Die Magie der Dinge

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Interview|Profile
Published On:

April 30, 2024

Featuring:
Helen Britton
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Issue:
Ausgabe 42/2024
|
April 2024
Die Kraft der Rituale
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Im Dialog mit der Materie

Die australische Künstlerin Helen Britton, die seit vielen Jahren in München ihr Atelier hat, arbeitet mit verschiedensten Medien wie Malerei, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen und Fotografien. Besonders bekannt ist sie dafür, dass sie die Gestaltung von Schmuck als Kunstform entwickelt. In ihrer Kunst nimmt sie alte handwerkliche Traditionen auf und verwendet Dinge, die nicht mehr gebraucht werden oder weggeworfen wurden. In einem alchemistischen Prozess schafft sie aus diesen Erfahrungen und geschichtlichen Verbindungen einzigartige Kunstwerke. Wir sprachen mit der Künstlerin über ihre Arbeit mit der Magie der Dinge.

evolve: Ein Merkmal deiner Kunst ist die Arbeit mit Materialien, die weggeworfen werden oder die nicht mehr nützlich sind. Du bringst sie in den künstlerischen Prozess und transformierst sie in ein Kunstwerk oder Schmuckstück. Wie erlebst du diese Faszination für das Material oder die Dinge?

Helen Britton: Ich finde Materialität sehr reizvoll in einem tiefgehenden Sinn. Die Qualität eines Stoffes oder einer Teetasse fasziniert mich. Ich bin mir sehr bewusst, woher diese Dinge kommen. Was hat es bedeutet, diesen Gegenstand herzustellen? Meine Großmutter und meine Mutter haben auf einem Bauernhof in Australien gelebt, wo man sehr respektvoll mit Materialien umgegangen ist. Nicht aus Armut, sondern aus einem gewissen Verständnis für den Wert bestimmter Dinge und guter Materialien, die länger halten. Dadurch ist mein Interesse an den Geschichten der Materialien gewachsen. Ich frage mich immer, woher die Materialien, mit denen ich arbeite, eigentlich kommen. Egal, ob es ein Stein ist, Beton oder Porzellanblumen. Wo wurde das Kaolin gewonnen, aus dem Porzellan­gegenstände hergestellt wurden? Den ganzen Zyklus der Herstellung finde ich faszinierend. Es bettet mich ein in einen größeren Zyklus von Materialität. Ein ewiges Umwälzen von Materialien, in das ich mich einfüge, indem ich Kunstwerke schaffe. Aber die eigentliche Arbeit, die mein Leben bestimmt, ist die Recherche über die Herkunft der Dinge.

Ich fahre zum Beispiel in den Thüringer Wald und erforsche, wie dort Glas produziert wurde, oder nach Idar-Oberstein, um die Edelsteinproduktion zu untersuchen. Gerade war ich an der Universität von ­Limoges für ein großes Projekt über die Geschichte des Porzellans. Mir geht es nicht darum, ein trockenes kunsthistorisches Produkt abzuliefern, sondern meine Recherche folgt meinen Interessen, meiner emotionalen Reaktion, meiner Intuition und dem, was für mich wichtig ist.

Die Geschichte der Gegenstände

e: Du siehst nicht nur die Materialien, sondern auch deren Geschichte, sozusagen den ganzen Prozess: was eigentlich dazu geführt hat, dass sie so geworden sind, auch wie sie einen Ort verändert haben, z. B. eine Stadt wie Idar-Oberstein, die historischen Bezüge. Was fasziniert dich daran, diese Geschichte so tief zu erforschen und vergessene Handwerke auf diese Weise zu würdigen und in die Sichtbarkeit zu bringen?

HB: Es muss immer einen persönlichen Impuls geben, einen wirklichen Bezug. Ich bin nicht auf der Suche nach dem nächsten verlorenen Handwerk, mit dem ich arbeiten will. Es muss einen Bezug haben zu meinem Leben, und dann versuche ich, meine Geschichte und die Geschichte dieser Materialien zu erzählen. Es ist meine Aufgabe als Künstlerin, diese Geschichten zu kommunizieren. Natürlich gibt es dabei eine Tendenz zur Rettung, wenn man denkt: ›Oh Gott, das ist das letzte Beispiel dieser Art. Darin liegt so viel Leid und Leidenschaft.‹ Ich finde es tief inspirierend und faszinierend, an diese Orte zu gehen, mit Leuten zu sprechen und den Geschichten zuzuhören.

Ich bin ein politischer Mensch und von der Welt im Moment dermaßen entsetzt, dass ich meinen Glauben an die Menschheit fast verloren habe. Aber auf der anderen Seite gibt es diese wunderbaren Dinge, die Menschen geschaffen haben, die oft sehr bescheiden, eigenartig und besonders sind, wie zum Beispiel der Weihnachtsbaumschmuck in Thüringen. Manchmal braucht es eine Ausländerin, die das neu betrachtet – einen Spiegel von außen, sei es auf persönlicher oder kultureller Ebene, um auf eine poetische und unaufgeregte Art und Weise darüber zu staunen, dass Menschen so etwas erfunden und damit ihren Lebensunterhalt verdient haben. Es ist doch eigenartig und exotisch, einen Baum mit Glasschmuck zu schmücken. Für mich ist diese Faszination in einer Kindheitserfahrung verwurzelt, weil einer dieser klassischen Vögel aus dem Thüringer Wald es zu uns nach Australien auf den Weihnachtsbaum geschafft hatte – wie, das weiß ich nicht.

»Wichtig ist mir die menschliche Kreativität und die Möglichkeiten, die daraus entstehen.«

Ähnlich erging es mir mit den Limoges-Porzellanminiaturen, die man meiner Tante und meiner Mutter geschenkt hatte. Die fand ich schon als Kind seltsam. Aber ich wusste, dass es irgendwo in Frankreich eine Stadt namens Limoges gibt, wo sie produziert werden. Davon habe ich der Professorin an der Hochschule in Limoges erzählt und sie hat mich dort als Artist in Residence eingeladen. Nun bringe ich die Miniaturen meiner Mutter dorthin zurück und sie werden Teil einer künstlerischen Arbeit.

e: Wenn du über deine Arbeit sprichst, merkt man, dass die Grenze zwischen Kunst und Handwerk oder Kunstgewerbe für dich nicht wirklich existiert.

HB: Kunst ist ein westliches kulturelles Konstrukt. Dadurch entsteht eine Hierarchie, die Kontrolle schafft und den heutigen Kunstmarkt bestimmt. Wichtig sind mir die menschliche Kreativität und die Möglichkeiten, die daraus entstehen. Was wäre, wenn die jungen russischen Männer, die jetzt an die Front geschickt werden, für zwei Jahre an Kunsthochschulen wären und dort malen und zeichnen lernten oder wie man einen Tisch baut und ein Hemd näht? Oder weitergedacht, wie man einen Garten bepflanzt, wie man Kinder oder ältere Menschen pflegt. Wenn Kreativität unsere Hauptaufgabe wäre, was für eine Veränderung würde dadurch möglich sein?

Helen Britton bei der Arbeit in ihrem Münchner Atelier, aus dem Film »Hunter from Elsewhere – eine Reise mit Helen Britton«

Kunst beschränkt sich nicht auf Genies. Natürlich gibt es begabte Menschen, die sich künstlerisch in etwas vertiefen. Das ist nicht für jeden. Man kommt dabei an seine Grenzen, denn es ist ein intensives Erleben, künstlerisch so fokussiert tätig zu sein. Aber menschliche Kreativität ist ein Kontinuum und darin liegt eine unglaubliche Ressource.

Das emotionale Leben der Materie

e: Deine Arbeit beschäftigt sich stark mit den Dingen, die wir benutzen. In der kapitalistischen Konsumgesellschaft, in der wir leben, ist ein bestimmter Bezug zu Dingen entstanden, der darauf hinausläuft, fertige Dinge zu konsumieren, die dann sehr schnell weggeworfen werden. Es ist meist nicht mehr so, dass ein Material oder ein bestimmtes Ding einen Wert hat, so dass man es repariert und wertschätzt. Meist kaufen wir Dinge, die irgendwo billig hergestellt werden. Siehst du deine Arbeit auch als einen Kommentar zu diesem Umgang mit Dingen, wie er heute vorherrscht?

HB: Es ist kein direkter Kommentar, aber die Kunst kommt in der westlichen Welt aus der klassischen handwerklichen Tradition, die für die Ewigkeit gemacht ist. Das ist ein Konzept, das gegen die Konsumkultur spricht. In meiner Kunst versuche ich subtil und durch Geschichten zu wirken. Es ist wie ein Märchen oder eine Erzählung: Daraus gibt es sehr viel zu lernen, wenn man lernen möchte.

Die Kritik an der Konsumgesellschaft sehe ich nicht unbedingt als meine Aufgabe. Es ist eine politische Frage, wie man eine Gesellschaft so verändern kann, dass die Menschen nicht unbedingt Schweinefleisch für 2 € pro Kilo kaufen oder Unmengen von Klamotten online bestellen und dann bald wieder wegschmeißen. Nichtsdestotrotz finde ich es wichtig, diese Geschichten zu erzählen. Ich will hoffen, dass es auf eine subtile Art und Weise durchsickert, in den Menschen etwas erweckt, so dass sie sensibler werden und sich trauen, ihrer eigenen Kreativität zu folgen.

e: Deine Kunst bringt einen zum Nachdenken: Wie gehe ich eigentlich mit den Dingen um? Wie schaue ich Dinge an? Man lernt, dass Dinge auch eine Geschichte haben, vielleicht sogar eine Seele, dass sie etwas kommunizieren.

HB: Ja, das ist ja auch das Anliegen des New Materialism, mit dem ich mich beschäftige. Darin geht es um eine neue Wertschätzung der Materialität, die vor allem durch feministische Theoretikerinnen formuliert wird. Wie ist es, wenn Materialien ein emotionelles Leben haben? Wir verstehen langsam, dass wir nicht die einzigen Tiere auf diesem Planeten sind, die ein tief emotionelles und soziales Leben entwickeln. Trifft das nur auf Tiere zu oder ist das Bewusstsein universell? Haben Materialien ein Bewusstsein? Und wenn ja, wie beeinflusst dieses Bewusstsein unser Leben?

»Mein Atelier ist ein Ort zum Experimentieren und für die Suche nach dem richtigen Ausdruck.«

Wenn ich zum Beispiel in eines dieser grässlichen Einkaufszentren gehe, die irgendwo am Rand jeder Stadt auf dem westlichen Planeten platziert sind, werde ich überwältigt von einem unglaublich traurigen Gefühl. Die Hässlichkeit, die Unmengen von Dingen, der künstliche Geruch und die ganze Situation.

In Japan hingegen gibt es die Vorstellung der Tsukumogami, was bedeutet, dass ein gewöhnlicher Haushaltsgegenstand wie ein Besen oder ein Eimer nach 100 Jahren eine Seele bekommt, autonom ist und im Haus sein Unwesen treibt. Diesen alten japanischen Glauben finde ich sehr charmant. Auch wenn viel Projektion im Spiel sein mag, wir alle kennen wohl solche Dinge, die für uns lebendig wirken. Für mich war das als Kind schon so. Ich hatte Mitleid mit Sachen, die zerbrochen wurden und wollte sie retten. Ich habe Dinge von der Straße gesammelt oder in Trödelläden gekauft, damit sie ein gutes Leben haben. Ich habe das Gefühl, im Dialog zu sein mit den Dingen und ihrer Geschichte. Dinge sind nicht einfach tot, sie strahlen eine gewisse Energie aus, die einen Einfluss auf mich hat. Manchmal kann ich Sachen nicht anfassen, die von Kindern unter schrecklichen Bedingungen hergestellt wurden.

Helen Britton, The Dark Garden, Ausstellung in der Galerie Antonella Villanova.

Ein heiliger Raum

e: Wie verläuft dein schöpferischer Prozess, wie kommst du zu deinen Ideen?

HB: Ich habe ein tiefes Vertrauen in meinen kreativen Prozess, und es ist sehr selten, dass ich eine präzise Idee habe von dem, was am Schluss herauskommt. Durch die vielen Jahre der Erfahrung habe ich eine Furchtlosigkeit vor verschiedenen Materialien entwickelt. Ich verstehe, wie Materialien funktionieren, kenne ihre Grenzen und spüre, wie weit ich über diese Grenzen hinausgehen kann. Ich sehe die faszinierenden Eigenschaften in bestimmten Materialien, versuche, damit etwas zu gestalten, und bin oft selbst überrascht, was dabei herauskommt. Meistens weiß ich währenddessen nicht, wohin die Reise geht. Mein Atelier ist ein Ort zum Experimentieren und für die Suche nach dem richtigen Ausdruck. Es ist ein heiliger Raum. Darin habe ich absolute Freiheit, dem Prozess zu vertrauen.

e: In einer Arbeit verbindest du traditionellen Weihnachtsschmuck mit Beton und den Mustern der Häuserfassaden von Lauscha. Wie entstehen solche Verbindungen?

HB: Manchmal setze ich Grenzen, die sich aus den Hauptbotschaften der Materialien ergeben. Im Thüringer Wald war es der Beton aus der Zeit der sowjetischen Besatzung, verrottete Industrieanlagen und das Glas, aus dem der Weihnachtsschmuck hergestellt wurde. Durch diesen Bezug zu bestimmten Materialien kann ich einen Rahmen setzen, innerhalb dessen ich experimentiere. Wenn es zu offen ist, dann bin ich schnell überfordert. Ich werde leicht überstimuliert, weil ich in allen Dingen und Geschichten neue Möglichkeiten sehe. Täglich kommen mir tausende Ideen und ich muss sie strukturieren.

Ich habe früh angefangen, mithilfe von Materialien verschiedene Botschaften und Geschichten zu verfolgen. Wenn ich auf so einer Spur bin, dann bin ich zwei Wochen nicht ansprechbar, weil ich tief in diesen Prozess hineingehe. Manchmal habe ich einen Termin, was mich darin unterstützt, den Prozess zum Ende zu führen. Der Prozess ist aber nie linear und dauert oft sehr lange. Meine erste Recherche im Thüringer Wald war 2001 und die ersten Arbeiten konnte ich erst 2007 gestalten. Für mich ist die Recherche schon ein Teil der Kunst, es ist nicht nur das Produkt, das am Ende sichtbar ist.

e: Deine Arbeit ist sehr handwerklich, du arbeitest ganz konkret mit den Stoffen. Wie erlebst du diesen handwerklichen Prozess, wenn du Ideen umsetzt, die Materialien mit den Händen bearbeitest und siehst, wie sie sich verhalten und aufeinander beziehen?

»In meiner Kunst versuche ich subtil und durch Geschichten zu wirken.«

HB: Der Dialog mit den Materialien ist sehr intensiv, besonders wenn man mit Beton arbeitet, der ein Eigenleben hat. Es ist eine Ekstase, mit solchen Materialien zu arbeiten. Ich liebe das. Es ist ein bisschen wie Sport, dieses Gefühl des Laufens, Schwimmens oder Springens. Die Erfüllung, die darin liegt, dass man das kann. Das Wichtigste ist die Freude an diesem Prozess, es geht nicht so sehr darum, ein tolles Kunstwerk zu schaffen. Es entsteht etwas aus Beton, Glas, einem Stück Silber, und diese Transformation und dieser Dialog sind die Kunst.

Author:
Mike Kauschke
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