Die Verbundheit, die wir sind

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Ausgabe 44 / 2024
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Gemeinsame Gegenwärtigkeit
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Auf dem Weg zu einer Kultur des Interbeing

Unsere westliche Lebensform ist von einem starken Individualismus geprägt. Wir nehmen uns als getrennt vom Ganzen wahr. So wichtig wie diese Entwicklung historisch gewesen ist, kommen wir heute an unsere Grenzen. In dieser krisenhaften Zeit zeigt sich eine neue Form des menschlichen Zusammenseins, die in vielen Praxisformen erforscht wird. Was zeigt sich hier? Und wie können wir daran mitwirken?

 

Ich bin noch immer wie vor den Kopf gestoßen. Die Wahlen im September in meinem Heimatland Österreich haben mich tief getroffen. Erst nach ein paar Tagen wurde mir so richtig bewusst, dass dort wieder ein »kleiner Hitler« die Herzen der Menschen gewonnen hat. Und Österreich ist ja nicht allein: Die Welt steht in Flammen. Wir haben in der evolve immer wieder beleuchtet, dass wir uns in einer globalen Zivilisationskrise befinden. Aber wir sind keine politische Zeitschrift. Wir verstehen uns als ein Magazin für Bewusstsein und Kultur. In diesem Sinne sind wir auf der Suche nach einer tieferen Sichtweise der Krise unserer Zivilisation. Und eines scheint offensichtlich: Um diese Krise zu bestehen, müssen wir als Menschheit auf eine völlig neue Weise zusammenfinden.

Es scheint, als würde es immer schwieriger, selbst mit Freunden und Familie oder in Gemeinschaften zusammenzukommen. Im öffentlichen Leben wirken die politischen, religiösen und kulturellen Gräben unüberbrückbar. Die moderne Gesellschaft lebt von unserer Wahrnehmung der Trennung. Trennung ist unserer kulturellen DNA eingeschrieben – sie ist Teil unserer Identität. Heute, 500 Jahre nach Beginn der Neuzeit, hat sich die Gewohnheit, alles unter dem Gesichtspunkt unserer Vereinzelung zu betrachten, so sehr manifestiert, dass wir glauben, dies sei die Wirklichkeit. Unser moderner Wirklichkeitssinn ist eigentlich eine Epidemie der Einsamkeit. Und unsere pathologische Wahrnehmung der Getrenntheit verwandelt Menschen, Lebewesen und die Biosphäre in benutzbare Gebrauchsobjekte. Daran hat auch das postmoderne Bewusstsein nicht wirklich etwas geändert.

Aber inmitten dieser eskalierenden Entfremdung entsteht gerade etwas Neues. In den letzten zehn oder 20 Jahren zeigen sich insbesondere bei den jüngeren Generationen und den kulturell Wagemutigen eine neue Bereitschaft und ein neues Verständnis für unsere Verbundenheit. Das führt auch zu neuen gemeinschaftlichen Praktiken und zu einer Wiederbelebung des Interesses an der Weltwahrnehmung und den Ritualen indigener Völker. Was sind das für Praktiken? Was sagen sie uns über eine mögliche gemeinsame Zukunft auf diesem Planeten?

Neue Praktiken der Verbundenheit

Lassen Sie uns gemeinsam einen Schritt zurücktreten und einen Blick auf den innovativen kulturellen Rand unserer Gesellschaft werfen. Dort sehen wir seit Jahrzehnten eine Welle neuer Praktiken für tiefere Intimität, menschliche Verbundenheit und gemeinsame Sinnfindung. Einer der Ursprünge dieser Praxisformen sind Encounter-Gruppen und die Gruppentherapien der 70er-Jahre, doch ihre Ausrichtung ist nicht vordringlich therapeutisch. Vielleicht lassen sie sich besser in den Kontext der Persönlichkeitsentwicklung einordnen. Es gibt Praxisformen wie »Circling«, »Authentic Relating«, »Authentic Life« , »Transparent Communication« und viele mehr. In ihnen allen geht es um Transparenz, Verletzlichkeit und eine Vertiefung menschlicher Beziehungen. Einige Methoden sind auf gemeinschaftliche Problemlösungen und Gruppenzusammenhalt ausgerichtet. Manche Praxisformen, wie zum Beispiel die Aufstellungsarbeit, wurden auch von Indigenen Völkern inspiriert, ebenso Dialogformen wie »The Way of Council«.

Die Herausforderung, unsere Zeit zu verstehen, hat zudem neue Experimente gemeinschaftlicher Sinnfindung hervorgebracht. Ihre Aufmerksamkeit verschiebt sich von einer individuellen zu einer gemeinschaftlichen und verteilten Intelligenz.

Auch wir forschen seit 30 Jahren an und in einem Phänomen, das wir heute im Kontext unserer Organisation evolve World »Emergent Interbeing« nennen. Dabei sind wir auf ein gemeinsames Ko-Bewusstsein gestoßen – die Möglichkeit, ohne unsere individuelle Autonomie zu vernachlässigen, eine Art gemeinsame »synergetische« Intelligenz zu entwickeln. So wird uns eine Kreativität zugänglich, die uns als Vereinzelten nicht offensteht. Die Anfänge dieser Arbeit entstanden in einer spirituellen Gemeinschaft, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Doch diese gemeinsame Feldintelligenz wurde seither zu einer Art Nordstern unserer Arbeit.

In den ersten Jahren fühlten wir uns wie einsame Pioniere in der Wüste. Wir sprachen eine für viele unverständliche Sprache. Es war schwer, diesem rätselhaften Phänomen Worte zu geben. Zuerst nannten wir es das »Höhere Wir«. Als wir seine kreative, dialogische Natur besser erkannten, nannten wir es »Emergent Dialogue«. Angesichts der darin emergierenden lebendigen gemeinsamen Gegenwart sprechen wir heute von »Emergent Interbeing«. Und gleichzeitig stellen wir fest, dass die Wüste, die uns einst umgeben hatte, einer blühenden Wiese von unterschiedlichen und bereichernden Praxisformen gewichen ist.

Zumindest in den ersten zehn Jahren unserer Arbeit bestand die Herausforderung vor allem darin, über die getrennte, individuelle Erfahrung hinauszugehen. Die Fähigkeit, eine Wahrnehmung und ein Bewusstsein für den intelligenten Raum zwischen uns zu kultivieren, war für viele oft eine große Herausforderung. Mit der Zeit änderte sich das. Es wurde leichter, ein gemeinsames Ko-Bewusstsein zu eröffnen. Ein »gemeinsamer Geist« entstand, der von der Entscheidungskraft der beteiligten Menschen abhängt. Dieser Geist besitzt ein außerordentliches kreatives Potenzial. Zusammen mit den anderen Praxisformen, die inzwischen entstanden sind, deutet dies darauf hin, dass eine neue und notwendige Qualität des menschlichen Bewusstseins entsteht.

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Auf dem Weg zu einer Kultur des Interbeing

Unsere westliche Lebensform ist von einem starken Individualismus geprägt. Wir nehmen uns als getrennt vom Ganzen wahr. So wichtig wie diese Entwicklung historisch gewesen ist, kommen wir heute an unsere Grenzen. In dieser krisenhaften Zeit zeigt sich eine neue Form des menschlichen Zusammenseins, die in vielen Praxisformen erforscht wird. Was zeigt sich hier? Und wie können wir daran mitwirken?

 

Ich bin noch immer wie vor den Kopf gestoßen. Die Wahlen im September in meinem Heimatland Österreich haben mich tief getroffen. Erst nach ein paar Tagen wurde mir so richtig bewusst, dass dort wieder ein »kleiner Hitler« die Herzen der Menschen gewonnen hat. Und Österreich ist ja nicht allein: Die Welt steht in Flammen. Wir haben in der evolve immer wieder beleuchtet, dass wir uns in einer globalen Zivilisationskrise befinden. Aber wir sind keine politische Zeitschrift. Wir verstehen uns als ein Magazin für Bewusstsein und Kultur. In diesem Sinne sind wir auf der Suche nach einer tieferen Sichtweise der Krise unserer Zivilisation. Und eines scheint offensichtlich: Um diese Krise zu bestehen, müssen wir als Menschheit auf eine völlig neue Weise zusammenfinden.

Es scheint, als würde es immer schwieriger, selbst mit Freunden und Familie oder in Gemeinschaften zusammenzukommen. Im öffentlichen Leben wirken die politischen, religiösen und kulturellen Gräben unüberbrückbar. Die moderne Gesellschaft lebt von unserer Wahrnehmung der Trennung. Trennung ist unserer kulturellen DNA eingeschrieben – sie ist Teil unserer Identität. Heute, 500 Jahre nach Beginn der Neuzeit, hat sich die Gewohnheit, alles unter dem Gesichtspunkt unserer Vereinzelung zu betrachten, so sehr manifestiert, dass wir glauben, dies sei die Wirklichkeit. Unser moderner Wirklichkeitssinn ist eigentlich eine Epidemie der Einsamkeit. Und unsere pathologische Wahrnehmung der Getrenntheit verwandelt Menschen, Lebewesen und die Biosphäre in benutzbare Gebrauchsobjekte. Daran hat auch das postmoderne Bewusstsein nicht wirklich etwas geändert.

Aber inmitten dieser eskalierenden Entfremdung entsteht gerade etwas Neues. In den letzten zehn oder 20 Jahren zeigen sich insbesondere bei den jüngeren Generationen und den kulturell Wagemutigen eine neue Bereitschaft und ein neues Verständnis für unsere Verbundenheit. Das führt auch zu neuen gemeinschaftlichen Praktiken und zu einer Wiederbelebung des Interesses an der Weltwahrnehmung und den Ritualen indigener Völker. Was sind das für Praktiken? Was sagen sie uns über eine mögliche gemeinsame Zukunft auf diesem Planeten?

Neue Praktiken der Verbundenheit

Lassen Sie uns gemeinsam einen Schritt zurücktreten und einen Blick auf den innovativen kulturellen Rand unserer Gesellschaft werfen. Dort sehen wir seit Jahrzehnten eine Welle neuer Praktiken für tiefere Intimität, menschliche Verbundenheit und gemeinsame Sinnfindung. Einer der Ursprünge dieser Praxisformen sind Encounter-Gruppen und die Gruppentherapien der 70er-Jahre, doch ihre Ausrichtung ist nicht vordringlich therapeutisch. Vielleicht lassen sie sich besser in den Kontext der Persönlichkeitsentwicklung einordnen. Es gibt Praxisformen wie »Circling«, »Authentic Relating«, »Authentic Life« , »Transparent Communication« und viele mehr. In ihnen allen geht es um Transparenz, Verletzlichkeit und eine Vertiefung menschlicher Beziehungen. Einige Methoden sind auf gemeinschaftliche Problemlösungen und Gruppenzusammenhalt ausgerichtet. Manche Praxisformen, wie zum Beispiel die Aufstellungsarbeit, wurden auch von Indigenen Völkern inspiriert, ebenso Dialogformen wie »The Way of Council«.

Die Herausforderung, unsere Zeit zu verstehen, hat zudem neue Experimente gemeinschaftlicher Sinnfindung hervorgebracht. Ihre Aufmerksamkeit verschiebt sich von einer individuellen zu einer gemeinschaftlichen und verteilten Intelligenz.

Auch wir forschen seit 30 Jahren an und in einem Phänomen, das wir heute im Kontext unserer Organisation evolve World »Emergent Interbeing« nennen. Dabei sind wir auf ein gemeinsames Ko-Bewusstsein gestoßen – die Möglichkeit, ohne unsere individuelle Autonomie zu vernachlässigen, eine Art gemeinsame »synergetische« Intelligenz zu entwickeln. So wird uns eine Kreativität zugänglich, die uns als Vereinzelten nicht offensteht. Die Anfänge dieser Arbeit entstanden in einer spirituellen Gemeinschaft, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Doch diese gemeinsame Feldintelligenz wurde seither zu einer Art Nordstern unserer Arbeit.

In den ersten Jahren fühlten wir uns wie einsame Pioniere in der Wüste. Wir sprachen eine für viele unverständliche Sprache. Es war schwer, diesem rätselhaften Phänomen Worte zu geben. Zuerst nannten wir es das »Höhere Wir«. Als wir seine kreative, dialogische Natur besser erkannten, nannten wir es »Emergent Dialogue«. Angesichts der darin emergierenden lebendigen gemeinsamen Gegenwart sprechen wir heute von »Emergent Interbeing«. Und gleichzeitig stellen wir fest, dass die Wüste, die uns einst umgeben hatte, einer blühenden Wiese von unterschiedlichen und bereichernden Praxisformen gewichen ist.

Zumindest in den ersten zehn Jahren unserer Arbeit bestand die Herausforderung vor allem darin, über die getrennte, individuelle Erfahrung hinauszugehen. Die Fähigkeit, eine Wahrnehmung und ein Bewusstsein für den intelligenten Raum zwischen uns zu kultivieren, war für viele oft eine große Herausforderung. Mit der Zeit änderte sich das. Es wurde leichter, ein gemeinsames Ko-Bewusstsein zu eröffnen. Ein »gemeinsamer Geist« entstand, der von der Entscheidungskraft der beteiligten Menschen abhängt. Dieser Geist besitzt ein außerordentliches kreatives Potenzial. Zusammen mit den anderen Praxisformen, die inzwischen entstanden sind, deutet dies darauf hin, dass eine neue und notwendige Qualität des menschlichen Bewusstseins entsteht.

Eine neue Achsenzeit?


Haben solche relativ kleinen Erscheinungen wie diese Praxisformen wirklich Bedeutung? Es gab Beispiele in der Geschichte, in denen Vergleichbares geschah:  als zum Beispiel spirituelle Bewegungen von Ostasien bis in den Mittelmeerraum für eine Umwälzung unserer Kulturgeschichte sorgten. Der Philosoph Karl Jaspers nannte diese Periode, die von 600 vor unserer Zeitrechnung bis 200 reicht, »Achsenzeit«. Damals verlagerte sich die Achse oder Richtung der menschlichen Bewusstseinsentwicklung von der Einbettung in die natürliche Welt und die Gemeinschaft hin zu einer Erfahrung der Individuation und persönlicher Transzendenz.

Vor der Achsenzeit verehrten die indigenen Kulturen viele Gottheiten, die Macht über das menschliche Schicksal besaßen. Sie feierten die Zyklen des Jahreskreises mehr als die Ereignisse der menschlichen Geschichte. Die Zugehörigkeit zum eigenen Klan war entscheidender als die eigene Existenz. Ihre Rituale ehrten oder besänftigten die Kräfte und Geister, deren Lebenshauch sie in allem Leben sahen.

Geschichtliche Gestalten wie Konfuzius, indische Weise, Zarathustra oder die jüdischen Propheten verbreiteten eine neue Vision des Heiligen und gründeten Praxisgemeinschaften, in denen das Individuum begann, seine Beziehung zum Göttlichen, zum Absoluten, mit einem neuen Sinn für Ethik und Verantwortung zu kultivieren.

Praxisformen wie Gebet, Meditation und Beichte richteten den Menschen auf das »Eine Göttliche« aus und trennten ihn vom »Chaos des Profanen«. Dadurch entstanden neue Formen individueller Kreativität. Während wir heute vor allem die negativen Konsequenzen unsere eigenständigen und getrennten Weltwahrnehmung sehen, würden nur wenige von uns auf die Entwicklung einer eigenständigen Entscheidungsfreiheit, unseres eigenen Innenlebens und unserer Selbstbestimmung verzichten wollen, die ebenfalls das Ergebnis der Individuation waren.

Es besteht jedoch auch kein Zweifel daran, dass unser Hyper-Individualismus, gepaart mit unserem Materialismus, zu weit gegangen ist. Wir sind überindividualisiert, abgeschnitten vom Fluss des Lebens. Unsere Herzen sehnen sich nach Verbundenheit, nach einer Verbindung mit der lebendigen Natur – Wälder, Berge, Meere –, wo wir in etwas Größerem als uns selbst gehalten werden. Sind die neuen Praxisformen gemeinsamer Gegenwärtigkeit nichts anderes als die Einsicht, dass wir immer in Beziehung sind?

Oder steckt mehr hinter dieser Bewegung in Richtung von Verbundenheit? Im Herzen dieser Praxisformen entstehen neue Fähigkeiten des Seins, des Wissens und der Kreativität. Der Transformationsforscher Otto Scharmer sieht das Entstehen einer neuen Erkenntnisform, einer neuen Art und Weise, wie Gruppen aus ihrem Zusammenspiel heraus lernen, gemeinsam wahrzunehmen (s. S. 34). Andere erkennen eine kreative Intelligenz, die im Beziehungsraum zwischen uns entsteht. In unserer eigenen Arbeit mit Emergent Interbeing sprechen wir auch vom Entstehen eines Ko-Bewusstseins, das kein Gruppendenken ist. Es bewahrt die Autonomie aller Beteiligten – ja, es entwickelt sie weiter. Wir berühren gerade ein neues Potenzial, das eine Integration des Einzelnen mit der Ganzheit zu ermöglichen scheint.

Tatsächlich sehen wir in dieser neuen Emergenz die Verwirklichung eines Entwicklungsmusters, das dem Denken des integralen Philosophen Ken Wilber zugrunde liegt. Diese neue Integration oder Re-Integration ist keine Rückkehr zu einem vor-individuierten Bewusstsein. Sie ist auch nicht nur Individuation. Vielmehr ist es der Beginn einer Transindividuation. Transindividuation setzt eine größere Individuation voraus, eine größere Fähigkeit, zu unterscheiden und zu wählen, und sie orientiert sich auf den Bereich zwischen uns – auf ein Bewusstsein für die gemeinsame lebendige Gegenwart.

Interbeing Emerging

Es gibt Anzeichen, dass an vielen Orten ein neues Bewusstsein entsteht. Es hat subtile, aber ausgeprägte Qualitäten. Da ist ein Feldbewusstsein, in dem innerhalb der Anwesenden eines Dialogs, aber auch darüber hinaus, ein lebendiges Präsenzfeld wahrgenommen wird – die Wahrnehmung einer gemeinsamen Gegenwart, die als heilend und heilig erlebt wird, eine tiefe Wahrnehmung des Zuhause-Seins und der Verbindung mit dem größeren Leben.
In dem Maße, in dem man sich bewusst auf dieses Feld einlässt, entsteht so etwas wie eine gemeinsame Ko-Intelligenz, ja, ein Ko-Bewusstsein. So als würde man mit einem gemeinsamen Geist denken – der paradoxerweise die Vielfalt der unterschiedlichen Erfahrungen mit einschließt. Dissonanz wird zu Polyharmonie. Und wie im taoistischen Wu Wei handelt man aus einem Nicht-Handeln.

Diese »synergetische Intelligenz«, die Gegensätze und Paradoxe integriert, scheint aus der Mitte des Dialogs zu kommen, nicht von einem oder wenigen im Kreis. Die Teilnehmenden stellen fest, dass sie Gedanken aussprechen, die sie noch nie zuvor hatten, und sind überrascht, was aus ihrem Mund kommt. Oft taucht eine Erinnerung auf, die unpassend erscheint, aber an ihren Platz fällt und ein bisher nicht sichtbares Muster offenbart. Selbst wenn es zu Spannungen kommt, die ungelöst bleiben, werden sie im Bewusstsein eines gemeinsamen Feldes gehalten.

Viele kennen Zusammenkünfte, in denen sich miteinander völlig überraschende Lösungen zeigen. Aber um für dieses Ko-Bewusstsein verfügbar zu sein, braucht es die bewusste Absicht, selbst zu einer Öffnung für dieses Bewusstsein zu werden. Damit sich Gegenwart wesentlich ereignen kann, müssen wir unsere persönlichen Motive und unsere getrennte Identität loslassen. Die Identität verlagert sich von dem, was einen persönlich motiviert, zu dem, was im Ganzen werden will. Statt Beobachter zu sein, wird man bewusster Teil eines Geschehens. Die Entscheidung, sich selbst und das Bekannte loszulassen und sich von der Liebe und Sehnsucht nach einer Ganzheit und Gegenwart leiten zu lassen, ermöglicht es dieser Intelligenz, zwischen uns aufzuleben.

Interbeing ist nicht nur eine wunderbare Erfahrung, sondern vielmehr ein neues Bewusstsein. Wir haben gesehen, dass das Feld umso stabiler und ko-kreativer wird, je bewusster sich die Menschen in das gemeinsame Feld einbringen und diesen inneren Wandel mitvollziehen. Es entwickelt sich in einem fortlaufenden emergenten Prozess und zeigt sich an vielen Orten und Plätzen – auch bei Videokonferenzen auf Zoom.

Das gegenwärtige und gleichzeitig zukünftige Feld

Das Entstehen dieser Ko-Intelligenz und gemeinsamen Präsenz findet heute zu einem bedeutenden Zeitpunkt statt. Das Vertrauen in unsere bestehenden Wissenssysteme, unsere sozialen Institutionen und unsere Nachbarn ist geschwunden. Entfremdung und das Fehlen eines tieferen Sinns machen das getrennte Selbst brüchig. Die Kraft des Emergent Interbeing besteht darin, dass es uns als Individuen in einem Gespür für die gemeinsame Lebendigkeit verankert, das unsere Zuwendung zum Leben und zueinander weckt. Es ermöglicht uns auch, gemeinsam zu denken und zu erkennen, dass jeder von uns Erfahrungen und Perspektiven besitzt, die für das Ganze wesentlich sind.

Wir haben dieses Feld jahrzehntelang gepflegt und nun das Gefühl, dass unsere Arbeit an einem Wendepunkt angelangt ist. Angesichts der starken Anziehungskraft des Persönlichen und des Interpersonalen in unserer postmodernen Kultur haben wir uns lange mehr auf das Feld konzentriert und das Persönliche in Bezug auf das gemeinsame Feldbewusstsein hintangestellt, um das Aufkeimen des Interbeing nicht zu gefährden. Jetzt scheint diese gemeinsame Gegenwärtigkeit und Intelligenz eine gewisse Stabilität erreicht zu haben. Wenn wir unser persönliches Leben und unsere Erfahrungen im Lichte des Interbeing erforschen, fördert dies die Vertiefung unserer Nichtgetrennteit, indem wir die gemeinsame existenzielle Wurzel dessen finden, von dem wir meinen, dass es uns trennt.

In den letzten Jahren haben wir beobachtet, dass die Menschen in den Kreisen, in denen wir uns bewegen, eine größere Offenheit und Bereitschaft zeigen, sich auf Ko-Bewusstsein und Ko-Intelligenz einzulassen. Fast intuitiv wächst die Einsicht, dass wir Menschen uns auf eine viel tiefere Weise begegnen müssen, um aus der Heiligkeit des Lebens zu schöpfen und aus unserer gemeinsamen Erfahrung des Menschseins auf diesem Planeten heraus zu denken. Dies zeigt sich in der Entstehung vieler Praxisformen, welche die Heiligkeit des Interbeing berühren.

Eine Kultur der Transindividuation und des Interbeing, die sowohl unsere natürliche Einzigartigkeit als auch gemeinsame Lebendigkeit betont, könnte durchaus das Fundament für eine zukünftige Kultur sein. Wir alle erleben gerade das erste Aufkeimen von Interbeing. Nach der ersten Achsenzeit dauerte es Hunderte von Jahren, bis die Individuation für viele Menschen in greifbare Nähe rückte und die Welt neu gestaltete. Heute steht die Welt in Flammen und auf allen Ebenen unter Druck. Vielleicht wird die nächste Achsenzeit, diese Wende zur Feld-Vernetztheit, in unserer supervernetzten globalen Gesellschaft schneller eintreten.

Das Magische daran ist, dass das, was in der ersten Achsenzeit geschah, auch die jetzige Achsenzeit katalysieren könnte: Gemeinschaften gemeinsamer Praxis. Damals haben Klöster, Ashrams, philosophische Akademien, Tempel und Moscheen mit neuen Praxisformen das Innenleben des Individuums erschlossen und gefestigt. Können neue Praxisformen und Praxisgruppen diesen Zugang zu einem neuen Bewusstsein öffnen? Das kann überall geschehen. Wo immer zwei oder mehr Menschen zusammenkommen, kann diese gemeinsame Gegenwärtigkeit gelebt werden. Wenn wir unser Bewusstsein bewusst für das Interbeing-Feld in uns, zwischen uns und jenseits von uns öffnen, wächst die Kraft und Stärke dieses neuen Mit-Bewusstseins. Es wird viele Herzen berühren. Wir verändern die Richtung des menschlichen Bewusstseins, weg von der Getrenntheit, die so zerstörerisch geworden ist, hin zur Verbundenheit, zum Interbeing, das wir eigentlich sind.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Author:
Dr. Elizabeth Debold
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