Spirituelle Wege und Umwege

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

January 27, 2025

Mit:
Vivian Dittmar
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 45 / 2025
|
January 2025
Lebendige Praxis
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Innerer Halt oder Flucht ins wohlige Nirvana?

In ihrer Arbeit mit Menschen vermittelt Vivian Dittmar verschiedene Praxisformen, die innere Verwurzelung geben und gleichzeitig zum Wirken in der Welt befähigen sollen. Aber wann wird der Weg nach innen zu einem »Spiritual Bypassing«?

evolve: Mir scheint, dass gerade in unserer heutigen Zeit mit so vielen Brennpunkten auf der Welt spirituelle Praktiken eine neue Bedeutung finden. Wie siehst du das aus deiner Arbeit?

Vivian Dittmar: Mich erinnert diese Frage an ein Gespräch, das ich gestern mit einem lieben Freund aus Israel geführt habe, der gerade zu Besuch war. Er hat mir erzählt, wie er mit der dortigen Situation umgeht. Er konzentriert sich auf seine Arbeit, die darin besteht, rituelle Räume und Gebetskreise zu öffnen. Man könnte sagen, er lädt Menschen dazu ein, sich mit dem Licht zu verbinden. Im Gespräch haben wir gespürt, wie gesund das ist, und uns andererseits gefragt, wo es zum Spiritual Bypassing wird.

Was ist der Unterschied zwischen »Wir suchen Halt in einer Praxis, um dem begegnen zu können, was gerade geschieht« und »Wir flüchten uns vor dem, was gerade geschieht, in das wohlige Nirwana einer Praxis«? Das ist eine der Fragen, die mich beschäftigen im Hinblick auf meine eigene Suche nach Balance. Wie sehr wende ich mich innerlich wie äußerlich dem zu, was in der Welt geschieht? Und wie sehr wende ich mich dem Transzendenten zu als Quelle der Kraft und Orientierung?

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Innerer Halt oder Flucht ins wohlige Nirvana?

In ihrer Arbeit mit Menschen vermittelt Vivian Dittmar verschiedene Praxisformen, die innere Verwurzelung geben und gleichzeitig zum Wirken in der Welt befähigen sollen. Aber wann wird der Weg nach innen zu einem »Spiritual Bypassing«?

evolve: Mir scheint, dass gerade in unserer heutigen Zeit mit so vielen Brennpunkten auf der Welt spirituelle Praktiken eine neue Bedeutung finden. Wie siehst du das aus deiner Arbeit?

Vivian Dittmar: Mich erinnert diese Frage an ein Gespräch, das ich gestern mit einem lieben Freund aus Israel geführt habe, der gerade zu Besuch war. Er hat mir erzählt, wie er mit der dortigen Situation umgeht. Er konzentriert sich auf seine Arbeit, die darin besteht, rituelle Räume und Gebetskreise zu öffnen. Man könnte sagen, er lädt Menschen dazu ein, sich mit dem Licht zu verbinden. Im Gespräch haben wir gespürt, wie gesund das ist, und uns andererseits gefragt, wo es zum Spiritual Bypassing wird.

Was ist der Unterschied zwischen »Wir suchen Halt in einer Praxis, um dem begegnen zu können, was gerade geschieht« und »Wir flüchten uns vor dem, was gerade geschieht, in das wohlige Nirwana einer Praxis«? Das ist eine der Fragen, die mich beschäftigen im Hinblick auf meine eigene Suche nach Balance. Wie sehr wende ich mich innerlich wie äußerlich dem zu, was in der Welt geschieht? Und wie sehr wende ich mich dem Transzendenten zu als Quelle der Kraft und Orientierung?

Licht und Dunkel verbinden

e: Das trifft den Kern der Fragestellung. Inwiefern brauchen wir einen inneren Rückzugsraum – nicht, um die Welt zu vermeiden, sondern um der Welt zu begegnen? Das ist schwer zu unterscheiden, weil es leicht ein Spiritual Bypassing und damit kein authentisches In-der-Welt-Sein ist. Inwiefern missbrauchen wir, die wir eine spirituelle Praxis als wichtig empfinden, solche Praxisformen, um der herausfordernden Weltsituation zu entkommen? Und wie finden wir Möglichkeiten, Werkzeuge, Lebenshaltungen, die uns erlauben, Resilienz zu entwickeln?

VD: Ja, eine Kernfrage für mich darin ist, inwieweit es auch mit dem Wesen der spezifischen Praktiken zu tun hat. Zwei Beispiele: Das eine ist die Praxis der Bewussten Entladung, die ich mit Menschen teile. Ich habe bewusst diese Praxis entwickelt, wo minimal zwei Menschen gemeinsam praktizieren. Die eine Person geht in den transpersonalen Raum der Liebe, den Raum des Bewusstseins, in dem alles in Ordnung ist – wie auch immer wir das nennen wollen. Die andere Person geht in das Bewusstsein des Leidens und der Dunkelheit. Wenn die beiden sich begegnen, wird eine Art alchemistischer Prozess möglich, in dem Heilung passiert und für beide eine Transformation stattfindet. Die Beobachtung ist, dass der lichte Raum in der einen Person gestärkt und der dunkle Raum in der anderen Person transformiert wird. Und dann tauschen wir die Rollen.

Die zweite Praxis, die mich im letzten Jahr sehr viel begleitet hat, ist »Tonglen«. Darin atmen wir das Leiden der Welt in unser Herz ein und atmen Mitgefühl und Liebe aus. Wir erfahren unmittelbar, wie in der Begegnung von Licht und Dunkel in unserem eigenen Herzen ein Transformationsprozess geschieht.

»Wie sehr wende ich mich innerlich wie äußerlich dem zu, was in der Welt geschieht?«

Das sind nur zwei Beispiele von Praktiken, in denen bewusst Licht und Dunkel zusammengebracht werden. Im Gespräch mit meinem Freund gestern hat er von Praktiken erzählt, durch die, wie ich es verstanden habe, das Dunkle vor allem vermieden wird. Ich gehe ins Licht und befasse mich nicht mit dem Dunklen.

Mich beschäftigt in dem Zusammenhang die Frage: Wo ist der Platz dieser unterschiedlichen Praktiken? Denn es gibt offensichtlich bestimmte Praktiken, bei denen Spiritual Bypassing schwieriger ist, weil sie so angelegt sind, dass alles darin vorkommt oder ich mich der Welt zuwende. Was nicht bedeutet, dass die anderen Praktiken nicht auch wichtig sind – sonst würde es nicht so viele Praxisformen geben. Oder gibt es sie nur, weil wir uns so gerne irgendwohin flüchten?

e: Du hast eine interessante Formulierung verwendet. Du hast von der Heilung der dunklen und der hellen Seite gesprochen. Könntest du darauf näher eingehen? Was motiviert dich, das so zu formulieren?

VD: Es kommt aus der Erfahrung der beiden Praktiken, die ich benannt habe. Das Licht in mir wird gestärkt durch eine bestimmte Form der Begegnung mit dem Dunklen in mir und in der Welt. So als würde ich ein Feuer entzünden und das Feuer brennt, indem es etwas verzehrt.

Ähnlich fühlt es sich an, wenn ich mich in der Meditation zum Beispiel dem Krieg in Gaza zuwende und dieses Leid einatme, wobei ich zuvor den Eindruck hatte, ich kann mich dem nicht zuwenden, es würde mir das Herz brechen. Ich atme es ein, ich nehme es manchmal wie einen dunklen Schleier wahr, den ich einatme. Das geht in mein Herz, und in meinem Herzen geschieht etwas, ich atme Mitgefühl, Liebe und Licht aus. Und dadurch wird mein Herz gestärkt. Paradoxerweise wird das Lichte in mir gestärkt und geheilt im Sinne von Ganzwerdung. Das Licht wird dadurch vollständiger.

Spirituelles und politisches Bewusstsein

e: Wenn ich dir zuhöre, erlebe ich, dass es in den Praxisformen, die du ansprichst, darum geht, die Komplexität von Wirklichkeit in ihrer Widersprüchlichkeit wahrzunehmen, anzunehmen und zu transformieren. Es ist die Integration einer als zutiefst problematisch empfundenen Komplexität der Wirklichkeit. Spiritual Bypassing ist das Auslassen dieser Komplexität und das vermeidende Eintauchen in pure Lichthaftigkeit.

VD: Genau das schien mir in dem Gespräch mit meinem israelischen Freund sehr deutlich: wie stark ihn die Komplexität und Absurdität überfordert. Er äußerte das tiefe Misstrauen in alle Systeme, die wir erschaffen haben. Ich habe benannt, dass ich deutlich wahrnehme, wie machtlos die UN ist, diesen Krieg zu verhindern. Es gibt Vereinbarungen wie die universelle Erklärung der Menschenrechte, aber wir sind gerade nicht fähig, sie umzusetzen. Er hat abgewunken und etwas gesagt wie: Ich will mit dem überhaupt gar nichts zu tun haben, es interessiert mich alles nicht, ich will nur das Licht.

Karen Müller, DER PRINZ UND SEIN GEFOLGE, 2008, Porzellanikon, Staatliches Museum für Porzellan in Hohenberg a. d. Eger, Foto: Alexander Feig

Institutionen und Vereinbarungen wie die UN, die Demokratie – so unvollkommen sie ist – und die universelle Erklärung der Menschenrechte sind Meilensteine, die wir uns erarbeitet haben. Sie sind ein Versuch, ein bestimmtes Bewusstsein in eine Form zu bringen, damit wir es leben können. Nicht nur in einer Meditation oder als Idee wahrnehmen oder in den Heiligen Schriften ausdrücken, sondern es auf die Erde bringen. Das ist viel anspruchsvoller, als es einfach in der Meditation zu erleben.

In meiner Arbeit ist es mir ein Anliegen, mich der Komplexität der Welt zuzuwenden und sie als Komplexität sein lassen zu können. Und es geht für mich noch einen Schritt weiter. Was bedeutet das in unserem Leben in der Dualität? Welche Handlungen oder Tugenden leiten sich daraus ab?

Wenn wir ganz ins Spiritual Bypassing gehen, verlieren wir oft das Interesse an diesen Fragen. Es ist ein Zynismus, der aus der Empfindung entsteht, dass sowieso alles anstrengend, kompliziert und absurd ist.

e: Was du sagst, verweist für mich auf zwei Formen von Bewusstsein, ein spirituelles und ein politisches Bewusstsein im tieferen Sinn des Wortes, nämlich das Bewusstsein der Polis, in der wir zusammenleben. Du hast die UNO angesprochen und damit einen größtmöglichen Kontext, in dem wir unsere Weltgemeinschaft organisieren. Das beginnt damit, anzuerkennen, dass wir zusammenleben. Das ist nicht nur eine Erfahrung der Verbundenheit, sondern wie wir zusammenleben können und wollen, muss geregelt werden. Und da wird es kompliziert. Der Konflikt im Nahen Osten zum Beispiel scheint unlösbar. Das Gefühl, es hört nie auf und es gibt eigentlich auch keine Aussicht, dass es aufhören könnte, verführt dazu, die Polis sein zu lassen. Aber das geht natürlich nicht, weil wir zusammenleben, ob wir wollen oder nicht. Man kann aber auch sagen, dass es eine Form von spirituellem Bewusstsein ist, wenn wir wahrnehmen, dass wir zusammenleben und dass wir darauf eine Antwort finden müssen. So erlebe ich dein Ringen in der Begegnung mit deinem israelischen Freund.

VD: Ja, die Realität ist, dass wir zusammenleben, und damit geht einher, dass dieses Zusammenleben gestaltet werden möchte. Wenn wir uns diesem Gestaltungsprozess entziehen, überlassen wir ihn Menschen, die möglicherweise weniger an Tugend interessiert sind. Das erleben wir gerade.

Du hast eben gesagt, dass der Konflikt, den ich angesprochen habe, unlösbar erscheint. Und ich glaube, was Menschen mit einem spirituellen Zugang fast wahnsinnig macht, ist diese Gleichzeitigkeit von zwei Bewusstseinsebenen. Einerseits ein Bewusstsein, in dem es offensichtlich ist, wie einfach es zu lösen wäre. Auf einer bestimmten Ebene gibt es überhaupt kein Problem, weil wir alle Menschen sind. Wir sind alle Brüder und Schwestern, wir leben auf einem kleinen Planeten. Wenn wir uns aber auf die Geschichten, kollektiven Ladungen, Verletzungen und Projektionen einlassen, dann kommen wir in diesen Knoten, der unlösbar erscheint. Für mich ist diese Gleichzeitigkeit irritierend. Weil ich sehen kann, dass beides wahr ist.

Komplexität und Transzendenz

e: Man kann den Unterschied zwischen dem, was ich politisches und spirituelles Bewusstsein genannt habe, auch benennen als einerseits ein Bewusstsein des Wahren, Guten und Schönen und andererseits ein Bewusstsein der Machbarkeit, des Machbaren. Macht im Sinne von etwas, das machbar und möglich ist. Und wie ich dich verstanden habe, sagst du, es braucht Menschen, die eine tiefe Erfahrung des Wahren, Guten und Schönen haben und sich gleichzeitig mit der Herausforderung des Machbaren beschäftigen. Sonst tun das nur Leute, denen es um nichts anderes als um die Machbarkeit und die Macht geht.

VD: Ja, und mit der Machbarkeit geht die Begrenztheit einher. Was machbar ist, ist begrenzt. Ich erfahre einerseits eine Bewusstseinsebene, auf der ich ein Innenerleben von Unbegrenztheit habe, und aus diesem Bewusstsein wende ich mich der Machbarkeit zu. Das ist dann auch ein inneres Spannungsfeld. In der Praxis der bewussten Entladung zum Beispiel gehe ich in einer der beiden Rollen in einen Bewusstseinszustand, in dem ich mit allem in Frieden bin und alles umarmen kann. Dann tausche ich die Rollen und gehe in einen Bewusstseinszustand, in dem ich kleinlich, eng, verletzt, getrennt bin. Beides ist in mir wahr.

»Wir erfahren unmittelbar, wie in der Begegnung von Licht und Dunkel in unserem eigenen Herzen ein Transformationsprozess geschieht.«

e: In einer spirituellen Sicht ist es ja die Herausforderung, diese zwei Ebenen zusammenzubringen. Das heißt eben nicht, nur mit Formen der Seligkeit zu reagieren, sondern auch mit Formen der Komplexität und der Wahrnehmung von Unmöglichkeit. Dieses Paradox können wir da sein lassen, in der Hoffnung oder vielleicht auch mit der Erfahrung, dass im Sich-Einlassen eine Transformation möglich wird. Das ist existenziell sehr herausfordernd, weil der Ort, an dem das geschieht, ich selbst bin.

VD: Viele Menschen sind verhaftet in der Komplexität und Unmöglichkeit, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der viele Menschen die Realität einer spirituellen Dimension verleugnen oder in Unkenntnis dessen leben. Das ist gerade in Zeiten wie diesen schwierig, denn dann bin ich verhaftet in der Komplexität des Machbaren, des Begrenzten, des Unmöglichen. Ich versuche transformierend zu wirken, verstricke mich aber immer tiefer. Es braucht einen Schritt in die Transzendenz, in der ich die Komplexität von außen betrachten kann. Dann kann ich mich aus der Tran­s­­-
zendenz der Komplexität wieder zuwenden, so wird Transformation möglich.

Die Verführung des Heils

e: Du beschreibst eine Bewegung, in der ich mich aus der Komplexität befreie, aber nicht um zu fliehen, sondern um mich ihr so stellen zu können, dass es transformierend wirkt. Praktiken, die du entwickelt hast und die andere entwickeln, bilden die Grundlage, um eine spirituelle Dimension in der Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit zu integrieren. Hier sind Menschen angefragt, die sich dieser Dimension bewusst sind und sich der Verantwortung stellen, sie mit einzubringen.

VD: Ja, dabei gibt es verschiedene Fallen. Die eine ist, dass ich verhaftet bleibe in der Unmöglichkeit. Die zweite Falle ist, dass ich die Transzendenz erlebe und mich von der Komplexität abwende. Deswegen brauchen wir kontinuierliche Praxis, damit wir immer wieder den Schritt aus der Komplexität heraus machen können, um uns ihr dann wieder zuzuwenden und uns davon berühren zu lassen. Das ist ein dynamischer Prozess.

e: Ich muss mich der Tatsache stellen, dass die Welt komplexer ist, als ich es gerne hätte. Das ist alles andere als bequem. Das erfordert eine gewisse Reife, und dazu gehört auch unsere analytische intellektuelle Kapazität, die Komplexität zu fassen. Eine Versuchung besteht darin, Dinge einfacher zu sehen, weil es unerträglich ist, wie verwickelt die Situation ist. Aber wir müssen diesen Leidensdruck ernst nehmen, um individuell und kollektiv als Gesellschaft daran wachsen zu können.

VD: Es ist nicht nur intellektuell unerträglich, sondern vor allem emotional unerträglich. Wenn ich aber in die Transzendenz gehe und mich dann dem anderen zuwende, entsteht eine Fähigkeit, Widersprüchliches, Unversöhnliches, Konflikte in mir und in der Welt als solche wahrzunehmen und zunächst einmal sein zu lassen. So als würde ich es von der Seite betrachten, so dass ich es als System wahrnehme und nicht in der Verhaftung, in der ich in dem einen oder anderen Pol gefangen bin. Und dadurch entsteht eine neue Fähigkeit, es emotional zu beinhalten, ohne Komplexität auszublenden.

e: Was viel von uns verlangt. Denn es gibt die Verführung des Heils, weil das Unheil so unerträglich ist. Jedes Heil, insbesondere das Scheinheilige, hat eine große Attraktivität. Deshalb ist es Teil des Wachsens, das Scheinheilige wahrzunehmen. Darin liegt eine emotionale Reife, dem Scheinheiligen nicht zu erliegen, sondern die Unerträglichkeit von Wirklichkeit wahrzunehmen und gleichzeitig etwas zu erfahren, das davon nicht berührt ist. Wir brauchen eine spirituelle Verbindung, um das überhaupt emotional halten zu können.

Karen Müller, KOPF, 2001, Porzellanikon, Staatliches Museum für Porzellan in Hohenberg a. d. Eger, Foto: Alexander Feig

VD: Ja, das verlangt sehr viel von uns. Aber der Zustand der Verstrickung und der Verhaftung verlangt uns noch mehr ab. Wenn ich mich in der Verstrickung, Unmöglichkeit, Unerträglichkeit und Komplexität verliere, bin ich in einem Zustand des Leidens. Wenn ich es durch eine Praxis schaffe, den Ort in mir zu finden, der jenseits von alldem ist, wo es friedlich ist und wo Einheit und Einfachheit sind, kann ich die Komplexität und die Konflikte in mir da sein lassen. Das ist anspruchsvoll, aber viel heilsamer, auch wenn Schmerz da ist.

Ich unterscheide zwischen Leid und Schmerz und beschreibe meine Arbeit als eine Reise vom Leiden in den Schmerz. Und ich scherze dann, dass es mich wundert, dass Leute überhaupt kommen, weil sich das ja nicht so attraktiv anhört. Die meisten verkaufen etwas wie: Befreie dich vom Leiden, vom Schmerz, von der Dunkelheit – ich mache das explizit nicht. Ich erlebe den Zustand der Zugewandtheit zum Leiden, zur Komplexität, zur Unmöglichkeit der Welt, wenn ich selbst in Kontakt mit dem transzendenten, transpersonalen Kern bin, als einen zutiefst erfüllenden Zustand. Anspruchsvoll, aber erfüllend und wesentlich einfacher als die Verhaftung in der Komplexität.

Im Weltlichen wirksam

e: Die Reise vom Leiden in den Schmerz bedeutet, dass du mit der Komplexität des Schmerzes in Frieden sein kannst. Was nicht notwendigerweise etwas vom Schmerz nimmt. Das ist vielleicht sogar die eigentliche spirituelle Praxis. Es verlangt eine Reife, die weder dem Heil nachgeht noch sich in der Komplexität des Leids verliert, das eine Grundkonstante der menschlichen Erfahrung ist. Wir sind gerade in sehr herausfordernden, schwierigen Zeiten. Aber wir sind als Menschheit nicht zum ersten Mal in solch einer Situation. Viele der Menschen, die in unterschiedlicher Weise darauf mit Weisheit reagiert haben, beschreiben etwas Ähnliches, wie du es ansprichst. Es ist in aller Vielfältigkeit eine Grundkonstante von spiritueller Praxis.

VD: Von spiritueller Praxis, die im Weltlichen wirksam wird. Ich sage bewusst, eine Praxis, die im Weltlichen wirksam wird, und nicht, in der Welt wirksam wird. Es gibt viele Kulturen, die einen Teil der Bevölkerung abgestellt haben, um sich nur um diese spirituelle Dimension zu kümmern und sich deshalb vom Weltlichen abzuwenden. Oft waren diese Menschen trotzdem politisch sehr aktiv.

Es ist eine spannende Frage, inwieweit eine spirituelle Praxis im Weltlichen wirkt. Wenn ich ein Mantra singe und das mit einer gewissen Haltung und mit einem bestimmten Bewusstsein tue, ist deutlich spürbar, dass ich mich mit einem Feld verbinde, das über Jahrtausende von Menschen kultiviert wurde, die dieses Mantra mit einer hingebungsvollen Haltung gesungen haben. Wenn ich Menschen in diese Praxis einführe, schaffe ich ein Bewusstsein dafür, indem ich es mit einem Tempel vergleiche, als würden wir den Tempel einer anderen Kultur betreten, den Menschen über Jahrtausende gepflegt haben. Das ist ein immaterielles menschliches Kulturgut, das uns als Ressource zur Verfügung steht.

Beim Yoga ist es das Gleiche. Ich mache bestimmte Bewegungen und werde spürbar eingeklinkt in ein bestimmtes Feld, wo eine bestimmte Information zur Verfügung steht, weil über sehr lange Zeit ein bestimmtes Bewusstsein kultiviert wurde. Das Gleiche kann ich über die heiligen Tänze der Sufis sagen und ganz viele Praktiken, die über sehr lange Zeit kultiviert wurden.

»Die Realität ist, dass wir zusammenleben, und damit geht einher, dass dieses Zusammenleben gestaltet werden möchte.«

Verschiedene Formen von spiritueller Praxis eröffnen unterschiedliche Formen, um in der Welt zu wirken. Eine Möglichkeit des Wirkens liegt im Politischen, und eine andere Möglichkeit vollzieht sich unmittelbar über das Bewusstsein. Hier ist die Grenze zum Spiritual Bypassing noch schwerer zu ziehen.

e: Das bezieht sich auf das, was man traditionell unter spirituellen Praktiken versteht, die schnell als Form des Spiritual Bypassing abgeschrieben werden. Aber darin lebt auch eine andere Bedeutung des Wirkens im »Weltlichen«.

VD: Ja, und das ist eine Frage der arbeitsteiligen Gesellschaft. In vielen traditionellen
Kulturen ist es so, dass sich ein Teil der Gesellschaft um die spirituelle Dimension kümmert, und andere haben die Möglichkeit, sich in ihrer alltäglichen Praxis immer wieder darin einzuklinken.

Ich habe als Kind auf Bali und später mehrere Jahre in Indien gelebt. Dort ist es viel leichter, sich einzuklinken und unmittelbare Erfahrungen von Transzendenz im spirituellen Raum zu machen. Man könnte das so denken, dass es in einer arbeitsteiligen Gesellschaft Leute gibt, die sich um diese spirituelle Dimension kümmern. Dann gibt es Leute, die eine Brücke sind, sie pendeln zwischen Transzendenz und Weltlichem. Und dann gibt es Leute, deren Aufgabe es ist, sich mit dem Weltlichen zu befassen.

e: Dieses Zusammenspiel kann als eine Ökologie spiritueller Praktiken verstanden werden. Wobei ein Teil davon aussieht wie Spiritual Bypassing und ein anderer wie reine Weltlichkeit. Aber in Verbundenheit wird beides verwandelt.

VD: Ich würde das noch nicht mal als spirituelle Praktiken bezeichnen. Einige üben spirituelle Praktiken, die anderen Brückenpraktiken und wieder andere weltliche Praktiken. Und es gibt Menschen, die im Weltlichen unterwegs sind, also vielleicht politisch engagiert sind, aber trotzdem eine starke Verbindung mit dem eigenen Herzen und der Herzintelligenz haben und bestimmten Werten folgen, ohne dass sie sich auf eine Yogamatte begeben oder Mantren singen. Sie wirken durch die Tugendhaftigkeit ihrer Verkörperung oder ihrer Grundhaltung, mit der sie politisch in der Welt tätig sind.

Die Frage ist also weniger, in welchem Bereich oder auf welcher Ebene jemand wirkt, sondern vielmehr, auf was die Person ausgerichtet ist. Ist es ihr Anliegen, das Wahre, Gute und Schöne in der Welt zu mehren oder nicht?

Author:
Dr. Thomas Steininger
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