Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
October 28, 2024
So betitelte jüngst die deutsch-türkische Autorin Gün Tank die deutsche Gesellschaft. Und in der Tat, wenn man nach einem Subtext sucht für die Aufgeregtheiten der bundesrepublikanischen Gesellschaft, dann ist es das Credo, wir wollen »Nie wieder« das Drama eines menschenverachtenden Nazismus und Rassismus. Und weiter Gün Tank: »Es wird immer beängstigender.« Offenbar rumort diese Angst vor Wiederholung bis heute im kollektiven Unbewussten. Sind wir immer noch im Schuld- und Schamkomplex gefangen, fern dessen, was man eine posttraumatische Reifung nennen könnte?
Posttraumatische Reifung heißt nicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als sei nichts geschehen. Es heißt auch nicht, sich moralisierend auf der internationalen Bühne aufzuführen, um andere zu belehren, wie sie sich zu verhalten haben. Es heißt aber auch nicht, jeder Kritik an den herrschenden Zuständen mit dem Schlachtruf »Nie-Wieder« die Existenzberechtigung abzusprechen.
So betitelte jüngst die deutsch-türkische Autorin Gün Tank die deutsche Gesellschaft. Und in der Tat, wenn man nach einem Subtext sucht für die Aufgeregtheiten der bundesrepublikanischen Gesellschaft, dann ist es das Credo, wir wollen »Nie wieder« das Drama eines menschenverachtenden Nazismus und Rassismus. Und weiter Gün Tank: »Es wird immer beängstigender.« Offenbar rumort diese Angst vor Wiederholung bis heute im kollektiven Unbewussten. Sind wir immer noch im Schuld- und Schamkomplex gefangen, fern dessen, was man eine posttraumatische Reifung nennen könnte?
Posttraumatische Reifung heißt nicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als sei nichts geschehen. Es heißt auch nicht, sich moralisierend auf der internationalen Bühne aufzuführen, um andere zu belehren, wie sie sich zu verhalten haben. Es heißt aber auch nicht, jeder Kritik an den herrschenden Zuständen mit dem Schlachtruf »Nie-Wieder« die Existenzberechtigung abzusprechen.
Doch leider genau diesem Muster scheinen wir zu folgen und das nicht erst jetzt, sondern besonders eindrücklich seit 2015: Nach den Verbrechen der Vergangenheit wollten wir eine mustergültige Willkommenskultur etablieren. Der Fürsorgestaat agierte; doch zugleich reglementierte er derart, dass vor allem junge Männer zum Nichts-Tun verurteilt waren und ihnen so der Weg in die Gesellschaft durch Arbeit verwehrt war. Gutmeinende, die ihr »Nie-Wieder« leben wollten, landeten reihenweise im Burn-out. Wo ein Bewusstsein des eigenen kulturellen Wertes fehlt, fehlt auch die Fähigkeit, den Wert der Zugezogenen zu würdigen und ihnen eine Chance zum selbstbestimmten Leben als Mitglieder unserer Gesellschaft einzuräumen. Die Folgen haben wir heute zu tragen als Altlasten einer gescheiterten Integrationspolitik.
»Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, das wird groß!«
Und dann die AfD. Sie wurde geradezu zur Trophäe des »Nie-Wieder«. Die AfD, die einst als »Professorenpartei« begann, die sich gegen die Einführung des Euro wendete, bot sich nun als wohlfeile Zielscheibe an, um alles, was als »alternativ« daherkam, postwendend als rechts, rechtsextrem oder gar rechtsradikal zu etikettieren. Welch großartige Vorlage, um genau diese Kräfte zu stärken! Wer so viel Aufmerksamkeit bekommt, hat allen Grund, sich nunmehr in der Partei zu versammeln, wo sie angeblich bereits ihr Unwesen trieben. Die Folgen sehen wir heute. Inzwischen wählen rund 30 Prozent der Wähler eine Partei, der unverblümt die Rechte zur demokratischen Teilhabe abgesprochen werden. Vor lauter »Nie-Wieder« gibt es offenbar eine Weigerung, zu unterscheiden zwischen berechtigten Anliegen und Wünschen in der Bevölkerung und denen, die den »Nie-Wieder«-Hype für sich zu nutzen verstehen. So leicht kann man eine Gesellschaft mit Volldampf in eine Sackgasse führen.
Gestehen wir es uns doch ein: Wir sind in einer Gesellschaft angelangt, in der die etablierten Altparteien sich in der Wählergunst im Abwind bewegen und gleichzeitig für sich mit moralisch erhobenem Zeigefinger den Anspruch erheben, den alternativlos richtigen Weg hinter der Fahne des »Nie-Wieder« für sich reklamieren zu können.
Die Angst vor Wiederholung ist, wie wir aus der (Tiefen-)Psychologie wissen, die beste Voraussetzung dafür, dass sich etwas wiederholt: Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, das wird groß! Könnte es auch anders gehen? Könnte posttraumatische Reifung etwas anderes heißen?
Für mich gehört als erstes dazu, dass wir uns von der Annahme verabschieden, dass der Schoß, aus dem der Nationalsozialismus entstanden ist, »sterilisierbar« ist, weder im Westen noch im Osten. Es wird immer rassistische und inhumane Kräfte in unserem Land geben. Deswegen brauchen wir ihnen nicht das Privileg einzuräumen, uns ununterbrochen mit ihnen zu beschäftigen und sie damit zu stärken.
Weniger »Nie-Wieder«-Emphase und mehr Gelassenheit gegenüber anderslautenden Meinungen täten unserem Gemeinwesen gut und würden helfen, die unsägliche Spaltung in unserer Gesellschaft zu überwinden. Wie wäre es mit einem – neuen – Narrativ? Wir sind eine starke demokratische Gesellschaft, wir wissen um unsere Stärken und Schwächen, wir stehen für unsere Kultur und für das Humanum ein, ohne uns selbst ständig beweisen zu wollen, dass wir besser sind als wir denken. Hinhören und Austauschen, Verstehen und Verständigen statt vermeintlicher Alternativlosigkeit und Rechthaberei – das wäre doch wirklich mal etwas!