziehung erneuert. Und falls wir uns zum ersten Mal auf diese Weise umarmen, dann war dies möglicherwiese eine Initiation in eine neue Dimension einer Freundschaft. Rituale wie der Handschlag und die Umarmung schaffen soziale Welten, die uns vertraut sind, in denen wir wissen, wie wir interagieren und in denen wir anderen unmittelbar in der Handlung begegnen. Unser Leben ist voll von Ritualen, aber wir scheinen sie selten bewusst wahrzunehmen und zu würdigen. Dabei sind es oft gerade diese Rituale, die das Leben mit Sinn erfüllen. Das Wort »Heimat« kann einfach den Ort bedeuten, an dem wir leben, oder ein tiefes Bewusstsein der Zugehörigkeit umfassen. Genauso schaffen auch Rituale Bedeutung und Zugehörigkeit. Hochzeiten sind im Wesentlichen bedeutungsvolle Rituale, auch wenn sie heutzutage vermehrt die Form eines bürgerlichen Vertragsabschlusses annehmen. Besonders Beerdigungen besitzen noch die Kraft eines heiligen Rituals, denn der Tod bringt uns oft in die Nähe des Mysteriums. Deswegen erfahren wir auf Beerdigungen häufig bedeutsame und heilige Räume der Begegnung.

Die meisten von uns feiern noch wichtige Lebensübergänge mit Ritualen. In unserer säkularen Gesellschaft ist ihnen die tiefere Kraft aber oft verloren gegangen. Wir kultivieren eigentlich keine Rituale mehr, die uns eine tiefe Orientierung und Ausrichtung geben. In unserer Zeit der kulturellen (und sogar globalen) Orientierungslosigkeit haben wir irgendwie unseren Platz im Kosmos verloren. Die althergebrachten Rituale vermitteln uns oft keine Zugehörigkeit zum Ganzen mehr. Es fehlen neue Praxisformen, in denen wir uns im Wesentlichen des Lebens wieder beheimaten können. Wenn es uns gelingt, die spirituelle Kraft von Ritualen neu zu finden, können wir vielleicht auch unsere Beziehung zur Ordnung des Lebens auf einer symbolischen Ebene neu erlebbar machen.

Das Profane und das Heilige

Heilige Rituale öffnen eine Erfahrung des Wesentlichen, des Heiligen. Das können kleine, unscheinbare Handlungen sein, die wir bewusst gar nicht als Ritual wahrnehmen. Wir betreten eine Kirche, einen Tempel, eine Moschee, besuchen eine Quelle im Wald. Wenn wir das tun, überschreiten wir eine unsichtbare Schwelle. An vielen dieser besonderen Orte, die ich in meinem Leben betreten durfte, berührte mich dieser erstaunliche Umschwung in der Atmosphäre, den ich beim Überschreiten der Schwelle deutlich wahrnehmen konnte. Es war ein Umschwung vom Profanen der Welt in etwas, das ich als wesentlich empfand. Was geschieht beim Überschreiten der Schwelle? Auf einer bestimmten Ebene trete ich einfach von einem physischen Raum in einen anderen. Doch das, was hier geschieht, ereignet sich eben nicht im physischen Raum. Es geschieht in einem symbolischen Raum, der einen anspricht. Bei meinen Besuchen kannte ich manche der Symbole, manche waren mir fremd. Die Symbolik der Architektur, auch der Architektur des Lichts, war mir vielleicht gar nicht bewusst, aber sie sprach zu mir. Das Betreten eines solchen Raumes ist in sich schon ein Ritual, wenn ich ein Auge und ein Gespür für die Sprache dieses Ortes habe. Falls ich den Sinn dafür nicht besitze, erfahre ich nur einen profanen Raum. Rituale ereignen sich in einem symbolischen Raum, der mich anspricht und mitnimmt: eine Taube mit ausgebreiteten Flügeln auf der Innenseite einer gewölbten Kuppel, die vollkommen symmetrischen Mosaikmuster auf dem Boden, oder Bögen, die sich scheinbar bis zum Horizont wiederholen.

»Die althergebrachten Rituale vermitteln uns oft keine Zugehörigkeit zum Ganzen mehr.«

Manchmal erschien es mir, als würde der physische Raum auf wundersame Weise transparent werden. Ja, ich betrat einen neuen physischen Raum, aber gleichzeitig auch einen anderen, der mich im Innersten erreichte. Dieses Überschreiten der Schwelle ist eher ein innerer denn ein äußerer Akt.

Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade zeigt in seinem Buch »Das Heilige und das Profane«, dass das Heilige eine qualitativ andere Wirklichkeit besitzt als die profane Welt. Es eröffnet eine Dimension des Transzendenten, Göttlichen, Ultimativen, eine Dimension, die uns in ihrer Wesentlichkeit ergreift. Ein Schrein, ein mächtiger Baum kann uns auf diese Weise berühren.

Existenzielle Rituale schaffen etwas Ähnliches in der Dimension der Zeit. Sie eröffnen und schließen Zeiträume, in denen wir uns auf die Kraft der symbolischen Welt in einer bewussten Weise einlassen. Unsere traditionellen Rituale taten, wenn sie lebendig waren, genau dies. Eine christliche Messe, eine indische Puja, die schamanische Anrufung können in der Wahrnehmung der Beteiligten einen transzendenten Raum öffnen – einen Raum, der so wesentlich erscheint, dass Menschen und Gemeinschaften ihr Leben danach ausrichten. Es ist ein Erfahrungsraum, der als tief sinn­erfüllend empfunden wird. Das Heilige ist in seiner Tiefe eine Begegnung mit dem Numinosen, um einen Begriff zu verwenden, den Rudolf Otto geprägt hat – eine Dimension, die eine Ehrfurcht hervorruft, welche unsere gewohnte Wahrnehmung von Wirklichkeit erschüttert. Ein Handschlag, eine Hochzeitsfeier geben uns symbolische Orientierung. Rituale, die uns mit dem Transzendenten in Verbindung bringen, sprengen die Sicherheit unserer gewohnten Welt.

Symbolische Wirklichkeit

In unserer postmodernen Kultur, die so viel Augenmerk auf unsere egalitären Werte legt, kann die Idee des Heiligen auch leicht verdächtig klingen. Ist das Leben nicht heilig, so wie es ist? Ist nicht alles heilig? Die Antwort darauf lautet wahrscheinlich: »Ja und …« Es kommt darauf an, mit welchen Augen man sieht. Als Reaktion auf die Zerstörung der natürlichen Welt entstand eine Sehnsucht, das Leben wieder als heilig wahrzunehmen. Das ist eine wichtige Bewegung im menschlichen Bewusstsein, die eine tiefgreifende Transformation anstrebt. Allzu leicht kann dies jedoch auch dazu führen, keinen Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Profanen zu sehen. Ist nicht alles heilig? Ja, wenn ich mich von Heiligem authentisch ergreifen lasse. Ansonsten wird alles Heilige einfach profan. Überschreiten wir im Ritual die Schwelle, in der uns das Symbolische ergreift?

Rituale öffnen uns oft für eine symbolische Wirklichkeit. Dem Theologen Paul Tillich zufolge gehört es zur Natur eines Symbols, an der Wirklichkeit, die es symbolisiert, selbst teilzuhaben. Wenn wir uns auf das Symbol einlassen, nimmt es uns sozusagen mit in die Wirklichkeit, auf die es als Symbol verweist. Wir blicken nicht auf das Symbol, sondern durch das Symbol auf eine dahinterliegende Wirklichkeit. Sich des Heiligen bewusst zu werden, heißt in diesem Sinne, sich mitnehmen zu lassen in das, was sich durch das Symbol in unserer Wahrnehmung zeigt.

»Heilige Rituale öffnen eine Erfahrung des Wesentlichen, des Heiligen.«

Oft, wenn ich in die Berge in der Nähe meines Wohnortes fahre, besuche ich dort eine Eiche, die wohl zu den ältesten Wesen dieses Waldes gehört. Man könnte auch sagen, dass der Baum mich ruft. Sobald er sich zeigt, ändert sich etwas Fundamentales in der Atmosphäre. Ich finde mich in der Gegenwart einer großen Lebenskraft, deren Äste so groß sind wie ausgewachsene Bäume und die den Himmel in einer so großartigen Geste hochhalten, dass ich stehen bleibe. Wenn ich in ihren Raum eintrete, mich dem mächtigen Stamm nähere, dann erfahre ich die Eiche in ihrer heiligen Kraft. Der Baum ist ein Baum, ein materielles, aber auch ein symbolisches Wesen, das zu einem spricht und einen mit etwas in Berührung bringt, das ich seine heilige Natur nennen würde. Haben wir die Augen, um durch das Symbol – in diesem Fall eine ­Eiche – hindurch Wesentliches zu sehen? Denken Sie an den Austausch von Ringen bei einer Hochzeit. Es sind nur Ringe aus Metall und vielleicht mit Edelsteinen besetzt, die einen gewissen Marktwert besitzen. Aber in der Zeremonie wird der Ring zum manifestierten Ausdruck einer kostbaren Liebe und Verpflichtung, die wie ein Ring weder Anfang noch Ende hat. Oder vielleicht geschieht Ihnen am letzten Tag einer Visionssuche, wie es ein Freund von mir erlebt hat, nachdem Sie einige Tage in der Wildnis gefastet haben, etwas Ungewöhnliches – ein Berglöwe kommt zu Ihrem Lagerplatz und schaut Sie auf eine Weise an, die eine tiefe existenzielle Frage beantwortet. Das sind keine Ideen oder Gedanken, sondern Einsichten auf einer anderen, metarationalen Bedeutungsebene, die in unserem verkörperten Dasein mitschwingen. Es fühlt sich oft wie Liebe an.

Spirituelle Heimat

Wir alle leben in Sinnfeldern, ein Ausdruck, den der Philosoph Markus Gabriel in den letzten Jahren ins Gespräch gebracht hat. Rituale und Symbole haben die Kraft, unsere Sinnfelder zu erweitern und zu vertiefen. Ihr Resonanzfeld öffnet häufig ein Zentrum, das als heilig empfunden wird. In der Geschichte, die uns die Wissenschaft erzählt, sind wir als Menschen ein Zufall, eine Laune, ein unwahrscheinliches Ereignis, das auf einem rotierenden Felsen in den Weiten des Alls stattfindet. Die Marktrealitäten, die alles, sei es heilig oder profan, auf einen Geldbetrag reduzieren, sind eine ständige Erinnerung an unsere Bedeutungslosigkeit. Es bedeutet nichts, dass wir sind. Es ist kein Wunder, dass Suizid, Sucht und Depression in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen haben. Wohin gehen wir? Ist es überhaupt bedeutsam, dass wir existieren – als Einzelne und als Gruppe? Was ist Heimat? Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, die Sehnsucht nach Heimat gehören zu den stärksten und ursprünglichsten Impulsen der menschlichen Psyche. Der politische Rechtsruck unserer Zeit, vor allem bei jungen Männern, kann teilweise auch auf den Wunsch nach Heimat zurückgeführt werden, einem Ort, dem man zugehört. Der Impuls, eine Gemeinschaft, Identität und ein gemeinsames Verständnis des Lebens zu finden, ist natürlich. Und es ist leicht, hier alte, spaltende und gefährliche Wege zu gehen. Schwieriger und deswegen umso dringlicher ist es, dass wir Wege finden, um in einer offenen Gesellschaft neue, dialogische Formen spiritueller Heimat zu gestalten. Rituale, in denen sich die symbolischen Welten in ihrer Bedeutsamkeit öffnen, sind auch Brücken zwischen dem Endlichen und dem Ultimativen. Sie geben den Sinnfeldern, in denen wir leben, Orientierung und Verwurzelung. Durch ihre existenzielle Tiefe sprengen sie auch die Begrenztheit, aus der heraus wir die Wirklichkeit meist wahrnehmen. Sie bringen uns in Kontakt mit einem unfassbaren Ganzen, dessen Teil und Ausdruck wir sind.

Neue (und alte) Rituale

Können Rituale uns dabei helfen, in diesen chaotischen Zeiten spirituelle Heimat zu finden? Und wie? Wahrscheinlich erwachsen diese Rituale aus unserer eigenen Sehnsucht nach Gemeinschaft, Verbundenheit mit der Natur, Gerechtigkeit und Frieden. Diese transzendenten Impulse finden in Ritualen oft einen zutiefst ernsthaften und doch spielerischen Ausdruck, wodurch sich diese Impulse mit unserem Leben verbinden können. Das macht Rituale zum Teil eines neuen spirituellen Aktivismus. In Zeiten von Krisen und Kollaps können sie Möglichkeiten sein, tiefe Antworten zu finden. Das erfordert von uns die Offenheit, dass sie sich zeigen können, und gleichzeitig ist es ein kreativer Prozess. Neue Rituale erfordern, im Gegensatz zu den alten Mythen, unsere Eigenverantwortlichkeit und bewusste und rationale Beteiligung in ihrem Schöpfungsprozess. Das Numinose sehnt sich nach unserer Demut und Reife.

»Das Numinose sehnt sich nach unserer Demut und Reife.«

Wahrscheinlich werden neue Rituale post-­mythisch und post-persönlich sein. Kann das Ritual auch die Wissenschaft und die Psychologie als Realität des Symbolischen der Selbsttranszendenz mit einbeziehen? Zu leicht begibt man sich in einer unreflektierten Form in heilige Räume und Rituale und übernimmt unhinterfragt mythische Weltanschauungen anderer und alter Kulturen. Die symbolische Wirklichkeit der Rituale ist kein psychologischer Prozess, der sich vor allem auf das Individuum fokussiert. Durch eine solche Verengung verlieren wir das Potenzial der Selbsttranszendenz in der Öffnung einer symbolischen Wirklichkeit. Gleichzeitig ist das kulturelle Wissen, das durch die Trauma-Arbeit entstanden ist, von unschätzbarem Wert. In kollektiven Ritualen können Gruppen die Tiefe der Trauer und des Schmerzes tragen, so dass diese auch ihre heilige Tiefe finden. Die Vielfalt unserer globalen Gesellschaft braucht auch Rituale, die dieser Vielfalt gerecht werden. Wie können wir die vielen Religionen und Kulturen unserer Erde in Resonanz bringen, ohne zu banal und homogen zu werden? Wie zeigt sich das Heilige angesichts der Vielfalt? Vielleicht sind es ja gerade unsere Verletzlichkeit und Offenheit für das Mysterium, die gemeinsame Rituale entstehen lassen, die in unserer Erfahrung des Menschseins auf dieser Erde verwurzelt sind und gleichzeitig die Unterschiedlichkeit unserer Erfahrung des Heiligen anerkennen und respektieren, so dass wir daraus lernen können.

Und schließlich, vielleicht entstehen einige neue Rituale aus einer der grundlegenden menschlichen Interaktionen: im Dialog. Wenn wir beginnen, den Dialog auch als rituelle Praxis zu verstehen, als eine Praxis der Einheit in Vielfalt und der Vielfalt der Einheit, dann kann der Dialog die Menschen in der Heiligkeit zusammenbringen. Wir können uns von unserer tiefsten Menschlichkeit berühren lassen und gemeinsam das Heilige berühren. Dann kann jedes Gespräch ein Überschreiten der Schwelle vom Profanen zum Heiligen sein. Hier entsteht eine Öffnung für neue symbolische Wirklichkeiten, die uns die Ganzheit eröffnen, nach der wir uns sehnen.

Geschrieben gemeinsam mit Elizabeth Debold.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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