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Welche Bedeutung hat heute die Integrale Lebenspraxis?
Das integrale Denken liefert wertvolle Landkarten zur menschlichen Entwicklung. Aus der Theorie hat sich auch eine »Integrale Lebenspraxis« entwickelt. Wie trägt diese zu einem ganzheitlicheren und sinnstiftenden Leben bei, und welche menschlichen Entwicklungspotenziale mobilisiert sie?
Ich erinnere mich noch gut, wie vor rund 20 Jahren ein Ruck durch die integrale Community ging, als die »Integrale Lebenspraxis« (ILP) aufkam. Das Integrale war als Metatheorie bekannt, in der Ken Wilber Lebensbereiche wie Spiritualität, Wissenschaft und Philosophie in einem Modell zusammenbringt und versucht, das Leben und die Welt im Ganzen in ihrer wechselseitigen Verwobenheit tiefer zu durchdringen. Der integrale Blick auf Quadranten, Entwicklungslinien und -stufen (AQAL) macht bis heute die Ordnung und Entfaltung des Lebens in all seiner Komplexität verständlicher. Die ILP bot erstmals ein Übungssystem an, das versucht, die Ganzheitlichkeit der Integralen Theorie im Sinne des praktischen Lebensvollzugs umzusetzen.
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Welche Bedeutung hat heute die Integrale Lebenspraxis?
Das integrale Denken liefert wertvolle Landkarten zur menschlichen Entwicklung. Aus der Theorie hat sich auch eine »Integrale Lebenspraxis« entwickelt. Wie trägt diese zu einem ganzheitlicheren und sinnstiftenden Leben bei, und welche menschlichen Entwicklungspotenziale mobilisiert sie?
Ich erinnere mich noch gut, wie vor rund 20 Jahren ein Ruck durch die integrale Community ging, als die »Integrale Lebenspraxis« (ILP) aufkam. Das Integrale war als Metatheorie bekannt, in der Ken Wilber Lebensbereiche wie Spiritualität, Wissenschaft und Philosophie in einem Modell zusammenbringt und versucht, das Leben und die Welt im Ganzen in ihrer wechselseitigen Verwobenheit tiefer zu durchdringen. Der integrale Blick auf Quadranten, Entwicklungslinien und -stufen (AQAL) macht bis heute die Ordnung und Entfaltung des Lebens in all seiner Komplexität verständlicher. Die ILP bot erstmals ein Übungssystem an, das versucht, die Ganzheitlichkeit der Integralen Theorie im Sinne des praktischen Lebensvollzugs umzusetzen.
Woher die damalige Euphorie kam, lässt sich vielleicht nachvollziehen, wenn man liest, wie Ken Wilber die ILP einführte: »Auf den integralen Entwicklungsstufen beginnt das gesamte Universum Sinn zu machen und sich als zusammenhängendes zu erweisen, ja, tatsächlich als Uni-versum, die ›eine Welt‹, die nicht nur unterschiedliche Philosophien und Ideen über die Welt vereint, sondern auch unterschiedliche Praktiken für Wachstum und Entwicklung. Integrale Lebenspraxis ist eine solche integrierte Praxis, eine Praxis, die Ihnen hilft, in Ihre größten Kapazitäten hineinzuwachsen – Ihre höchste Freiheit und größte Fülle in der Welt als ganzer, in Beziehungen, Arbeit, Spiritualität, Beruf, Spiel und im Leben selbst.« ILP brachte das Versprechen mit sich, als Mensch immer integraler zu werden und in tiefere Sinnzusammenhänge hineinzuwachsen.
Die Kraft des Zusammenwirkens
ILP geht von vier Kern-Modulen aus, die man für den eigenen spirituellen Weg miteinander verbindet. Das Körper-Modul adressiert Bewegung und die Arbeit mit feinstofflichen Energien wie im Yoga, Qigong oder Kampfsport und beinhaltet eine ausgewogene Ernährung. Das Modul zum Verstand lädt dazu ein, sich in Themen zu vertiefen, sie zu studieren und einen integralen Bezugsrahmen zu entwickeln. Das Geist-Modul beinhaltet spirituelle Übungen wie Meditation, Gebet, mitfühlenden Austausch und das Miteinander in spiritueller Gemeinschaft. Und die Arbeit mit dem Schatten bringt Elemente aus Psychotherapie und Trauma-Arbeit ein.
»Auf den integralen Entwicklungsstufen beginnt das gesamte Universum Sinn zu machen.«
Zur damaligen Zeit machte das ILP-Modell erstmals das synergetische Potenzial verschiedener spiritueller Übungen, das heute vielen sehr vertraut ist, überhaupt wahrnehmbar. Ich selbst beispielsweise begann zu dieser Zeit meine Tage mit stiller Meditation, um möglichst wach, offen und mit dem Leben verbunden zu sein. Und zum Tagesausklang übte ich Qigong, um körperlich und geistig zu entspannen und »runterzukommen«. Dass die feinstoffliche Körperarbeit über die Zeit auch meine geistige Entfaltungsfähigkeit förderte, spürte ich eher am Rande. Das Modell der ILP macht solche konstruktiven Wechselwirkungen sichtbarer und lädt dazu ein, sie gezielt durch die Kombination verschiedener Praxisformen zu fördern. Heute nehme ich, insbesondere während Retreats, viel bewusster war, wie körperliche und geistige Praxis nicht nur einander ergänzen, sondern sich wechselseitig verstärken. In diesem Sinne ist ILP bis heute wie eine Blaupause, die es erleichtert, sich ganzheitliche spirituelle Übungsprogramme zusammenzustellen, in denen das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Dieser modulare Aufbau der ILP bringt allerdings eine starke Individualisierung, man könnte auch sagen Selbstbezüglichkeit der Praxis mit sich, denn man übt oft alleine und sucht sich wie von einer Speisekarte die Übungen aus, die man besonders mag. Doch ermöglicht das wirkliche Transformation? Oder schwingt hier auch Selbsttäuschung mit? Spielereien wie die so genannten 1-Minute-Praktiken etwa, die man spontan in den Alltag einschiebt, legen dies nahe. Denn wie viel Entwicklung ist in einer Minute wohl möglich? Hier wird ILP leicht zur Abkürzung auf einem Weg der Selbstoptimierung. Diese blinden Flecken wurden in den letzten Jahren bei der Weiterentwicklung der ILP durchaus in den Blick genommen. So entstanden im Integralen, wie im Folgenden zu sehen sein wird, auch wesentliche Beiträge zu einer Schattenarbeit. Und die Entfaltung gemeinschaftlicher Übungsszenarien steht inzwischen auch auf der integralen Agenda.
Schatten und Licht
Mit dem 3-2-1-Prozess etwa wurde ein Ansatz entwickelt, den man als wesentlichen Baustein einer Licht- und Schattenarbeit betrachten kann. Dass Schattenarbeit heute in spirituellen Kreisen in aller Munde ist, dürfte nicht zuletzt hier seine Wurzeln haben. »Es war eine Zeit der Aufbruchstimmung, und sehr viele, die im Integralen unterwegs waren, praktizierten ILP. In meinen Seminaren war der 3-2-1-Prozess immer ein Muss«, erinnert sich etwa Michael Habecker, der im deutschsprachigen Raum zu den profundesten Kennern der Integralen Theorie gehört. Bei dieser Form der Schattenarbeit wird ein Problem aus drei Perspektiven durchdrungen. Im ersten Schritt wird das, was herausfordert, aus einer distanzierten äußeren Es-Perspektive (3. Person) betrachtet und beschrieben. Im nächsten Schritt geht man mit dem Thema in einer Du-Perspektive (2. Person) in den inneren Dialog. Im letzten Schritt schließlich werden die zuvor noch abgespaltenen Aspekte wieder bewusst in das eigene innere Erleben, in die Ich-Perspektive (1. Person) integriert. Es ist immer wieder erstaunlich, welche Wendungen Themen beim Durchlaufen dieses Prozesses nehmen und welche inneren Freiheiten sich einstellen, wenn diese Auseinandersetzung gelingt.
Die Betonung der Schattenarbeit im Integralen hat, zumindest in meiner Wahrnehmung, das Verständnis spiritueller Entwicklung in den letzten 20 Jahren erheblich verändert. Lange Zeit herrschte der Glaube vor, dass Meditation als Weg des Erwachens die spirituelle Praxis schlechthin ist. Durch das Framework der ILP wurde jedoch deutlich, wie sehr es für eine nachhaltige menschliche Entwicklung auch des psychischen Reifens, der kognitiven Entwicklung und der körperlichen Verankerung im Leben bedarf.
Vom Ich zum Wir
Heute, wo Wir-Raum-Arbeit und ko-kreative Praktiken Hochkonjunktur haben, stellt sich verstärkt die Frage, welche gemeinschaftlichen Qualitäten sich in der Integralen Lebenspraxis kultivieren lassen. Ich erinnere mich noch gut an meinen eigenen Einstieg. Das Integral Institute hatte ein Starter Kit mit mehreren DVDs und CDs herausgegeben, die in die Basics der ILP einführten. Ich saß also, in Ermangelung bestehender Übungsgruppen, zunächst einmal alleine zu Hause und übte mit mir selbst. Diese individualistischen Tendenzen sind mit Blick auf ILP bis heute ein Thema, und selbst prominente Integrale sind nicht vor ihnen gefeit. Corey deVos etwa, der auf Integral Life seit Jahren selbst ILP-Angebote macht, erzählt: »Ich bin quasi mit ILP aufgewachsen, und ein großer Teil meiner Praxis war eine Art Solo-Projekt, weil ich alleine praktiziert habe. Was das bedeutet, hat sich mir erst erschlossen, als ich damit begonnen habe, Gruppen zu geben. Da wurde mir bewusst, wie sehr ich zögere, mich mit anderen zu verbinden.« Und Lisa Frost, ILP-Facilitator auf Integral Life, ergänzt: »In der gemeinsamen Praxis liegt eine exponentielle Komponente. Im Miteinander erweitert sich unsere jeweils eigene Praxis, und wir helfen einander dabei.«
»›Big Wholeness‹ ist ein emergierender Zustand, in dem sich persönliche, spirituelle und gesellschaftliche Dimensionen miteinander verbinden.«
Die integrale Beraterin Daniela Borschel weiß aus eigener Erfahrung, dass ILP in Gruppen ein voraussetzungsreicher Weg ist. Sie leitet eine virtuelle Gruppe zur Schatten- und Lichtarbeit, in der der 3-2-1-Prozess zum Übungsrepertoire gehört. »Sich gemeinsam auf diese Art von Arbeit einzulassen, braucht viel Vertrauen«, sagt sie und macht die Erfahrung, dass insbesondere psychologisch erfahrenere Menschen sich tiefer in Gruppenprozesse der Schattenarbeit einlassen können. Die Weitung vom Ich zum Wir sei im gemeinsamen Üben wesentlich. »Manchmal bedaure ich, dass die Integrale Lebenspraxis heute noch immer leicht als Weg der Ich-Optimierung verstanden wird. Für mich sind auf einer tieferen Ebene Ich und Wir miteinander verbunden. Ich beginne unsere Gruppe manchmal mit einer Ich-Übung, um von dort aus das Ich zu öffnen und auf die gemeinsame Arbeit im Wir vorzubereiten«, erklärt Borschel.
Wirksamkeit in der Welt
Die Berücksichtigung der gemeinschaftlichen Dimension tritt seit einigen Jahren in der ILP stärker zutage, weil die Bedeutungskrise unserer Zeit und die kulturellen und ökologischen Herausforderungen, in denen wir stehen, von uns allen ein verbundeneres, verwobeneres In-der-Welt-Sein anfragen. Terry Patten, der zu den Ko-Autoren des eingangs erwähnten ILP-Buches gehörte (und 2021 verstorben ist), machte sein 2018 erschienenes Buch »Eine neue Republik des Herzens« zu einem eindringlichen Plädoyer, die Selbstbezogenheit integraler Praxis zugunsten eines stärkeren spirituellen Aktivismus im Sinne einer Wirksamkeit in der Welt zurücktreten zu lassen. Patten sagte: »Erforderlich ist eine breite Transformation der gesamten menschlichen Zivilisation. Wir werden zu einer robusten und dynamischen neuen Form des spirituellen Aktivismus – oder der aktivistischen Spiritualität – aufgerufen, die die ›innere Arbeit‹ der persönlichen Transformation und des Erwachens mit der ›äußeren Arbeit‹ des Dienstes, des sozialen Unternehmertums und des Aktivismus verbindet.«
Auch Ken Wilber bewegt sich mit seinen jüngeren Arbeiten in diese Richtung und betont stärker, dass es bei spiritueller Entwicklung auch darum geht, sich in der Welt aktiv gestaltend zu zeigen. In seinem neuesten Werk »Finding Radical Wholeness« (erscheint im Juni 2025 auf Deutsch) bringt er beispielsweise fünf Dimensionen ins Spiel, die jeweils in sich und erst recht im Zusammenspiel einen stärkeren prozesshaften Charakter entfalten, als dies bei den bisherigen ILP-Modulen der Fall war, die eher wie ein Selbstbedienungsladen anmuten. Wilbers fünf Dimensionen der Transformation sind: Waking up (Aufwachen – spirituelles Erwachen), Growing up (Aufwachsen – persönliches Reifen), Opening up (Aufmachen – emotionale und Beziehungsintelligenz), Cleaning up (Aufräumen – Schattenarbeit und Traumaheilung) und Showing up (Auftauchen – authentisches Engagement mitten im Leben). Diese Dimensionen repräsentieren nicht mehr klar voneinander getrennte Übungspraktiken, sondern sich wechselseitig verstärkende Prozesse. Wilber selbst spricht von »Big Wholeness«, einer großen Ganzheit als Metazustand der Integration. Dieser ist laut Wilber ein emergierender Zustand, in dem sich persönliche, spirituelle und gesellschaftliche Dimensionen immer wieder dynamisch miteinander verbinden und neue Potenziale hervorbringen. Für ihn bedeutet Engagement mitten in der Welt (Showing up) demzufolge, die Erkenntnisse aus den anderen Dimensionen (Waking up, Growing up, Opening up, Cleaning up) nicht nur theoretisch zu verstehen, sondern ins Leben zu bringen und in Interaktion mit der Welt umzusetzen. Wie das konkret funktioniert, führt Wilber nicht aus und verweist schlicht auf die Bausteine seiner Theorie. Showing up heißt dann, mit Blick auf ein Thema oder eine Herausforderung bewusst die Perspektive der vier Quadranten einzunehmen, diese gezielt in praktischem Handeln umzusetzen und zu verkörpern, sie zum Inhalt von Meditation zu machen und sich im Leben Ziele zu setzen, die die Quadrantenperspektive stärken.
»Die Betonung der Schattenarbeit hat das Verständnis spiritueller Entwicklung erheblich verändert.«
An dieser Stelle beschleicht mich, obwohl ich seit vielen Jahren dem Integralen nahestehe, ein Unbehagen. Wenn alles immer wieder bei den Quadranten, den Entwicklungslinien und -stufen landet, bekommt die Praxis etwas Bürokratisches. Corey deVos jedenfalls spricht davon, dass ILP »sehr kategorisch« sei. Sie wirkt, selbst mit der stärkeren Prozessorientierung, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat, recht mechanistisch. Und doch kann man sehen, wie die analytische Klarheit der ILP das Verstehen spiritueller Praxis in den letzten Jahren positiv geprägt hat. Dass Schattenarbeit und Traumaheilung heute so boomen, ist sicherlich auch dem Integralen zu verdanken. Es hat also viel zu den neuen Praktiken beigetragen, die heute emergieren. Oder, wie es der integrale Kenner Michael Habecker ausdrückt: »Mir kommt das Bild einer Samenkapsel, auf der ILP stand. Diese Kapsel ist inzwischen explodiert, und nun sind wir umgeben von allen möglichen blühenden Blumen, aber der Begriff des Integralen tritt in den Hintergrund, weil er seinen Zweck erfüllt hat.« Es bleibt spannend zu sehen, wie sich die von Wilber propagierte radikale Ganzheit tatsächlich entfalten wird. Wir können die Transformation zu dieser tieferen Verbundenheit nicht machen, aber die Integrale Lebenspraxis gibt uns Hinweise, wie wir uns auf das Leben im Ganzen einlassen können, um ihr näher zu kommen.
Author:
Dr. Nadja Rosmann
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